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Teil 1

 

Langsam schob sich die Sonne durch eine dichte Nebelbank hinauf zum Himmel. Vögel zwitscherten verhalten, dann immer lauter, bis sich ein Chor bildete, der den neuen Tag freudig begrüßte. Die Luft roch sauber und rein, gewaschen durch den nächtlichen Regen, von welchem die Erde immer noch feucht war. Kleine, wie Diamanten glitzernde, Tropfen hafteten an Gräsern, Blättern und Blüten. Es versprach ein wundervoller Sommertag zu werden.

 

Mitten durch die allmorgendliche Stille pflügte plötzlich und ohne Vorwarnung das tiefe Dröhnen eines Motors. Reifen quietschten, als der Fahrer sein Auto um eine Kurve jagte, ohne Rücksicht zu nehmen. Seine Hände lagen verkrampft um das lederne Lenkrad, bei jedem Schalten heulte der Motor auf. Fluchend fing er das ausbrechende Heck ab und raste weiter die Landstraße hinunter. Sein Ziel war ein kleines Haus, weit ab von jeder Stadt.

 

Auf den ersten Blick hätte man denken können, dass er alleine in seinem Wagen saß. Doch schaute man genauer hin, erkannte man eine eingesunkene Gestalt auf dem Beifahrersitz. Die dunklen Haare klebten an seiner Stirn, das Gesicht bleich wie ein Leichentuch. Nur die dicken Schweißperlen auf seiner Oberlippen verrieten, dass er noch am Leben war.

 

Der Fahrer fluchte erneut, als er einen Blick auf seinen Begleiter warf. „Du wirst mir jetzt nicht wegsterben, Sammy, hast du mich gehört?“ Sein Blick huschte von der Straße zurück zu dem jungen Mann neben ihm. Immer wieder versuchte er auszumachen, ob sich sein Zustand verschlechterte oder ob er hoffen durfte. Ihr letzter Auftrag war eine Falle gewesen. Auf der Suche nach ihrem wertvollsten Besitz hatten sie sich blenden lassen. Der Dieb war ihnen erneut durch die Finger geschlüpft, wie schon so viele Male zuvor. Hätten sie doch damals besser aufgepasst und ihr nicht den Aufenthaltsort des Colts gezeigt. Doch sie hatten ihr vertraut, hatten sie in ihr Versteck gelassen und sie sehen lassen, wie er den Colt in den Safe gelegt hatte.

 

Wütend über sich und seine Dummheit schlug Dean auf das Lenkrad ein. Er hatte Bela noch nie vertraut, hatte sich aber überzeugen lassen, dass sie die einzige war, die ihnen in diesem Fall helfen konnte. Bobby hatte Recht gehabt. Sie war ein Wiesel. Ein raffsüchtiges, nur auf ihren Profit bedachtes Wiesel. Wie hatte er sich so blenden lassen können? Er war zwar hübschen Frauen nicht abgeneigt, aber allein ihre Ausstrahlung ließ das makellose Gesicht und den schönen Körper in den Hintergrund treten. Am liebsten hätte er sich in den Hintern gebissen.

 

Und nun hatte Sammy den Preis zahlen müssen. Sie waren einer Spur in den Grand Canyon gefolgt. Eigentlich hätte er wissen müssen, dass Bela sich an solchen Orten niemals aufhielt. Durch den Verkauf vieler okkulter Gegenstände an willige Investoren war sie an ein stattliches Vermögen gekommen. Wenn sie wollte, konnte sie sich in New York in einem Penthouse auf der 5th Avenue verstecken. Doch sie waren nach Arizona gefahren. Sie waren der Spur gefolgt. Aber was hatten sie dort vorgefunden? Eine leere Höhle. Das zumindest hatten sie angenommen. Da es zu weit gewesen wäre, an diesem Abend noch in ein Motel zu fahren, hatten sie im Impala schlafen wollen. Seine breiten Sitze waren unheimlich gemütlich. Alleine deswegen liebte er sein Baby so sehr. So manche schöne Stunde hatte er mit einer willigen High-School-Schülerin auf dem Rücksitz verbracht.

 

Er schüttelte den Kopf, um diese lästigen Gedanken zu vertreiben. Normalerweise erinnerte er sich gerne mal an Schäferstündchen, das er besonders angenehm fand. Doch jetzt durfte er die Straße nicht aus den Augen verlieren. Er musste Sammy beschützen, wie sein Vater es ihm aufgetragen hatte.

 

John Winchester hatte seinen beiden Söhnen sein Vermächtnis hinterlassen. Nicht gerade eine Erbschaft, wie man sie sich wünschte. Doch Dean hatte bereitwillig zugesagt, als sein Vater ihn darum gebeten hatte, ihm bei der Jagd zu helfen. Was hatte er schon gehabt zu diesem Zeitpunkt? Er war vom Collage geflogen, hatte keinen Job länger als zwei Wochen ausgehalten, das einzige, was ihn erfreut hatte, waren die gelegentlichen Abenteuer mit verheirateten Frauen gewesen. Was also hätte er zu verlieren gehabt? Er wusste seit seiner frühesten Kindheit, dass ihre Familie mit einer Aufgabe der etwas anderen Art geschlagen war. Seit ihre Mutter in Sams Kinderzimmer an der Decke verbrannt war, wussten Dean und sein Vater, dass es Dämonen gab. Und weil John seine Frau rächen wollte, hatte er zu jagen begonnen.

 

Zu dumm nur, dass er seine Söhne damit reinziehen musste, als er vor drei Jahren verschwand. Sie hatten ihn zwar gefunden, doch genauso schnell wieder an die Hölle verloren. Jetzt war es an Dean seinen kleinen Bruder zu beschützen. Und er tat wirklich alles, was er konnte. Aber es hatte nichts daran geändert, dass Sam vor knapp zwei Stunden von dieser verdammten Spinne gestochen worden war.

 

Dean konnte beinahe sehen, wie sich das Gift in dem immer schwächer werdenden Körper seines Bruders ausbreitete. Er hätte sich selbst ohrfeigen können. Wieso nur hatte er nicht seinem Instinkt vertraut? Er hätte besser auf sich selbst gehört, anstatt auf diese lächerlichen Informationen, die man ihnen zugespielt hatte. Sonst hatte er auch nie so schnell Vertrauen zu etwas gefasst. Besonders nicht wenn es um Bela ging.

 

Dass sie dort gewesen war stand außer Frage. Sie war nicht besonders gut darin, ihre Spuren zu verwischen. Ganz besonders dann nicht, wenn man ihr schon auf den Fersen war. Was sie allerdings dort gesucht hatte war ihm schleierhaft. Es hatte nichts als nackten Fels dort gegeben. Was hätte sie dort suchen sollen? Oder vielleicht wollte sie den Colt einfach mal ausprobieren. Wenn sie ihn schon verkaufen wollte, musste sie sicherstellen, dass er auch hielt was er versprach. Hatte sie versucht die Spinne zu töten? Wäre es ihr doch gelungen.

 

Endlich kam Bobbys Haus in Sicht. Der Schrottplatz dahinter lag noch im Dunkeln, aber durch die Fenster schien Licht nach draußen. „Gott sei Dank“, stöhnte er. Bobby war bereits wach. Er machte sich nicht die Mühe sorgfältig zu parken oder sich der Höflichkeit entsprechend anzukündigen. Er nahm Sam auf den Arm und trug ihn hinüber zum Haus. Er überlegte kurz, ob er vielleicht doch klingeln sollte, entschloss sich dann aber doch dazu, die Türe einzutreten. Vermutlich wusste Bobby sowieso schon, dass er hier war.

 

Bevor Dean jedoch den Tritt platzieren konnte wurde die Tür geöffnet. Der Blick aus dem bärtigen Gesicht huschte von Dean zu Sam und wieder zurück. „Was ist passiert?“, fragte er. Dean drängte sich an seinem alten Freund vorbei, legte seinen Bruder auf das alte staubige Sofa. „Er wurde gestochen. Du musst mir helfen, Bobby. Dieses Mistvieh hat ihn vergiftet.“

 

Der Ältere kniete sich vor dem Sofa nieder und betrachtete den Patienten. Sams Haut war weiß, Schweiß glitzerte auf seinem Gesicht, seine Lider zuckten unruhig. Als er seinen Puls fühlte, musste er feststellen, dass er raste. Und seine Haut war eiskalt. Lange würde er dem Gift in seinem Körper nicht mehr standhalten können.

 

„Was zum Teufel hat das angerichtet?“ Bobby schüttelte den Kopf. Hier hatten sie es wohl ausnahmsweise nicht mit etwas Übernatürlichem zu tun, sondern mit etwas Biologischem.

 

Dean richtete sich wieder auf. „Es war eine Spinne.“

 

„Eine Spinne?“ Bobby blickte ihn fassungslos an. Wieso waren diese beiden nur manchmal so unvorsichtig? Als wären sie noch nie in einem Zoo gewesen. Dean breitete seine Arme aus. „Eine monströse Spinne“, rief er, „bitte, Bobby, du musst mir helfen. Er stirbt.“

 

Ungeachtet des letzten Aufrufs gingen ihm zwei Fragen durch den Kopf. Was hatte eine Spinne derartig groß werden lassen? Doch vor allem, was, in drei Teufel Namen, hatten die beiden in der Nähe einer solchen Bestie zu suchen? Bei so etwas kannte er sich nicht aus. „Tut mir leid, Junge, aber da kann ich dir nicht helfen. Ich weiß nicht, wie man so etwas behandelt. Du hättest ihn zu einem Arzt bringen sollen. Das hier hat nichts mit Dämonen zu tun.“

 

Dean trat näher an Bobby heran. „Willst du mir erzählen, dass eine Spinne von der Größe eines Pferdes nichts Übernatürliches ist? Der Stachel hätte Sammy beinahe durchbohrt. Irgendetwas muss es doch geben.“ Verzweifelt schlug er die Hände über dem Kopf zusammen, biss sich auf die Unterlippe. Wieso nur musste es immer Sammy erwischen? Reichte es nicht, dass er als Baby mit Dämonenblut ernährt worden war? Hätte das nicht vielleicht das Gift aufhalten können?

 

Bobby fühlte erneut Sams Puls. Wenn sein Herz weiter so heftig schlug, würde er an einem Herzinfarkt sterben. Angestrengt dachte er nach. Was konnte er tun? Wenn es wirklich so eine gewaltige Spinne war, dann konnten sie nicht in ein Krankenhaus fahren. Was hätten sie sagen sollen? Auf der Suche nach einem Colt, der Dämonen töten konnte, stießen die Jungs zufällig auf eine pferdegroße Spinne, die mit ihrem gewaltigen Stachel einen aufgewachsenen Mann aufspießen konnte? Selbst für einen Jäger wie ihn klang das mehr als unwahrscheinlich. Aber wie sollte er ihnen helfen? Er wusste, wie man Vampire oder Formwandler tötete, aber nicht, wie man Vergiftungen kurierte. Er war schließlich kein Schamane.

 

Plötzlich hatte er eine Idee. „Vielleicht gibt es doch etwas, was ich für euch tun kann.“ Langsam kam er wieder auf die Beine. Wo hatte er nur all die Jahre ihre Nummer aufgewahrt? Dean drehte sich zu ihm um. „Egal, was es ist, Bobby, ich tue alles.“

 

„Nun bleib mal ganz ruhig, Junge“, sagte er, während er in seinem vergilbten Telefonbuch blätterte. Unter welchem Namen hatte er sie doch gleich abgespeichert? Es war irgendetwas Griechisches gewesen. Wenn er nicht so alt wäre, hätte sein Gedächtnis vielleicht etwas besser funktioniert. „Hier hab ich sie“, sagte er schließlich und hielt seinem jungen Kollegen, den er liebte wie seinen eigenen Sohn, einen kleinen Zettel mit einem Namen und einer Adresse hin. „Fahr dort hin und frag nach Bonnie.“

 

Dean nahm den Zettel an sich. „Bonnie und weiter? Tyler?“ Seine Stimme nahm einen leicht hysterischen Ton an, als er ungläubig auf den Zettel starrte. Diese Adresse klang verdächtig nach einem Studentenwohnheim und wenn er Pech hatte, gab es dort ein Dutzend Bonnies. Und wie sollte sie ihm überhaupt helfen können? Wie sollte ein Mädchen namens Bonnie seinen Bruder retten können? Hatte sein alter Freund den Verstand verloren?

 

„Ich weiß, was du jetzt denkst, Dean. Aber glaub mir, sie ist eine alte Freundin und sie wird Sam sicher helfen können. Vertrau mir.“ Er konnte sehen, dass er ihm kein Stück vertraute, doch wie sonst hätte er ihn überzeugen können? Er wusste, dass es gefährlich war, so einer Frau zu vertrauen, aber sie hatte ihm schon so oft das Leben gerettet, dass es keinen Zweifel an ihrer Loyalität gab. Zumindest nicht für ihn.

 

Wenig später war Dean mit seinem bewusstlosen Bruder auf dem Beifahrersitz unterwegs in den Norden. Bobby hatte ihm eine Wegbeschreibung gegeben und Sam etwas Eisen in die Stichwunde gelegt. Es würde das Gift für eine Weile neutralisieren. Trotzdem konnte es sein, dass er die Fahrt nicht überleben würde. Wenn es so sein sollte, würde er Bobby umbringen, schwor er sich, während er das Gaspedal noch etwas weiter nach unten drückte. Es tat ihm weh, sein Baby so zu misshandeln, doch für seinen Bruder würde er alles tun.

 

Um sich ein wenig abzulenken legte Dean eine neue CD ein. Für manche Leute mochten die Nerven zerfetzenden Schreie von Dave Evans keine Erholung sein. Doch da er seit seiner Kindheit an die Lieder von AC/DC gewöhnt war, entspannte er sich sogar ein wenig bei der Musik. Sammy würde es nicht stören, wenn er es noch etwas lauter machte. Sein Geist war vermutlich weit entfernt von alldem.

 

Während Dean auf dem Highway entlang raste kehrten seine Gedanken wieder zum gestrigen Abend zurück. Sie hatten sich ein Motel in der Nähe von Phoenix genommen, während sie auf der Suche nach Bela waren. In einer Bar hatten sie schließlich ein Gerücht aufgeschnappt. Eigentlich ein Himmelfahrtskommando, wenn er jetzt darüber nachdachte. Doch Sam hatte gesagt: „Wenn sie den Colt hat, müssen wir jeder noch so kleinen Spur nachgehen, Dean. Wir können es nicht riskieren, ihr nicht zu folgen.“

 

„Sammy, ich weiß nicht…“ Er hatte keinen Hehl aus seinen Zweifeln gemacht, doch sein Bruder wollte davon nichts hören. Schließlich war es seine Schuld gewesen, dass sie bestohlen worden waren. Zumindest gab er sie sich. Ruby würde das vermutlich genauso sehen. Wenn sie aus der Sache also unbeschadet herauskommen wollten, mussten sie es auf jeden Fall versuchen. Auch wenn sie bei diesem Versuch scheitern würden, vielleicht würde es beim nächsten klappen.

 

Sam sah seinen großen Bruder eindringlich an. „Dean, ich bin daran schuld, dass sie ihn genommen hat. Ich habe ihr vertraut. Bitte, lass es mich wieder gutmachen.“

 

„Es ist doch nur ein Gerücht! Was sollte sie im Grand Canyon schon wollen? Sicherlich nicht die Landschaft bewundern. Ich kann sie mir auch schwer in Wanderschuhen vorstellen, wenn du verstehst, was ich meine.“ Er zwinkerte seinem Bruder anzüglich zu und zeigte das schiefe Lächeln, was schon so manche Frau hatte schwach werden lassen. Doch sein Bruder verdrehte nur die Augen. „Dean, bitte!“

 

Sie sahen sich eine Weile schweigend in die Augen, fochten wieder diesen stillen Kampf aus, bei dem jeder das Für und Wider alleine abwogt, bis sie schließlich zu ein und derselben Meinung kommen mussten. Immerhin waren sie zusammen aufgewachsen, waren von demselben Mann großgezogen worden, hatten die gleiche Mutter verloren. Manchmal war es Sam schon unheimlich, wie nahe sie sich eigentlich waren. Dabei hätten sie verschiedener nicht sein können.

 

Dean resignierte. „Na schön, von mir aus! Aber auf dem Rückweg fahren wir nach Vegas, wenn wir schon in der Nähe sind. Und du bezahlst die Drinks.“ Sam lachte erleichtert auf. Wenn sein Bruder die Aussicht auf einen Abend am Roulettetisch mit ein paar hübschen Mädchen vor Augen hatte, würde er zu so ziemlich allem Ja sagen.

 

Kurz darauf hatten sie sich auf den Weg gemacht. Noch immer fluchte er über sich selbst, weil er sich hatte ködern lassen. Manchmal war ihm seine Männlichkeit ein wenig im Weg. Aber er hätte sie für nichts auf der Welt eintauschen wollen. Allerhöchstens für Sammys Leben.

 

Eine absurde Vorstellung, fuhr es ihm durch den Kopf. Aber sein Bruder wurde es gewiss nicht wollen, wenn er seine Männlichkeit für ihn einbüßte. Andererseits war er immer der Brave von ihnen gewesen, der heiraten und Kinder kriegen wollte, wohingegen er nur seinen Spaß haben wollte. Fürs Heiraten war er noch viel zu jung. Das konnte er immer noch tun.

 

Als die Sonne beinahe ihren höchsten Stand erreicht hatte, tauchte vor ihm auf der Straße auf einer kleinen Anhöhe ein schnuckeliges Häuschen auf. Er hatte gar nicht gewusst, dass sich dieses Wort in seinem Wortschatz befand, doch für dieses etwas windschiefe Haus mit den grünen Fensterläden und dem Garten drum herum fand er einfach keinen passenderen Begriff.

 

Quietschend parkte er seinen Impala vor dem kleinen Gartenzaun, den Bobby ihm beschrieben hatte. Er war wohl mal weiß gewesen, doch mit der Zeit war die Farbe abgeblättert und das Holz darunter war zum Vorschein gekommen. Größtenteils war es bereits verwittert, so machte es ihm keine Probleme, das kleine Tor zu zertreten und mit seinem Bruder auf dem Arm zur Tür zu stürmen. Sammy war ganz schön schwer, dachte er, als er den Weg aus Natursteinen zur kleinen Veranda hochging. Hatte er zugenommen?

 

Kurz bevor er auch noch die Haustüre eintreten konnte, wurde diese von innen geöffnet. „Wage es nicht, auch noch meine Tür zu zertrümmern. Ich hänge sehr an ihr.“ Vor ihm stand eine junge Frau Mitte zwanzig. Sie reichte ihm gerade bis zum Kinn, hatte für seinen Geschmack etwas zu viel auf den Hüften und feuerrote Haare. Ihre hellgrünen Augen fixierten ihn düster. Bobby hatte ihn geradewegs in das Haus einer Hexe geführt, fuhr es ihm durch den Kopf.

 

„Willst du weiter da draußen stehen bleiben und mich angaffen? Oder willst du deinen Bruder lieber ins Haus bringen, sodass ich mir seine Wunde vielleicht mal anschauen kann, Dean Winchester?“

 

Der Klang seines Namens riss ihn aus seiner Starre heraus. Er würde den Teufel tun und Sammy in das Haus einer Hexe bringen. Da konnte er ihn gleich selber töten.

 

„Ich weiß, was du jetzt denkst“, sagte sie und verlagerte das Gewicht auf ihr rechtes Bein. Dabei sah sie ihn von unten schelmisch an. Bildete er es sich ein, oder war sie gerade attraktiver geworden? Vielleicht war es auch nur ein Zauber von ihr, damit sie ihn in ihr Netz locken konnte. „Ach ja? Kannst du Gedanken lesen, kleine Hexe?“

 

Sie lachte. Es klang wie tausend silberne Glöckchen und auf eine absurde Weise erinnerte es ihn an das Glockenleuten auf einer Beerdigung. „Nein, Dean, bei deinem dämlichen Gesichtsausdruck reicht es völlig aus, wenn ich dir vor die Stirn gucke.“ Sie zog einen Mundwinkel nach oben und zeigte ihre Zähne. Er wusste nicht, was er erwartet hatte, aber dass sie weiß waren, sicher nicht. Irgendwie hatte er gedacht, sie wären vielleicht grün oder braun, wie in diesen Märchen. Und auf ihrer Nase hätte eigentlich eine ekelhafte Warze sitzen müssen. Stattdessen grinste sie ihn frech an und sah dabei eher wie ein kleines Mädchen, denn wie eine alte Schachtel aus.

 

Langsam fasste er sich wieder und nahm plötzlich einen eigenartigen Geruch wahr. Es roch beinahe wie am Meer. Verwirrt sah er sich um. „Riecht es hier nach Salz?“

 

Ohne auf seine Frage einzugehen zerrte sie ihn plötzlich am Kragen in ihr Haus rein. So viel Kraft hatte er ihr gar nicht zugetraut. Sie zog ihn einfach hinter sich her, ohne dass er hätte reagieren können. Immerhin hatte er noch seinen Bruder auf dem Arm. Vor einem Sofa hielt sie an. „Leg ihn hin“, sagte sie in einem Ton, der keinen Widerspruch erduldete. Gegen seinen Willen gehorchte er. Erst als er Sam hingelegt hatte, bemerkte er, dass er sich in einer Hexenküche befand. Das Haus war im mitteleuropäischen Stil des späten neunzehnten Jahrhunderts erbaut worden und so zogen sich dicke dunkle Balken quer durch die kleinen Räume. Ein paar Wände waren eingerissen worden, um mehr Platz zu schaffen. An den Deckenbalken baumelten Sträucher aus Kräutern zum Trocknen. Sie verbreiteten einen schweren, wohligen Duft im ganzen Raum. Am Ende befand sich eine niedliche alte Holzküche mit einem gusseisernen Ofen.

 

Er zuckte zusammen. Schon wieder so ein absurdes Wort! Dann merkte er, wo er sich eigentlich befand und sah sich suchend um. Die junge Frau hatte sich neben Sam gekniet und schob sein Hemd nach oben. Dean sprang vorwärts und stieß sie von ihm weg. „Hände weg von ihm, du Miststück!“

 

Sie hob abwehrend die Hände in die Luft. „Ich wollte mir nur seine Wunde ansehen.“

 

„Woher weißt du von der Wunde?“ Misstrauen spiegelte sich in seinen Augen wider. Wenn sie keine Hexe war, wieso wusste sie dann, weswegen sie hier waren?

 

Lässig zog sie ein Handy aus ihrer schmutzigen Schürze und zeigte es ihm. „Bobby hat mich angerufen.“ Dean schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn. Wenn sie zwei Köpfe gehabt hätte, hätte er nicht überraschter sein können.

 

Er hatte sie auf den Boden geworfen, jetzt stand sie auf, stellte sich vor ihn und blickte ihm fest in die Augen. „Jetzt hör mir mal zu, du dummer kleiner Junge“, zischte sie. „Wenn du dich weiterhin so verbissen dagegen wehrst, dass ich deinem Bruder das Leben rette, solltest du vielleicht draußen warten.“

 

Dean beugte sich zu ihr hinunter. Er war über einen Kopf größer als sie, doch offenbar beeindruckte sie das kein bisschen. „Und dich mit ihm alleine lassen? Keine Chance. Wer weiß, was du alles mit ihm anstellst.“

 

Er ging hinüber zum Sofa und wollte Sam schon wieder hochnehmen. Doch da bemerkte er, dass er offenbar auch etwas abbekommen hatte. Durch seine Schulter fuhr ein stechender Schmerz, der ihn zusammenzucken ließ. Er versuchte es sich nicht anmerken zu lassen, aber er schaffte es trotzdem nicht, seinen Bruder noch einmal hochzuheben. Bonnie stand lässig daneben, die Arme vor der Brust verschränkt. „Oh ja, sobald du draußen bist werde ich über ihn herfallen, ihn erst vergewaltigen und danach auffressen, weil er so süß ist.“ Sie hatte genau gesehen, wie er vor Schmerzen das Gesicht verzogen hatte. Um sein Vertrauen zu gewinnen, würde sie auch ihm helfen müssen, obwohl ihr dieser Kerl äußerst zuwider war.

 

Sie ging in die Küche, nahm einen Hocker heran und stellte ihn unter einen der Balken. Mit einem Messer schnitt sie ein Bündel Kamille an. Sofort verbreitete sich der Duft im ganzen Raum und auf eine angenehme Art beruhigte er sich dadurch ein bisschen. Trotzdem wollte er noch immer von hier weg. Er packte Sammy bei den Füßen und wollte ihn vom Sofa herunterziehen. Wenn sein Kopf dabei auf den Boden aufschlagen würde, machte das sicher keinen allzu großen Unterschied zu vorher. Er war sowieso schon ein Freak.

 

Sie war schneller wieder zurück, als er gedacht hatte. Ohne auf seinen Protest zu achten, der ohnehin sehr gering ausfiel, da er unglaublich erschöpft war, riss sie den Ärmel seines Hemds auf und legte die Wunder auf seinem Oberarm frei. Ein tiefer Kratzer zog sich beinahe bis zur Wirbelsäule quer über seine Schulter. Dickes Blut sickerte heraus. Er hatte viel verloren, ohne es zu merken. Die Wunde war schon dabei zu heilen. Doch wahrscheinlich würde sie sich bald infizieren, wenn sie nicht gereinigt wurde. Sie nahm ein paar Kamillenblüten, zerkaute sie kurz, dann drückte sie sie auf die Wunde.

 

Er schrie vor Schmerzen auf, als das Kraut die offene Wunde berührte. Doch er wehrte sich nicht mehr. Auch er hatte ein bisschen was über Heilkräutern gelernt. Trotz allem traute er ihr immer noch nicht.

 

„Leg dich hin“, sagte sie sanft und drückte ihn zu Boden. Er lag nun auf der Seite, während sie sein Hemd weiter aufriss um die ganze Wunde freizulegen. Wie hatte er das nur nicht bemerken können? Schockiert sah er zu, wie sie die blutigen Fetzen von sich warf. Er musste beinahe einen halben Liter verloren haben. Ein Wunder, dass er es noch bis hierhin geschafft hatte.

 

Langsam wurde ihm schwindelig vor Augen. Er zwang sich dazu, bei Bewusstsein zu bleiben, wollte Sammy nicht mit ihr alleine lassen. Doch irgendwann schwand der Schmerz und ließ nur noch ein dumpfes Pochen zurück, was ihn langsam aber sicher einschläferte.

© by LilórienSilme 2015

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