LilórienSilme
~ Fanfiction-Autorin ~
Prolog
~ Ich kann nicht mehr
Mit jedem Augenaufschlag droht
Ein neuer Kampf, ein neuer Tod
Der Himmel verfärbt sich rot, als du traurig durch die beschlagene Scheibe nach draußen siehst. Der Bodennebel zieht sich langsam zurück und lässt dich das frisch geschnittene Gras darunter erkennen. Sanfte Hügel erstrecken sich in deinem Blickfeld, tauchen aus der Dunkelheit auf und werden langsam grün.
Das Schauspiel, was sich vor dir aufführt, interessiert dich jedoch nicht. Du siehst weder den glühenden Feuerball, der sich langsam über den Horizont schiebt, noch die kleinen Eichhörnchen, die aus ihrem Schlaf erwachen und nun nach Nahrung suchen. Deine Hand hat sich mittlerweile verkrampft, denn du hast sie die ganze Nacht in einer einzigen Stellung gehalten. Doch du spürst keinen körperlichen Schmerz. Der Schmerz in deiner Seele und deinem Herzen ist viel zu groß dafür.
Salzige Tränen haben ihre Spuren auf deinem Gesicht hinterlassen, haben deine Augen rot und geschwollen gemacht und deine Unterlippe zittert noch immer. Doch mittlerweile sind deine Tränen versiegt. Du kannst nicht mehr weinen, weil keine Flüssigkeit mehr übrig ist. Es fühlt sich an, als hätte dir jemand das Herz aus der Brust gerissen und nun klafft ein schwarzes Loch an seiner Stelle. Nur die Wundränder pulsieren noch leicht.
Eine schwere Hand legt sich von hinten auf deinen Rücken und du zuckst leicht zusammen, weil du damit nicht gerechnet hast. Wieso kommt jemand in dieses Zimmer? Sie sollen dich alle in Ruhe lassen, sollen dich hier sitzen lassen, bis du selbst so kalt und steif bist, wie der Körper, der vor dir in diesem Krankenbett liegt.
Plötzlich nimmst du wieder Dinge um dich herum wahr, die weiß gestrichenen Wände, das sterile Bettzeug, der Geruch nach Desinfektionsmittel und irgendetwas anderes, was du nicht benennen kannst. Und den Mann, der hinter dir steht. Du kannst seinen Schweißgeruch riechen, der dir sagt, dass es einer der Nachtwächter auf der Krankenstation ist, der die ganze Zeit über hier war und nicht erst zur Frühschicht gerade von zu Hause kommt.
Der Gedanke an Zuhause zerreißt dich fast und dann ist er auf einmal wieder da, dieser Schmerz. Ohne, dass du es kontrollieren kannst, löst sich ein tiefer Schluchzer aus deiner Kehle und dringt hervor. Sofort schießen neue Tränen in deine Augen und brennen wieder ihre Spuren auf deine Wangen, laufen in deinen Mund hinein und ersticken dich fast, bist du merkst, dass du gar keine Luft mehr geholt hast, seit er dich berührt hat. Die ganze Realität, die du so sehr versucht hast zu verdrängen, ist auf einmal wieder mit voller Macht zurück und schlägt dir mitten ins Gesicht.
Dein Körper fängt unkontrolliert an zu zittern, sodass du beinahe von deinem Stuhl rutscht. Du kannst es nicht verhindern, als er dich hochhebt und sich deine verkrampfte Hand langsam von dem kalten Arm löst, den du die ganze Nacht über festgehalten hast. Der Arm bewegt sich kaum, als deine Finger von ihm gleiten. Ist es schon so lange her, dass sie ihren letzten Atemzug getan hat?
„Komm mit, Kleine“, sagt er sanft, aber bestimmt, und reißt dich von dem letzten Rest weg, den du noch deine Familie nennen kannst. Alles, was dir geblieben ist, ist der leblose Körper vor dir, der nun aus deinem Blickfeld verschwindet. Du willst dich wehren, willst schreien und um dich schlagen, willst den Nachtpfleger verletzten, ihn kratzen, beißen, treten, damit er dich loslässt, doch du hängst nur schlaff in seinen kräftigen Armen, wie ein Sack Kartoffeln, den man zum Markt trägt. „Du kannst jetzt nichts mehr für sie tun.“
Wieder schluchzt du laut auf, der einzige Laut, der dir entweicht. Ansonsten bist du innerlich abgestorben, wie ein Baum, den man zum Sterben in der Wüste zurückgelassen hat.
Irgendwann lässt er dich wieder herunter, als du in einem fremden Gang des Krankenhauses bist, den du nicht kennt. Er drückt dich auf einen dieser Plastikstühle und kniet sich vor dich hin, um dir besser in die Augen sehen zu können. Doch du willst ihn nicht ansehen. Du willst dieses Gespräch nicht führen, denn es bedeutet, dass du die Wahrheit akzeptieren musst. Du willst nicht, dass das alles passiert ist. Wieso nur kannst du die Zeit nicht zurückdrehen? Wieso musste das alles passieren?
Eine seiner großen Pranken greift nach deinen Händen, die immer noch unkontrolliert zittern, während wilde Schluchzer deine Schultern zucken lassen. Er drückt sie sanft, doch vermutlich könnte er deine Finger mit einer einzigen Bewegung zu Brei verwandeln.
Dieser Gedanke muntert dich auf eine seltsame Art und Weise auf. Würde der körperliche Schmerz den seelischen übertönen können? Würde es dann aufhören? Würde das dumme kleine Herz dann aufhören zu bluten? Oder könnte er dich vielleicht zu einem Arzt bringen, der dir gleich dein Herz ganz aus der Brust schneidet? Dann wäre es ganz sicher vorbei.
„Hast du Familie, die wir benachrichtigen können?“, fragt er dich und du willst ihm sagen, dass deine einzige Familie gerade gestorben ist, doch du kannst es nicht. Deine Stimme will dir nicht gehorchen, denn es kommt nur ein Krächzen aus deinem Mund. Also schüttelst du nur stumm mit dem Kopf und starrst weiterhin auf deine Füße. „Keine Großeltern?“ Wieder ein Kopfschütteln. „Oder deinen Vater?“
Dieses Mal sparst du dir das Kopfschütteln und schweigst. Wenn es etwas gibt, was du nicht wissen willst, dann wer dein Vater ist. Selbst wenn man dir einen Briefumschlag mit seinem Namen und seiner Adresse geben würde, würdest du ihn nicht öffnen wollen. Er war noch nie wichtig für dich und er würde es auch heute ganz sicher nicht werden. Denn wenn es ihn tatsächlich geben sollte, würde er in diesem Moment durch die Türe kommen, dich in den Arm nehmen und mit zu sich nach Hause nehmen. Doch du hast keinen Vater.
Der große Pfleger steht auf und lässt dich endlich alleine. Irgendwann kommt eine Frau vorbei, die dich nach deinem Namen fragt. Sie trägt ein schwarzes Kostüm, was ihr zu groß ist. Die Haare hat sie streng nach hinten zu einem Zopf zusammen gebunden, doch sie spricht leise und sanft zu dir, als sie dich fragt, was jetzt passieren soll.
Unmotiviert zuckst du nur mit den Schultern. Erstens, weil du es nicht weißt und Zweitens, weil es dir egal ist.
Sie sagt dir, dass du bis zur Beerdigung in einem Heim untergebracht wirst. Und dass man danach eine Pflegefamilie für dich finden würde. Du nickst nur. Eigentlich verstehst du das gar nicht. Doch du weißt, dass man dich noch nicht alleine lassen kann. Dir fehlen noch ein paar Jahre zur Volljährigkeit und bis dahin musst du unter Aufsicht gestellt werden.
Das ist dir klar, als die Frau wieder gehen will. Doch sie bleibt zwei Meter weiter wieder stehen und dreht sich zu dir um. Sie streckt eine Hand nach dir aus und ruft dich bei deinem Namen. Erst willst du nicht mit ihr mitgehen, doch dann wird dir klar, dass du jetzt nirgendwo anders mehr hinkannst. Also stehst du langsam auf, gehst auf sie zu, wobei du deine Füße müde hinter dir herziehst, und greifst ihre Hand.