LilórienSilme
~ Fanfiction-Autorin ~
Kapitel 9
~ Wicked Witch of the Bayou
Der Wind bauschte die Segel der Queen Anne’s Revenge auf, ließ den Schiffsrumpf durch das Wasser schneiden und brachte sie schnell ihrem Ziel näher. Es hatte eine Zeit lang gedauert, bis Jack Barbossa von seinem Vorhaben überzeugen konnte, doch die Aussicht auf eine ganze Flotte war schon immer Hectors Traum gewesen. Und diesem Angebot hatte er tatsächlich nicht widerstehen können. Außerdem blieb ihm noch etwas Zeit, sich endgültig zu entscheiden, denn noch waren sie nicht am Festland angelangt.
Der Weg durch den Golf von Mexiko war zu dieser Jahreszeit nicht leicht. Stürme konnten ein Schiff zum Kentern bringen, noch bevor die Mannschaft überhaupt begriffen hatte, was geschah. Doch Captain Barbossa hielt die Crew und die Queen Anne selbst fest im Griff. Ein Wink mit seinem Schwert, und die Takelage gehorchte ihm, richtete das Segel auf und hielt es in den Wind.
„Diese Art zu Reisen ist wirklich ziemlich angenehm“, stellte Jack nach einer Weile fest, in der er Barbossa zugesehen hatte, wie er die Fleute auf Kurs gebracht hatte. Die Mannschaft hatte so gut wie nichts zu tun und somit war auch eine große Crew völlig überflüssig. Neben Pintell und Ragetti gab es nur noch neun weitere Männer an Bord, die für den Einsatz des Schiffes verantwortlich waren. Und darunter befanden sich auch alte Bekannte. Neben den ehemaligen Leuten von Blackbeard, die den Kampf um die Quelle überlebt hatten, hatten sich auch Mullroy, Murtogg, Marty und Cotton wieder ihrem ehemaligen Captain angeschlossen und waren überaus erfreut darüber, Gibbs und Jack zu sehen.
Bevor Jack hatte reagieren können, hatte Marty ihm einen heftigen Tritt gegen sein Schienbein verpasst, was er natürlich nicht hatte kommen sehen. Der Zwerg war mit seinen knapp eineinhalb Metern so klein, dass er nicht in Jacks Sichtfeld war und sich somit an ihn hatte heranschleichen können. „Aua!“, hatte er lauthals protestiert. „Wofür war das denn? Das hab ich nicht verdient.“ Doch der böse Blick des kleinen Mannes hatte ihn wieder zur Vernunft gebracht. „Na gut, vielleicht hab ich das verdient“, gab er zerknirscht zu. Marty machte einen Schritt auf seinen ehemaligen Captain zu, der vorsichtshalber vor ihm zurückwich. Doch dann griffen seine Hände plötzlich nach Jacks Beinen und umarmten ihn fest. „Wo hast du nur gesteckt?“, schluchzte der Kleine, während er dabei Jacks Hose durchnässte.
Unbeholfen tätschelte er dem Zwerg den kahlen Schädel. „Schon gut, Kleiner. Jetzt bin ich ja wieder da.“
Marty ließ ihn los und wischte sich mit dem Ärmel seines dreckigen weißen Hemdes kurz über das schmutzige Gesicht. „Als Barbossa nach Tortuga kam, haben wir schon gedacht, dass du auch dabei bist. Aber du warst nicht da und Barbossa erzählte etwas von Blackbeard und der Quelle der ewigen Jugend.“ Cotton nickte zustimmend.
Und da auch Pintell, Ragetti, Mullroy und Murtogg ihn abwartend ansahen, hatte Jack die Geschichte erzählt, während Barbossa die Segel gehisst hatte. Nun saßen sie alle gemeinsam an Deck und beobachteten die Wolken, die sich gefährlich am Horizont zusammen brauten.
„Aye“, erwiderte Barbossa Jack gegenüber. „Sobald ich den Säbel ergreife, genieße ich jedes Mal aufs Neue meine Rache an Edward Teach und seiner verfluchten Crew von Missgeburten. Anwesende natürlich ausgeschlossen.“ Den letzten Satz fügte er schnell hinzu, als ihm sein Steuermann Ezekiel einen bösen Blick aus den alten blauen Augen zuwarf. „Ich bin froh, dass ich mich um das Problem mit den Zombies nicht mehr selbst kümmern musste.“
„Was ist mit den Untoten geschehen?“, wollte Gibbs wissen. Er lehnte sich auf den Rand eines Fasses und schaute neugierig zum Captain hoch. Er wusste, dass sie nur Gast auf diesem Schiff waren. Doch trotzdem konnte er Barbossa nicht als seinen Captain ansehen. Das würde immer Jack bleiben.
Barbossa grinste verschlagen, als er Gibbs’ Frage vernahm, und zeigte dabei seine beiden Reihen verfaulter brauner Zähne. „Sind einfach umgefallen, wie Marionetten, denen man die Fäden durchtrennt hat. Ich habe ihre Puppen unter Deck gefunden, doch sie waren nutzlos geworden ohne die Magie von Edward Teach.“
„Magie? Was für eine Art Magie?“ Jack horchte auf. Hatte es nicht auch eine Puppe von ihm gegeben? Wo war sie abgeblieben, nachdem der Zombie sie die Klippe hinunter geworden hatte? Doch offenbar war sie noch intakt, denn sonst wäre er es ganz sicher auch nicht mehr.
Barbossa beugte sich düster vor und sah Jack mit einem zusammen gekniffenen Auge an. „Schwarze Magie, Jack. Was sonst? Teach hat diese Halunken mit Hilfe dieser Puppen versklavt, genauso wie er die Pearl versklavt hat. Doch auch nachdem man einen seiner Offiziere getötet hatte, blieb er stehen, auf seinen beiden Beinen, als wäre nichts geschehen. Da kam ihm die Idee, dass er mit diesen Puppen nicht nur lebende, sondern auch tote Körper kontrollieren konnte.“
Eine Gänsehaut überzog Jacks Rücken. Diese Vorstellung behagte ihm ganz und gar nicht. Was, wenn jemand diese Puppe nun fand, die ihn darstellte, ihn umbrachte und mit der Puppe trotzdem am Leben hielt? Was für ein Leben wäre das wohl?
Andererseits, musste er sich eingestehen, dass es ein unsterbliches Leben wäre, solange er selbst im Besitz dieser Puppe war. Doch wie konnte er darauf hoffen, sie jemals wieder zu finden. Vermutlich war das Spielzeug auf der Insel geblieben, war irgendwo ins Meer gespült oder von einem Fisch verschlungen worden. Doch aus diese Vorstellung wollte ihm nicht so recht gefallen. Also beschloss er einfach, dass er nicht weiter darüber nachdenken würde.
Stattdessen holte er das Glas mit seinem geliebten Schiff hervor und betrachtete das Gewitter darin, wie es immer noch wütete. Den Affen hatte er beinahe schon vergessen, doch er schaffte es immer wieder, ihn zu erschrecken, wenn er in das Glas sah. Allerdings war er dieses Mal nicht der einzige, der einen Blick hinein warf. Cotton stand hinter ihm und wirkte auf einmal ziemlich aufgeregt. Da er jedoch keine Zunge mehr hatte, war es schwer ihn zu verstehen.
Der alte Mann hüpfte zu Jack herüber, sah in die bauchige Flasche hinein und hüpfte wieder zurück. Dann schüttelte er den Kopf, als würde er ein lästiges Insekt verscheuchen wollen. Jack beobachtete ihn dabei. Irgendetwas kam ihm seltsam an dem alten Steuermann vor. Nachdem Ezekiel seinen Platz eingenommen hatte, hatte Barbossa ihn zum Schiffskoch ernannt, und diese Arbeit nahm er wirklich sehr ernst. Alles, was sie bisher an Bord gegessen hatten, war vorzüglich gewesen. Und doch fehlte etwas. Als Jack einen zweiten Blick in die Flasche warf, wusste er plötzlich, was es war. „Nanu, wie ist das denn nur passiert?“
Neugierig kam Gibbs heran, in der einen Hand hielt er einen Apfel, den Barbossa gierig beäugte, und in der anderen eine Flasche Rum. Nachdem Barbossa nun nicht mehr unter der englischen Flagge segeln musste, konnten sie auch wieder nach Herzenslust trinken. „Was ist? Was hast du entdeckt, Jack?“
„Sieh’ dir das an!“ Er hielt seinem alten Freund das Gefäß so dicht unter die Nase, dass Gibbs schielen musste. Als sich seine Augen aber an die Nähe gewöhnt hatten, fiel ihm der frische Bissen aus dem Mund, den er gerade getan hatte. „Potz Donner und Hagelschlag! Cotton, das ist ja dein Vogel da drin!“
Ziemlich untypisch für Gibbs verlor er beinahe die Fassung, als er das sah. Doch dann brach er in schallendes Gelächter aus, was Cotton mit einem finsteren Blick quittierte. „Das glaube ich ja nicht! Was hat denn der Vogel darin zu suchen?“
„Was hat der Affe darin zu suchen?“, stellte Jack die Gegenfrage, die auch niemand beantworten konnte. „Doch eines steht fest: haben wir das Schiff erst mal auf dem Glas befreit, kriegt auch jeder sein Haustier wieder. Bis dahin müssen wir uns eben damit begnügen, dass er nicht viel Verständliches herausbringt.“
Wütend stemmte Cotton die Arme in die Hüfte. Vermutlich hätte er liebend gerne irgendetwas Gemeines erwidert, konnte jedoch aus bekannten Gründen nichts dergleichen tun. Stattdessen sprang Ragetti für ihn die Bresche. „Also wirklich, Captain! Ihr solltet ein bisschen netter zu dem alten Mann sein. Er kann doch nichts dafür, dass man ihm die Zunge herausgeschnitten hat und nur noch mit seinem Papagei sprechen kann.“
Jack war schon dabei, von der Brücke zu gehen, als er auf der obersten Stufe innehielt. Sein Fuß verweilte einen Moment in der Luft, in dem er sich fragte, was er gute Ragetti damit wohl gemeint haben könnte. Dann ging ihm ein Licht auf. Schwungvoll drehte er sich herum, wobei er das Glas sicher zwischen seinem Torso und seinem Arm hielt. „Ersten heißt es durch seinen Papagei sprechen. Und zweiten hab ich gar nicht ihn gemeint, sondern ihn.“ Er wies dabei erst mit dem Daumen auf Cotton und dann auf Barbossa, der seine volle Aufmerksamkeit dem Apfel entzog und sie auf Jack richtete. Mit ein paar schnellen Schritten auf seinem Holzbein war er bei ihm, hatte die wenigen Zentimeter Luft zwischen ihnen überbrückt und hatte seine Nase direkt von Jacks platziert. Leise flüsternd fixierte er ihn. „Sei vorsichtig Jack. Wenn ich will, kann ich dich mit einem einzigen Wink meines Schwertes von Bord fegen.“ Dabei hob er besagten Säbel so in die Höhe, dass er beinahe an Jacks Wange anlag.
Der hob abwehrend die eine Hand, die nicht die Flasche mit der Black Pearl festhielt, und drückte sachte das Schwert nach unten. „Du meinst wohl mit Blackbeards Schwert, Hector. Und mach dir bitte keine Mühe, ich werde freiwillig von Bord gehen – sobald wir die Bayous erreicht haben.“
„Was wollen wir da eigentlich?“, mischte sich nun Marty ein. „Als wir das letzte Mal dort waren, hat uns das nichts als Ärger gebracht. Ich für meinen Teil werde die Hütte dieser gruseligen Alten nicht mehr betreten.“
„Das musst du auch gar nicht.“ Jack wandte sich geschickt aus Barbossas Umarmung heraus und stellte sich wieder so hin, dass er genügend Raum zu ihm hatte. „Falls du dich erinnerst: Tia Dalma gibt es nicht mehr.“
„Aye!“, sagte Gibbs. „Die Göttin hat ihre menschliche Hülle zurück gelassen, um in ihr angestammtes Territorium zurück zu kehren. Doch wenn du nicht zu ihr willst, zu wem willst du dann?“
„Tia Dalma ist nicht die einzige Hexe in den Sümpfen. Und zufällig traf ich letztens meinen Vater, der mir von einer ähnlich begabten Zauberin erzählte. Sie wird uns verraten können, wie wir dieses Prachtexemplar von einem Schiff aus diesem unwürdigen Gefängnis befreien und wieder auf die sieben Weltmeere loslassen können!“
„Dann solltest du dir schon mal überlegen, was du ihr erzählen willst.“ Gibbs’ Stimme wurde mit einem Mal düster und unheilvoll, wie es immer war, sobald er eine von seinen Geistergeschichten zum Besten gab. Doch dieses Mal schwang ein Unterton bei ihm mit, den selbst Jack nicht kannte.
Dieses Unbehagen ließ ihn sich zu Gibbs umdrehen, der jedoch an ihm vorbei starrte, die Augen weit aufgerissen hatte und schwer schluckte. Jack und die anderen folgten seinem verstörten Blick und sahen, was auch er sah: ein gewaltiger Fluss ergoss sich aus den Bergen ins Meer hinein, schlängelte sich träge und unendlich langsam durch haushohe Bäume, verwachsene Sträucher und unter gewaltigen Wurzeln hindurch. Die Sonne war beinahe untergegangen und tauchte die ganze Szenerie in ein unheimlich grünlich wirkendes Licht, was Jack unweigerlich an die Flying Dutchman denken ließ.
Zwischen dem Geäst und den Blättern glommen mit jeder Sekunde, in der das natürliche Licht zu schwinden schien, mehr und mehr Lampen auf, die hin und her schaukelten. Nebel wälzte sich aus dem Urwald heraus und ergoss sich in die Bucht, die sich vor ihnen auftat, sodass sie kaum erkennen konnten, ob sich unter ihnen im Wasser ein Felsen befand oder nicht. Und ein einsames Boot schaukelte aus dem Fluss hinaus in die Bucht, steuerte führerlos auf die Queen Anne zu und stieß schließlich sachte gegen den Rumpf des Schiffes.
Gibbs schluckte noch einmal. Die Zeit verging an manchen Orten wohl anders als an anderen. „Denn wir sind schon da. Und offenbar erwartet man uns.“