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Kapitel 10

 

~ Angelica’s Lament

 

Sanft spülte das Meer kleine Wellen an den Strand von Sola Fide, brachte kleine Schätze mit oder verschwand wieder, ohne auch nur ein Zeichen da zu lassen. Nur für kurze Zeit zeugte eine leichte Welle im weißen Sand davon, dass die See bis hierher vorgedrungen war, dann wurde sie verwischt und machte einer neuen Welle Platz.

 

Angelica hockte auf einer kleinen Anhöhe und starrte gelangweilt auf das Meer hinaus, beobachtete das Spiel der Wellen, das Auf und Nieder der Schaumkronen, und malte sich aus, sie könnte einfach dort hinausschwimmen und ihrem Gefängnis entkommen. Seit beinahe einem Tag war sie nun schon hier und hasste es seit der ersten Minute. Hätte sie Jack doch nur mit diesem einen Schuss in ihrer Pistole erwischt und ihn getötet! Dann hätte sie mit dem Boot davon rudern können und hätte seine verrottende Leiche hier liegen lassen.

 

Was hatte dieser Hijo de puta ihr nur angetan bisher in ihrem Leben? Doch sie wischte diesen Gedanken gleich wieder fort, denn sie würde nicht lange genug am Leben bleiben, um sich alle diese Geschichten noch einmal ins Gedächtnis zu rufen. Ihr blieben, wenn es gut lief, noch drei weitere Tage. Wenn es schlecht lief, würde sie übermorgen schon tot sein. Und dann hätte sie noch nicht einmal die Chance bekommen, sich an Jack zu rächen.

 

Bei dem Gedanken an Rache fiel ihr die Puppe wieder ein. Sie warf einen kurzen Seitenblick neben sich, wo der kleine Jack Sparrow im Sand lag und mit seinen starren Augen zu ihr hochsah. Die Arme hatte er weit von sich gestreckt, die Beine lagen unmotiviert nebeneinander. Ihr Vater hatte sogar an das rote Kopftuch gedacht, als er die Puppe gemacht hatte. Nur der Hut fehlte, doch ansonsten war es eine perfekte Kopie des echten Jack.

 

Noch immer ragte die Nadel aus Muschel aus dem Körper, an der Stelle, wo normalerweise das Herz saß. Eigentlich hatte sie gehofft, er würde innerhalb von nur wenigen Stunden zu ihr zurückkehren, doch dem war nicht so gewesen. Er hatte sich nicht blicken lassen, so oft sie ihn auch gestochen hatte. Langsam bezweifelte sie, dass die Magie der Puppe überhaupt noch wirkte. Vielleicht war sie mit dem Tod ihres Vaters verloren gegangen und hatte sich in Nichts aufgelöst, genauso wie die Mannschaft der Queen Anne’s Revenge. Auch die Offiziere waren mit diesen Puppen kontrolliert worden. Bis Blackbeard herausgefunden hatte, dass er seine Offiziere töten konnte und sie trotzdem noch für ihn arbeiteten. Solange er nur die Puppen bei sich hatte.

 

Doch ihr Vater war tot, ermordet von dem Mann, dem sie vertraut, dem sie ihre Unschuld geschenkt hatte.

 

Wütend krallten sich ihre Hände in den warmen Sand unter sich, bis sie dachte, sie müsse ihn durch ihre innere Hitze zu Glas verwandeln. Ihre Gedanken drehten sich nur noch darum, was vor ein paar Tagen geschehen war, wie Jack Edward Teach das Leben entrissen hatte, um es ihr zu schenken. Doch sie hatte dieses Geschenk gar nicht gewollt. Im Gegenteil, sie hatte ihrem Vater ihre Jahre geben, hatte ihm dadurch das Leben retten wollen, damit seine Seele endlich Frieden finden konnte.

 

Wie oft hatte sie dafür gebetet, dass er in den Himmel kommen würde nach seinem Tod. Doch ihr Vater hatte davon nichts hören wollen. Ihm war es egal gewesen, in welchem Zustand seine Seele sich befunden hatte.

 

Manchmal hatte sie an ihm gezweifelt, an seiner Aufrichtigkeit ihr Gegenüber und seiner Ehrlichkeit. Hatte er sie damals wirklich nur ins Kloster gebracht, damit jemand für sie sorgte, während er auf See war und Beutezug betrieb? Oder hatte er sie einfach nicht bei sich haben wollen, weil er mit einem Kind nichts anfangen konnte?

 

Ihre Mutter war jung verstorben und so hatte sie sie nie richtig kennenlernen können. Mit vier Jahren war sie schließlich nach Sevilla gebracht worden, um dort bei den Nonnen des Konvents unterzukommen. Erst hatte sie sich nicht richtig einfügen können, daran konnte sie sich noch erinnern. Doch irgendwann war das Leben dort nicht mehr so fremdartig gewesen und sie hatte sich sogar dort sehr wohl gefühlt. Über ihren Vater hatte man ihr wenig erzählt. Vielleicht, um sie zu schützen. Vielleicht auch, weil niemand es wirklich wusste. Doch wenn sie die Mutter Oberin nach ihm gefragt hatte, war sie ihren Fragen immer ausgewichen und hatte behauptet, er wäre ein ehrenwerter Seemann, der sein Geld mit ehrlicher Arbeit verdienen würde. Immerhin würde er jedes Jahr zu ihrem Geburtstag ein bisschen Geld schicken.

 

Über die Jahre hinweg hatte sie ihren Vater schließlich vergessen, hatte die Erzählungen über ihn geglaubt und das Geld akzeptiert. Bis Jack gekommen war. Er hatte sie aus dem sicheren Hafen den Konvents entführt, ihr alles genommen, woran sie geglaubt hatte, und in eine Welt gebracht, die wie für sie gemacht zu sein schien. Und wie hatte sie ihn dafür gehasst.

 

Als sie schließlich irgendwann erfahren hatte, wer ihr Vater wirklich war, hatte sie ihn finden wollen. Da hatte es sie und Jack bereits nicht mehr gegeben, denn es konnte nicht lange gut gehen, dass zwei Sturköpfe wie sie so eng aufeinander hockten. Doch sie hatte viel von ihm gelernt und hatte nie vergessen, was er für sie getan hatte.

 

Immer noch wütend stand sie auf, ging zu den Palmen hinüber, die spärlich in der Mitte der winzigen Insel wuchsen, und nahm im Schatten Platz. Wenn sie kein Glück hatte, würde sie in den nächsten Tagen nicht mehr lebend gefunden werden können. Kurz dachte sie daran, die wenigen Gewächse, die es hier gab, zu verbrennen, um somit ein Signal an alle Schiffe in der Nähe zu senden. Doch womit sollte sie Feuer machen?

 

Angst davor, wer sie finden könnte, hatte sie eigentlich nicht. Wieso auch? Entweder sie starb hier ohnehin, verdurstete kläglich mitten im Meer, oder sie wurde von anderen Piraten gefunden, die sie vielleicht umbrachten. Oder die Engländer fanden sie, diese piekfeinen dressierten Affen in ihren perfekten Uniformen, steckten sie unter Deck und brachten sie zurück in ihr Heimatland, um sie dort vor ein Gericht zu stellen und schließlich zu hängen. So oder so war sie zum Tode verurteilt.

 

Dieser Gedanke versetzte sie nicht so in Schrecken, wie er vielleicht sollte. Doch sie hätte noch vor ein paar Tagen ihr Leben gerne für das ihres Vaters gegeben, war bereits gewesen zu sterben. Wieso sollte sie nun Angst davor haben? Das einzige, was sie bereute, war, dass sie sterben würde, ohne Jack Sparrow mit in den Tod genommen zu haben.

 

Wieder fiel ihr Blick auf die Puppe. Sie lag einsam und verlassen am Strand herum, während sie selbst nur wenige Meter entfernt im Schatten saß, die Knie an die Brust gezogen und die Arme um die Knie gelegt hatte. Ihre Weste hatte sie gestern schon abgelegt, weil es ihr zu warm geworden war. Sie trug jetzt nur noch ihre weiße Bluse und die Kniebundhose, mit der er sie hier abgesetzt hatte. Die Pistole lag, wertlos geworden, fast im Wasser und gammelte vor sich hin. Es gab ja nicht einmal Tiere, die sie hier hätte schießen können. Mal abgesehen davon, dass sie ihre einzige Kugel auf Jack abgefeuert hatte, als er sie hatte hier sitzen lassen. Hätte sie nur besser gezielt.

 

Ein lauter spanischer Fluch löste sich von ihren Lippen und sie schlug mit den Fäusten in den Sand, bis sie das Gefühl hatte, keine Kraft mehr zu haben. Dann ließ sie sich erschöpft zurück sinken. „Ganz ruhig, Angelica“, ermahnte sie sich selbst. „Spar dir deine Kräfte. Vielleicht wirst du sie noch brauchen.“ Es entsprach eigentlich nicht ihrem Wesen, sich zurück zu halten, doch in dieser ganz speziellen Situation war es vielleicht angebracht, einmal aus den alten Mustern auszubrechen.

 

Um sich abzulenken stand sie auf und marschierte ein paar Mal um die Insel herum. Allerdings lenkte sie das bei der Größe der Insel nicht sehr lange ab und ihre Gedanken begannen wieder zu kreisen. Langsam machte sich auch der Hunger in ihr breit und ihr Magen begann bedenklich zu Grummeln. Suchend ging sie um jede Palme herum, in der Hoffnung, irgendwo eine Kokosnuss zu finden, hatte jedoch keinen Erfolg. Bei der allerletzten Palme, die sie umrundete, entdecke sie allerdings etwas.

 

Konnte das vielleicht ihre Rettung sein, die sie einen Tag länger am Leben ließ?

 

Sie lief zum Strand zurück und packte ihre Weste. Diese tauchte sie ein paar Mal ins Meer, bis sie völlig durchnässt war, danach wrang sie sie aus und lief zu der Palme zurück, in der sie eine einzige winzige Frucht entdeckt hatte. Sie schlang den nassen Stoff um den Stamm, stemmte ihre Füße dagegen und zog sich hoch. Ihre nackten Sohlen rissen an dem rauen Holz auf, doch sie ignorierte den Schmerz, schob die Weste wieder ein Stück höher und zog sich erneut daran hoch.

 

Langsam kletterte sie Stück für Stück höher, bis sie das Gefühl hatte, ihre Arme würden ihr abfallen. Sie hatte Seitenstechen und ihre Zunge fühlte sich an wie ein Lederlappen, der schwer in ihrem Mund lag. Ihre Füße waren glitschig von dem Blut und sie drohte bei jedem weiteren Schritt wieder abzurutschen, doch sie konnte die Kokosnuss nun beinahe anfassen, so nah war sie schon dran. Aufgeben war nun keine Option mehr.

 

Mit letzter Kraft packte sie die unteren Palmenwedel, schnitt sich die Handfläche an den scharfen Kanten auf und kattete sie nach oben. Sie packte mit der anderen Hand die Frucht und riss daran, bis sie sich endlich löste. Mit einem leisen Plopp ließ sie sie glücklich unter sich in den Sand fallen. Als sie noch einmal nach oben blickte, sah sie, dass eine zweite Frucht direkt dahinter lag. Sie musste sich ein bisschen strecken, doch sie konnte sie ebenfalls pflücken und nach unten werfen. Dann begann sie mit dem Abstieg.

 

Als sie wenig später völlig erschöpft am Stamm lehnte, die bluten Sohlen mit Sand verkrustet, verfluchte sie sich selbst für diese sinnfreie Aktion. Damit hatte sie vermutlich mehr Energie eingesetzt, als sie durch die beiden Nüsse wieder zu sich nehmen konnte. Doch jetzt war es zu spät. Sie hatte ja nicht ahnen können, dass so schwer werden würde.

 

Erst nach ein paar Minuten hatte sich ihr Herzschlag wieder einigermaßen beruhigt. Nun sammelte sie die beiden Nüsse auf und suchte nach einer geeigneten Art, die harte Schale zu knacken. In dem Gestrüpp wurde sie schließlich fündig, als sie auf eine kleine Ansammlung von Steinen stieß, die jemand hier als Ballast irgendwann einmal abgeworfen haben musste. Sie legte also eine Nuss auf einen der größeren Brocken, griff nach einem etwas kleineren und ließ ihn auf die harte Schale krachen, solange, bis sie nachgab und splitterte.

 

Schnell hob sie die Frucht auf, hielt sie sich über den Kopf und ließ den süßen Saft auf ihre Lippen tropfen. Sie saugte an dem Riss, der entstanden war, bis alle Flüssigkeit offenbar weg war. Dann brach sie die Nuss vollständig auf. Es dauerte noch eine Weile, bis sie die ersten Bissen des noch etwas bitteren Inneren genießen konnte, doch sie hatte das Gefühl, nie etwas Köstlicheres gegessen zu haben.

© by LilórienSilme 2015

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