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Teil 2

 

Als er wach wurde, saß er in einem Sessel. Direkt vor ihm sah er seinen Bruder mit nacktem Oberkörper, er lag noch immer auf dem Sofa, wo er ihn hingelegt hatte. Um seinen Bauch trug er einen weißen Verband, durch den es bereits rot sickerte. Doch er schien wieder etwas mehr Farbe im Gesicht bekommen zu haben.

 

Dean versuchte sich aufzurichten, doch der Schmerz kehrte plötzlich zurück. Er stöhnte laut auf und sank wieder zurück in den Sessel. Vorsichtig befühlte er mit der gesunden Hand seine linke Schulter. Auch er trug einen sauberen Verband und er roch noch immer nach Kamille.

 

„Oh, du bist wach.“ Die Stimme kam aus der Küche, doch er konnte seinen Kopf nicht weit genug in die Richtung drehen, ohne dass ihm Schwarz vor Augen wurde. „Beweg dich nicht zu viel, du hast viel Blut verloren. Hier, trink das.“ Sie hielt ihm einen Becher vor die Nase. Wo sie auf einmal hergekommen war, war ihm schleierhaft. Er musste immer noch leicht benommen sein.

 

Mit der Rechten griff er nach dem Becher. Es duftete nach Zitronenmelisse und Süßholz. Verwirrt stellte er fest, dass es gar nicht so schlecht schmeckte, wie er zuerst dachte. Es war nur viel zu heiß. Vorsichtig stellte er das Gebräu auf den Tisch vor ihm ab, den er jetzt wieder klarer erkennen konnte.

 

Eine kalte Hand legte sich auf seine Stirn. „Du hast noch leichtes Fieber, aber das wird schon wieder. Ruh dich ein bisschen aus.“

 

Er wollte sich nicht ausruhen. Obwohl er immer noch schreckliche Schmerzen hatte, versuchte er erneut, aufzustehen. „Sammy…“, flüsterte er, doch er wusste genau, dass sein Bruder ihn nicht hören konnte. Er sah immer noch aus, als würde er in tiefer Ohnmacht liegen. Er wollte lieber gar nicht wissen, wie es unter dem Verband aussah.

 

Bonnie kam um den Sessel herum. Ihr war klar gewesen, dass er nicht auf sie hören würde. Daher schob sie ihn mit sanfter Gewalt wieder zurück. Entschlossen hielt sie ihm den Becher hin. „Deinem Bruder geht es gut. Setz dich hin und ruh dich gefälligst aus. Sonst machst du alles nur noch schlimmer.“ Eigentlich wollte er ihr nicht gehorchen. Am liebsten hätte er sich seinen Bruder geschnappt und wäre von hier verschwunden. Ihm gefiel der Gedanke überhaupt nicht, ihr völlig hilflos ausgeliefert zu sein. Wer wusste schon, was sie ihm da gab? Es hätte auch Gift sein können. Immerhin schien sie sich mit Kräutern gut auszukennen.

 

Da er offensichtlich stur war, setzte sie sich auf die Armlehne neben ihn. „Bobby hat mir schon erzählt, dass du sehr dickköpfig bist. Wie ein Esel, meinte er. Auf mich wirkst du eher wie ein Hornochse.“ Sie kam mit dem Kopf näher an ihn heran, flüsterte die letzten Worte, als wären sie ein Geheimnis. Dann rümpfte sie die Nase. „Ein Hornochse, der mal baden sollte.“

 

Dean verzog den Mund zu einem freudlosen Grinsen. „Danke gleichfalls, du Ausgeburt der Hölle.“

 

Gespielt empört erhob sie sich und schlenderte zurück in die Küche. „Na so was, da rettet man ihm das Leben und trotzdem ist man noch die Böse. Ich frag mich“, sie drehte sich wieder zu ihm um, legte einen Finger an ihr Kinn, „was man wohl durchmachen muss, um mit dir befreundet zu sein.“

 

„Keine Angst, kleine Hexe“, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen, „das wirst du niemals erfahren.“

 

Über ihr Gesicht huschte plötzlich ein Schatten. Er war sich nicht sicher, ob er ihn sich nur eingebildet hatte. Es hätte auch eine Nachwirkung des Blutverlustes gewesen sein können. Nun kam sie wieder zu ihm herüber. Ihm fiel auf, dass sie gar kein Kleid trug, wie er zuerst angenommen hatte, sondern eine Jeans und ein kariertes Hemd. Als sie neben ihm war, legte sie ihm ihre Hand auf die kaputte Schulter und drückte zu. Er schrie auf. „Bist du verrückt geworden, du kleines Miststück?“ Schweiß bildete sich auf seiner Stirn und er musste sich zusammennehmen, um nicht noch einmal loszuschreien.

 

Ihr Mund war nun direkt neben seinem Ohr, ihr Atem strich ihm über den Nacken, sodass sich die kleinen Härchen an seinem Haaransatz aufrichteten. „Jetzt pass mal auf, du dreckiger Pavianarsch.“ Ihre Worte wurden begleitet von einem feinen Hauch nach Minze. „Wenn ich dich hätte töten wollen, hätte ich es schon längst getan. Bobby hat euch zu mir geschickt. Was also sagt dir das?“

 

Er biss sich auf die Zunge, versuchte dadurch den Schmerz in seiner Schulter zu betäuben, wo sich ihre Finger noch immer in seine frische Wunde krallten. Doch es half nichts. „Dass er dein Vater ist?“

 

Sie packte noch einmal zu, dann ließ sie los. Erleichtert zog er die Luft ein. „Nein, du Idiot! Dass er mir vertraut.“ Sie konnte sehen, dass er ihr nicht folgen konnte. Auch das hatte Bobby erwähnt. Sam war der Hellere von beiden. „Und wenn Bobby mir vertraut…“, sagte sie und ging vor ihm in die Knie. „Na, was heißt das wohl, mein kleiner Hexenjäger?“

 

„Tut mir leid, Süße, aber nur weil Bobby von der Brücke springt, heißt das noch lange nicht, dass ich das auch tun muss.“ Er lächelte sein schiefes Lächeln.

 

„Du bist echt ein Hornochse“, sagte sie und stand wieder auf. „Aber anstatt dich mit mir zu streiten, solltest du mir lieber sagen, was deinen Bruder so zugerichtet hat.“ Sie setzte sich neben Sam auf die Kante des Sofas und zupfte an seinem Verband, bis er sich ein wenig gelockert hatte. Darunter kam eine hässliche Wunde mit einem Eiterrand zum Vorschein. Noch immer sickerte Blut heraus, doch nur zäh und ziemlich langsam. Dean stöhnte auf, als er das sah.

 

Er schluckte ein paar Mal, um die Übelkeit zu vertreiben, die sich in ihm ausbreitete, dann fasste er sich wieder. „Es war eine Spinne“, sagte er, die Zunge schien ihm am Gaumen zu kleben. Widerwillig nahm er sich wieder den Becher und trank einen Schluck.

 

„Ja, das hat Bobby schon gesagt.“ Sie nahm Sam vorsichtig den Verband ab, ohne ihn allzu viel zu bewegen. Der Stachel hatte seinen seitlichen Bauchmuskel durchstochen, knapp an der Niere vorbei. Er hatte großes Glück gehabt, dass keine lebenswichtigen Organe verletzt worden waren. Sonst hätte sie ihn vermutlich nicht retten können. Trotzdem musste sie wissen, was es für eine Spinne war, die ihn töten wollte. „Kannst du sie beschreiben?“

 

Dean lachte hysterisch auf. „Klar, ich hab sie erst mal um einen Lebenslauf gebeten, als sie auf uns losging.“ Als sie in die Höhle geschlichen waren, hatten sich bei ihm sämtliche Härchen auf den Armen aufgestellt, genau wie wenn er den Motor seines Babys anwarf. Nachdem sie alles gründlich durchsucht und nur ein paar Fußabdrücke von Designerstiefeln in Größe achtunddreißig gefunden hatten, wollten sie umkehren.

 

Dieses Vieh musste sich draußen versteckt gehalten haben, als es gesehen hatte, wie sie in sein Revier gingen. Denn plötzlich war es trotz Vollmond ziemlich dunkel geworden. Es hatte den kompletten Höhleneingang mit seinem dicken Körper versperrt und seine acht Beine nach ihnen ausgestreckt. Sie saßen in der Falle.

 

Erschrocken hatte Sam seine Waffe abgefeuert, weil er dachte, es mit einem Dämon zu tun zu haben. Doch das hatte das Monster nur noch wütender gemacht und es war auf ihn losgegangen. In der Zeit, in der es Sam in die Ecke gedrängt hatte, war Dean an ihm vorbeigeschlüpft. Er schoss ihm in den Rücken, doch es war bereits zu spät gewesen. Es hatte Sam schon gestochen.

 

Seine Beute nicht außer acht lassend baute sich die riesige Spinne vor ihm auf. Panik ergriff ihn. Wäre es ein Geist gewesen, hätte er ihn mit einer Ladung Steinsalz vertreiben können. Einen Dämon hätte er auch auszutreiben gewusst. Aber wie mit einer gewaltigen Spinne umgehen?

 

Er war zurück zum Auto gelaufen, hatte eine Magnesiumfackel geholt. „Hey, du fettes, fieses, ekeliges Mistvieh! Hier bin ich! Komm und hol mich!“ Er hatte einen Stein nach ihm geworfen und war davon gerannt. Teilweise ging sein Plan auf. An der breitesten Stelle der Höhle blieb das Monster aber stehen. Also zündete er die Fackel an und warf.

 

Treffsicher landete sie zwischen den zahllosen Augen und die Spinne gab ein Übelkeit erregendes Knirschen von sich. Das hatte Dean die Chance gegeben, Sammy zu packen und ihn aus der Höhle zu schleifen. Als er an dem Monster vorbei rannte, so gut er eben rennen konnte mit seinem Bruder auf der Schulter, packte es blind nach ihm. Er meinte, verfehlt worden zu sein, doch jetzt wusste er, dass das Vieh ihn auch erwischt hatte. Dabei war ihm jedoch aufgefallen, dass es bei dem Kampf mit der Fackel ein Auge verloren hatte, was nun ziemlich einsam auf dem Höhlenboden lag. Dann war er auch schon draußen, verfrachtete Sam auf den Beifahrersitz und raste davon.

 

Und das Ergebnis war gewesen, dass sie eine Einschussstelle in der Decke gefunden hatten, die Kugel aber nirgends zu finden war, Sam bewusstlos und dem Tode nahe und er hatte eine klaffende Wunde auf der Schulter.

 

Sein Blick kehrte in die Gegenwart zurück und er blickte in Bonnies grüne Augen. „Also hat Bela es versucht zu töten. Aber wieso konnte sie nicht einen beliebigen Dämon nehmen? Wieso musste es so ein Monster sein? Und was, bei allen guten Göttern, hat euch dazu bewogen, ihr dorthin zu folgen?“

 

Sein Gesicht verzerrte sich, als er versuchte, sich bequemer hinzusetzen. „Das wüsste ich auch gerne, glaub mir. Ich war sicher nicht scharf auf ein Tänzchen mit der schwarzen Witwe.“

 

Bonnies Augen leuchteten auf. „Eine Schwarze Witwe, sagst du? Bist du dir sicher?“ Verwirrt blickte er sie an. Hatte er etwas verpasst? Das sollte ein Scherz sein. „Was weiß ich denn“, keifte er. „Ich hab sie nicht nach ihrem Ausweis gefragt.“

 

Sie kam ihm wieder gefährlich nahe. Unwillkürlich drehte er seine verwundete Schulter von ihr weg. Wenn sie ihn noch mal so anfasste, würde er ihr eine verpassen. „Wenn du mir nicht sagen kannst, was das für ein Vieh war, kann ich Sams Wunde nicht gut genug behandeln. Ich muss wissen, womit wir es hier zu tun haben. Mit den falschen Kräutern könnte ich es vielleicht sogar noch schlimmer machen.“ Sie ging zu einem Bücherregal hinüber, in welchem sich alte Bücher aneinanderreihten, wie in einer Bibliothek. Zielsicher zog sie einen dicken Schinken heraus und warf ihn Dean auf den Schoß. Glücklicherweise verfehlte sie sein bestes Stück. „Also tu mir einen Gefallen und schau dir die Bilder an. Wenn du glaubst, das Monster gefunden zu haben, sag Bescheid. Ich geh noch ein paar Kräuter pflücken.“

 

Während sie sich die Schürze aus- und einen grauen Kittel anzog, betrachtete er den Einband. Sam wäre dabei sicher in Begeisterungsstürme ausgebrochen, doch ihn hatten Bücher noch nie sonderlich interessiert. Er hätte lieber seine Fähigkeit zu Lesen oder seine Seele an einen Dämon verkauft, um seinen Bruder wieder aufzuwecken. Diese Deals an der Kreuzung konnten ihn trotz all seiner schlechten Erfahrungen immer noch nicht genug abschrecken, als dass er bereit gewesen wäre, das Leben von Sammy gegen seins zu tauschen.

 

Das alte Pergament war mit einer feinen Handschrift beschrieben und beinahe auf jeder Seite befand sich ein handgezeichnetes Bild der beschriebenen Art. Schade, dass die Bilder nur in Schwarz/Weiß waren. In Farbe hätte er schneller welche ausschließen können. Doch so würde er wohl alles durchblättern müssen. Wo war sein kleiner Bruder, wenn er ihn mal wirklich brauchte?

 

Nach einer Weile schienen ihm die Füße einzuschlafen. Schwerfällig erhob er sich, doch der erwartet heftige Schmerz blieb aus. Vermutlich hatte sie ihm einen Tee gebraut, der ihn unterdrückte. Er ging hinüber zu seinem Bruder und setzte sich neben ihn. Seine Haut war immer noch ziemlich blass, aber er schwitzte nicht mehr so stark. Trotzdem wirkte er schwach und ausgelaugt. Wie lange sie wohl schon hier waren? Draußen war es bereits wieder dunkel geworden, also konnten es gute sechs Stunden sein. Hatte er so lange geschlafen?

 

Wenn er sich nur etwas besser gefühlt hätte, hätte er sofort seine Sachen gepackt und wäre mit seinem Bruder wieder von hier verschwunden. Sie durften sich nicht zu lange an einem Ort aufhalten. Die Dämonen machten sicher schon Jagd auf sie.

 

Plötzlich fiel ihm sein Baby wieder ein. Er ging zum Fenster und blickte auf die Straße. Doch dort, wo er den Impala abgestellt hatte, stand er nicht mehr. Er stand jetzt vor einer kleinen Garage an der linken Seite vom Haus. War sie etwa sein Baby gefahren? Das durfte nicht mal Sammy.

 

Suchend glitt sein Blick über den Garten. Von hier aus hatte das Grundstück eine ziemlich merkwürdige Form. Es sah beinahe aus wie ein Stern mit fünf Zacken. Hatte sie ihr Haus etwa auf einem Pentagramm erbaut? Er drehte sich um und besah sich den Raum etwas genauer. Wenn er den hinteren abgetrennten Bereich wegließ, war das Haus ein perfektes Fünfeck. Und wenn er sich den Garten etwas genauer ansah, konnte er im Licht der Verandalaterne Stahl zwischen den Beeten aufblitzen sehen. Also war sie entweder ein gefangener Dämon, der sich mit seiner Zelle abgefunden und sie gemütlich gemacht hatte, oder sie war eine Hexe, die sich fürchtete, entdeckt zu werden.

 

Doch das würde auch bedeuten, dass sie hier für eine Weile ziemlich sicher waren. Denn hier würde kein Dämon ihre Spur aufnehmen können, solange sie innerhalb des Kreises blieben, der das Pentagramm umschloss. Vermutlich stand der Gartenzaun ebenfalls auf Stahl. Deswegen kümmerte es sie auch nicht, dass er das kleine Türchen niedergetreten hatte. Für sie hatte es keine Bedeutung.

 

Als er die Scheibe von seiner Atemwolke befreite, roch er wieder diesen seltsamen Geruch. Er ging mit der Nase etwas näher an die äußere Wand heran und beschnüffelte sie ausgiebig. Der Geruch kam ihm bekannt vor. Vorsichtig kratzte er mit dem Fingernagel am Putz, bis sich ein kleines Loch bildete. Heraus rieselten ein paar Körner. Er fing sie mit der flachen Hand und lecke sie auf.

 

In dem Moment ging die Haustür auf und er verschluckte sich. Hustend drehte er sich zu Bonnie um, die ihn anlächelte. „Sieht so aus, als wärst du hinter mein Geheimnis gekommen, Sherlock.“ Er rang nach Luft, doch das Salz brannte in seiner Speiseröhre und ihm stiegen Tränen in die Augen. Sie reichte ihm ein Glas Wasser von der Anrichte. Er trank ein paar großzügige Schlucke und kam endlich wieder zu Atem. „Du hast Salz in den Wänden?“, röchelte er.

 

Sie zuckte die Schultern. „Wenn eine Hexe wie ich überleben will, muss sie sich etwas einfallen lassen. Deswegen habe ich die äußere Wand mit Eisen verstärkt. Hier kommt so schnell kein ungebetener Gast rein. Die Eisenbahnschweller waren übrigens Bobbys Idee.“

 

„Ziemlich abgefahren.“ Dean nahm wieder in dem Sessel platz, der, mit Ausnahme des Sofas, welches sein Bruder belegte, die einzige Sitzgelegenheit darstellte. Es gab weder einen Tisch noch Stühle. „Aber eine Sache versteh ich dabei noch nicht so ganz.“ Bonnie zog die Augenbrauen nach oben und blickte ihn wartend an. „Wovor versteckst du dich?“

 

Sie seufzte. Früher oder später kam diese Frage immer. Jedes Mal, wenn ein Jäger hier Zuflucht gesucht hatte, um sich von seinen seelischen oder körperlichen Wunden zu erholen, hatte man sie das gefragt, nachdem man entdeckt hatte, wie ihr Haus gesichert war. Manch einer hatte sogar die versteckten Waffen im Boden und in der Decke gefunden, die alle mit Steinsalz geladen waren. Doch immer wieder war es auf die gleiche, nervtötende Frage hinausgelaufen. Dem Nächsten würde sie Mohnsaft geben und ihn so lange schlafen lassen, bis er gesund war und verschwinden konnte, ohne sich zu lange hier umzusehen. „Das ist eine lange Geschichte.“

 

Dean zuckte mit den Schultern. „Hey, so wie es aussieht“, er zeigte erst auf Sam, dann auf die Wände, „haben wir jede Menge Zeit.“

 

Da hatte er nicht ganz Unrecht. Es würde noch eine Weile dauern, bis sein Bruder wieder aus eigener Kraft laufen konnte. „Hast du die Spinne finden können?“, fragte sie.

 

Dean schlug das Buch an besagter Stelle auf und drehte es in ihre Richtung. „Jap, die Schwarze Witwe. Ich bin gut, oder?“ Lässig zwinkerte er ihr zu, doch sie ignorierte es. „Das kann ich Gott sei Dank nicht aus eigener Erfahrung beurteilen.“ Sie streckte ihm die Zunge raus, als er ihr seinen Mittelfinger zeigte.

 

Gelangweit von ihm und seinen Spielchen ging sie in die Küche und schüttete ihren Beutel mit Kräutern auf der Anrichte aus. Um das Spinnengift aus Sams Körper herauszubekommen benötigte sie die Kräuter alle frisch. Sie wusch das Grün sorgfältig aus, legte es auf ein Holzbrett, welches schon ganz dunkel geworden war vom Saft verschiedener Pflanzen, und zerhackte alles mit einem Beil. Brennnessel, Klette und Löwenzahn schmeckten zwar nicht sonderlich, aber sie würden mit dem Süßholz einen guten Trank abgeben, der das Gift neutralisieren konnte. Für die eiternde Wunde hatte sie bereits Salbei gepflückt. Während sie den Tee kochte, bereitete sie einen neuen Verband vor, den sie in Salbei und Kamille einlegte. Dann zog sie ein glühend heißes Messer aus dem Ofen.

 

Dean beobachtete sie ganz genau. Er prägte sich jede Bewegung ein, um Bobby später anzurufen. Wenn ihm nicht gefiel, was sie dort trieb, würde er sie trotz seiner Wunde überwältigen müssen. Oder Bobby um Hilfe bitten. Als sie mit dem heißen Messer zu ihm kam, zuckte er zusammen. Was hatte sie denn damit vor?

 

Entsetzt beobachtete er, wie sie den eiternden Rand von Sams Wunde mit dem scharfen Messer abschnitt und sie gleichzeitig kauterisierte. Der beißende Geruch von verbranntem Fleisch stieg ihm in die Nase und er musste würgen. Als sie fertig war, legte sie die vorbereiteten Umschläge auf das wunde Fleisch. Dean konnte sehen, wie die Lider seines Bruders unruhig zuckten. Vermutlich hatte er selbst dort, wo sein Geist sich im Moment befand, diese Schmerzen gespürt.

 

Bonnie drehte sich entschuldigend zu Dean um, als sie fertig war. „Tut mir leid, dass du das mit ansehen musstest, Prinzesschen.“

 

Den Mund vor Ekel verzogen blickte er sie an. „Du weißt schon, dass das auf einer Skala von eins bis zehn einen Ekelfaktor von mindestens zwölf erreicht?“ Sie grinste ihn breit an. „Und ich dachte“, sagte sie, „dass ihr schon an so was gewöhnt seid.“

 

„Oh ja, es passiert mir ständig, dass ich mit ansehen muss, wie meinem Bruder ein Stück Fleisch herausgeschnitten wird. Willst du vielleicht noch ein bisschen Pfeffer zu deinem Steak?“

 

Sie lachte. „Nein danke, Hexen mögen ihr Fleisch lieber pur. Hast du Hunger?“ Er schenkte ihr einen spöttischen Gesichtsausdruck und zeigte ihr erneut den Mittelfinger. Sie nahm es mit einem Schulterzucken zur Kenntnis. Wahrscheinlich würde er diese obszöne Geste noch ein paar Mal wiederholen.

 

Als sie Sam den Trank eingeflößt hatte, kam sie auch mit einem neuen Verband zu ihm. Vorsichtig entfernte sie das durchgeweichte Leinen. Er reagierte nicht auf den Schmerz, den er spürte. Diese Blöße wollte er sich nicht geben. Doch als sie seine Wunde mit einem heißen Lappen auswusch, fluchte er lauthals. „Miststück! Willst du mich umbringen?“ Er riss ihr den Lappen aus der Hand und stieß sie von sich.

 

„Bitte, wie du willst.“ Sie drückte ihm die Schüssel mit dem heißen Kamillenwasser in den Schoß. „Dann mach es dir doch selber.“

 

„Ich mach hier überhaupt nichts!“, rief er und schleuderte die Schüssel zu Boden. „Ich werde jetzt meinen Bruder nehmen und von hier verschwinden. Und du und dein Hexenzeugs könnt mich mal.“ Wütend erhob er sich aus dem Sessel. Er zog sich seine Lederjacke über den nackten Oberkörper und ging hinüber zum Sofa. Etwas zu heftig schob er seine Arme unter seinen Bruder, denn sofort wurde er bestraft. Die gerade verschlossene Wunde platzte wieder auf.

 

Kraftlos sank er neben Sam zu Boden. Blut durchnässte seine heißgeliebte Lederjacke und ihm wurde erneut schwarz vor Augen. Dieses Mal jedoch gewann er den Kampf gegen die Ohnmacht. Wie durch einen Schleier konnte er sehen, wie die Hexe auf ihn zustürzte. Was immer sie mit ihrem egozentrischen Auftreten bewirken wollte, dies hatte sie nicht gewollt. Er konnte die Schuld in ihren Augen sehen.

 

Das nächste, woran er sich erinnerte, war, dass er in einem weichen Bett aufwachte. Seine Schulter pochte, genau wie sein Kopf. Er fühlte sich unglaublich durstig. Doch all das konnte seinen Geist nicht in der Wirklichkeit festnageln. Erneut glitt er hinüber ins Dunkel.

© by LilórienSilme 2015

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