LilórienSilme
~ Fanfiction-Autorin ~
Kapitel 9
~ Born this Way
Give yourself prudence
And love your friends
Subway kid, rejoice your truth
Vier Wochen später, etwa Ende Februar, hatte sich die Situation bei Joe zu Hause nicht entspannt. Emily war zwar nach einer Woche in Selbstmitleid baden wieder arbeiten gegangen, doch das bedeutete nicht, dass sie auch Ordnung in Joes kleinem Häuschen hielt. Ihre Gedanken waren noch immer bei Mike, den sie mittlerweile begonnen hatte aus tiefster Seele zu hassen. Für etwas anderes als das und ihre Arbeit war in ihrem Kopf zu diesem Zeitpunkt kein Platz.
Joe dagegen räumte hinter ihrer Freundin her, so gut sie konnte. Wenn sie abends erschöpft von der Arbeit mit ihrem Fahrrad nach Hause kam, weil Emily sich das Auto genommen hatte, musste sie meist noch die Reste vom Frühstück beseitigen, ihre Katzen füttern, das Katzenklo säubern, aufräumen und Essen kochen. Wenn noch für etwas anders Zeit war, als für die eigenen Bedürfnisse im Badezimmer, schaffte Joe es meist kaum, die Sache zu Ende zu bringen, bevor ihr müde die Augen zufielen.
Emily ihrerseits verkroch sich, sobald sie zu Hause war und das gegessen hatte, was gekocht worden war, in Joes Gästezimmer, das diese, seitdem ihre Freundin dort eingezogen war, nicht mehr betreten hatte. Sie hatte viel zu große Angst davor, was sie dort erwarten könnte, wenn sie die Tür öffnete. Vermutlich wären die Wollmäuse gerade dabei Selbstmord zu begehen.
Doch Emily die Wahrheit sagen, was sie tatsächlich über die derzeitige Situation dachte, konnte Joe nicht. Jedes Mal, wenn sie ansetzte und dann in die traurigen Augen ihrer einzigen Freundin sah, schluckte sie ihre Wut hinunter und sagte stattdessen nichts. Sie wusste genau, wie falsch das war und dass es sie vermutlich eines Tages ihre Kreativität kosten könnte, doch ihr fehlte einfach das dafür nötige Konfliktpotenzial.
In Folge dessen versuchte sie sich so weit in die Arbeit zu stürzen, wie es nur möglich war. Seitdem Graham bei ihr gewesen war, hatte sie Galadriels Outfit endlich fertig gemacht. Das Kleid und der Mantel waren perfekt geworden und wenn Cate Blanchett bald nach Neuseeland kam, um es anzuprobieren - und sie nichts Wesentliches an ihrer Figur verändert hatte -, würde es auch perfekt passen.
Doch nicht nur Cate hatte endlich zugesagt, noch einmal in ihre alte Rolle zu schlüpfen. Auch Hugo Weaving würde bald eintreffen und Elronds Kostüme anprobieren wollen, denn die Aufnahmen in Bruchtal waren für den ersten Drehblock geplant.
Ein paar Tage später kehrte Pete endlich wieder aus dem Krankenhaus zurück. Er war dünner geworden, doch er hatte endlich wieder Farbe bekommen und das so berühmte Funkeln in seinen Augen war zurückgekehrt. Abgesehen von den Kilos, die er in diesem einen Monat verloren hatte, war er wieder ganz der Alte.
Nach der kleinen Konferenz, die er anlässlich seiner Rückkehr gegeben hatte, wurden neue Drehpläne herumgereicht. Joe erhielt auch einen, obwohl sie mit den Drehs selbst gar nichts zu tun haben würde. Vermutlich würde sie nur zwischendurch ein paar Kostüme flicken oder neu machen müssen, wenn etwas kaputt ging. Doch ansonsten konnte sie sich völlig aus dem ganzen Chaos heraushalten. Und das erleichterte sie schon sehr. So innig sie ihre Arbeit und das, was sie hier mit ihren eigenen Händen schuf, auch liebte, sie konnte sich nicht im Entferntesten vorstellen, auch nur zum Teil an den eigentlichen Dreharbeiten mitzuwirken.
Ihre neuesten Entwürfen waren von Pete bereits an seinem Krankenbett abgesegnet worden, trotzdem wollte er sich das Ganze noch einmal live ansehen. Daher rief er nach der Konferenz Joe, Ann, Bob und Richard zu sich und begab sich mit seinen vier großen Kostümdesignern in das große Atelier.
Natürlich versuche Joe sich bei der Besprechung, die sie zusammen mit Fran und Philippa führten, so weit wie möglich im Hintergrund zu halten. Doch als es schließlich dazu kam, sich die neuen Elbenkostüme anzugucken, wurde sie förmlich von Richard nach vorne geschoben.
Mittlerweile kannten sie alle Joes Eigenart, sich am liebsten vor allem zu verstecken, doch darauf konnte Pete in diesem Stadium der Produktion keine Rücksicht nehmen. Unverwandt sagte er daher: „Zeig mir bitte Galadriels Kleid!“
Zögerlich tat Joe, wie ihr geheißen wurde, und führte sie alle in ihr eigenes Atelier. Ann und Bob versuchten sie so gut es ging zu unterstützen, doch Petes spezielle Fragen konnten auch sie nicht beantworten. Es war schwierig, aus Joe die Informationen herauszubekommen, die er benötigte, um sie an Cate Blanchett weiterzugeben, und am Ende beschloss er, sie einfach hierher zu schicken, sobald sie in Neuseeland eingetroffen war. Das sagte er auch Richard und verließ dann wieder die kreative Werkstatt, Fran und Philippa, die sich beide einen bedeutungsschwangeren Blick zuwarfen, im Schlepptau.
Als sich die Tür hinter den dreien geschlossen hatte, sank Joe den Tränen nahe auf dem Fußboden zusammen. Sie barg ihr Gesicht in den Händen, damit niemand sehen konnte, dass sie fast am Heulen war, doch das war gar nicht mehr nötig. Ann kniete sich sofort neben ihre junge Kollegin, während Richard und Bob verlegen dastanden und sich unsicher ansahen.
Joe spürte einen Arm um sich gelegt und sah erschrocken auf. Noch nie hatte jemand fremdes sie so einfach berührt. Nicht, dass Ann noch fremd für sie war, doch bisher hatte die beiden Frauen kein besonders enges Band der Freundschaft miteinander verbunden. Und trotzdem fühlte es sich sehr, sehr gut und vor allem beruhigend an. Erschöpft lehnte die Jüngere ihren Kopf an die Schulter der Älteren und seufzte tief. „Es tut mir leid“, flüsterte sie.
„Ach, Liebes!“, sagte Ann, legte eine Hand an Joes Wange und begann sie zu streicheln. „Dir muss überhaupt nichts leid tun! Peter ist dir sicher nicht böse. Er steht nur wahnsinnig unter Zeitdruck. Mach dir deswegen keinen Kopf. Er weiß deine Arbeit auf jeden Fall zu schätzen. Nicht wahr, Männer?“
Bestätigend nickten die beiden, sagten jedoch lieber nichts, weil sie Angst hatten, dass Joe bei jedem falschen Wort sofort in Tränen ausbrechen könnte. Sie schien jedenfalls nicht mehr weit davon entfernt zu sein. Daher ergriff Richard lieber die Flucht, entschuldigte sich und zog Bob gleich mit sich, damit er sich nicht auch eine Ausrede einfallen lassen musste.
Den beiden Frauen war es jedoch nur ganz recht. Ann zog Joe wieder auf die Beine und drückte sie auf den Schreibtischstuhl. „Tief einatmen“, sagte sie und Joe tat es. „So, und jetzt machst du dich einfach wieder an die Arbeit, bis Feierabend ist. Okay? Und dann gehst du nach Hause und vergisst das alles, entspannst dich etwas und...“
Doch weiter kam Ann nicht, denn ihre Kollegin brach nun doch in Tränen aus. Erschrocken trat sie erst einem Schritt zurück, weil sie befürchtete, sie wäre Joe vielleicht auf den Fuß getreten, doch als sie merkte, dass es daran nicht liegen konnte, nahm sie die junge Frau erneut in den Arm, drückte den blonden Schopf an ihre Brust und wiegte sie wie ein kleines Kind. Dabei machte sie immer wieder „Scht, scht“, doch erst nach einer ganzen Weile beruhigte Joe sich wieder.
Entschlossen wischte sie sich die Tränen ab und befreite sich aus der liebevollen Umarmung. „Schon gut“, sagte sie leise, „es ist gar nichts.“ Der streng strafende Blick von Ann brachte sie jedoch sofort wieder zum Einlenken. So einen Ausdruck hatte sie das letzte Mal in den Augen ihrer Mutter gesehen. „Ich bin nur etwas erschöpft, sonst nichts!“ Sie hob abwehrend die Hände, doch Ann ließ sich nicht beirren.
Sie nahm nun ihrerseits auf dem Stuhl Platz und klopfte auf ihren rechten Oberschenkel, zum Zeichen, dass sich Joe dort hinsetzen sollte. Das kam ihr etwas übertrieben vor, doch schließlich tat sie es doch. Vermutlich hätte sie einem erneuten Blick aus Anns Augen nicht standhalten können.
„Es ist wegen Emily, oder?“
Joe nickte. „Ja.“ Und nachdem sie tief Luft geholt hatte, redete sie sich endlich alles von der Seele, was sich dort seit nun mehr 5 Wochen angesammelt hatte. Als sie fertig damit war, stand sie wieder an ihrem großen Tisch und spielte gedankenverloren mit einem Stoffrest, der dort noch von Tauriels Mantel herumlag. „Aber das könnte ich ihr niemals sagen“, endete sie. „Dazu fehlt mir einfach der Mut.“
„Kindchen, ich weiß, dass das nicht leicht für dich ist. Aber du hast es doch gerade mir erzählt. Vielleicht stellst du dir einfach vor, dass du es mir noch mal erzählst, während du es aber eigentlich ihr erzählst.“
„Und was ist, wenn sie dann in Tränen ausbricht? Dann bin ich dafür verantwortlich, dass sie traurig ist. Und eigentlich ist sie doch erst zu mir gekommen, weil sie sich bei mir Unterstützung erhofft hat.“
Ann seufzte tief. „Aber Unterstützung heißt nicht, dass du dein Leben komplett für sie aufgeben sollst.“ Sie erhob sich und kam zu Joe herüber. „Hör mal, du hast es doch sowieso schon nicht leicht mit deiner Persönlichkeitsstörung - wenn ich das mal so salopp sagen darf.“ Joe nickte nur, zu müde und erschöpft, um sich darüber aufzuregen. Immerhin hatte Ann ja auch vollkommen Recht. Sie hatte eine Persönlichkeitsstörung.
„Du solltest dir nicht mehr aufladen, als du tragen kannst. Verstehst du mich?“
Wieder nickte sie. Natürlich verstand sie das. Sie wusste genau, was sie eigentlich tun sollte. Doch ihr innerer Schweinehund, der, der ihr immer wieder sagte, dass sie schwach und dumm und unnütz war, hielt sie davon ab, jegliche Konfrontation zu suchen. Sie konnte sich nicht einmal dazu überwinden, an der Kasse im Supermarkt fehlendes Wechselgeld zu reklamieren. Wie sollte sie dann ihrer einzigen Freundin sagen, dass sie sich von ihr ausgenutzt fühlte? Dass Emily sich gefälligst endlich eine eigene Wohnung suchen und ihr Leben wieder in den Griff kriegen sollte. Dass sie Mike vergessen und neu anfangen musste. Dass sie endlich, endlich ausziehen musste! Wie sollte sie ihr das nur sagen, wenn sie dabei in Emilys traurige Augen blicken musste und sie wissentlich verletzten würde?
Als Ann gegangen war, starrte Joe noch eine ganze Weile vor sich hin. So eine Situation hatte sie noch nie erlebt. Nicht einmal Denver hatte sie so sehr in die Enge treiben können. Und Denver hatte eine Menge seltsamer Dinge getan, die Joe einfach nicht in den Kram gepasst hatten. Als beste Freundin war sie schon eine Plage gewesen damals in der Schulzeit. Doch was hätte Joe nicht alles dafür gegeben, sie nun bei sich zu wissen?
Das letzte Mal hatte sie vor einem halben Jahr mit ihr Kontakt gehabt. Da war sie mit ihrer Band durch Asien getourt, hauptsächlich in Russland als Vorband einer ziemlich bekannten Metall-Gruppe aus Deutschland. Denver hatte fast nur von dem Gitarristen schwärmen können, wie er die Saiten streichelte und dem Instrument Töne entlockte, die sie noch nie zuvor gehört hatte. Dummerweise war der Mann schon um die vierzig, verheiratet und hatte vor kurzem einen kleinen Sohn bekommen. Doch das hatte Denver nicht davon abgehalten, ihm trotzdem jedes Mal zu lauschen, wenn er nach der Gitarre griff.
Aber dann waren die Emails immer weniger geworden. Vermutlich war einfach zu viel zu tun gewesen. Und sie hatte ihr noch gar nicht richtig von ihrem neuen Job berichten können, den sie hier in Wellington gefunden hatte. Sie wusste im Moment nicht einmal mehr, wo auf der Welt Denver gerade überhaupt war und wann sie wieder nach Hause kommen würde.
Am liebsten hätte sie ihr geschrieben und sie gefragt, doch irgendetwas hielt sie davon ab. Vermutlich hätte Denver die Mail sowieso nicht gelesen, weil sie jede Nacht auf der Bühne stand.
Als der gefühlt einsamste Mensch auf Erden kehrte Joe am Abend nach Hause zurück und fand dort dasselbe Chaos vor, das sie heute Morgen verlassen hatte. Zu Tode erschöpft ignorierte sie alles, was irgendwo herumlag, wankte die Treppe hoch in ihr Schlafzimmer, schloss die Tür sorgfältig ab und öffnete die Schublade ihres Nachttisches. Sie hatte die Dinger schon lange nicht mehr benutzt, doch heute war vielleicht der Tag gekommen, da sie noch einmal nützlich sein könnten. Und weil morgen Samstag war und sie nicht arbeiten musste, würde es auch niemandem auffallen, wenn sie nicht da war.
Mit einem erleichterndes Gefühl schloss die die Vorhänge vor ihren Fenstern, ignorierte dabei die fröhlichen Farben, die ihr entgegen leuchteten, kroch in Unterwäsche unter ihre Decke, die für den Sommer, der im Moment auf dieser Halbkugel der Erde herrschte, eigentlich viel zu warm war, schlug sich ein paar Kissen zurecht und legte sich gemütlich hin. Dann nahm sie die Ohropax zur Hand, zerdrückte das Wachs, bis es weich und formbar war, und stopfte sie sich soweit in die Ohren, bis sie nichts mehr hören konnte.
Sie war sich der Gefahr bewusst, dass in der Zeit ihrer „Abwesenheit“ ihr geliebtes kleines Häuschen in Schutt und Asche gelegt werden könnte von ihrer Freundin, doch heute Nacht wollte sie nur noch schlafen. Sie wollte so lange schlafen, bis sie nicht mehr müde war. Und am liebsten wäre sie erst dann wieder aufgewacht, wenn alles sauber und ordentlich wäre. Doch vermutlich hätte sie dann nie wieder aufwachen dürfen.
Es dauerte auch eine Weile, bis sie endlich schlafen konnte, denn sie glaubte immer wieder, Geräusche zu hören. Doch nach einer Weile begriff sie, dass sie sich das nur einbildete. Mit den Dingern im Ohr konnte sie rein gar nichts mehr hören. Es hätte neben ihr eine Bombe explodieren können und sie hätte es nicht gemerkt. Und endlich, nach gefühlt zwei Stunden des Herumwälzens und Wachliegens, überkam sie die Schwere des Schlafes.
Aber schon nach zwei Minuten war sie wieder wach. Ihre Beine und Arme fühlte sich an, als hätte man ihr Blei daran gehängt. Ihr Gehirn funktionierte nicht richtig und sie glaubte, von einem LKW überfahren worden zu sein, so schlapp und ausgelaugt kam sie sich vor. Und über allem schwebte schwer das riesige Loch in ihrem Bauch.
Als der Hunger so unerträglich wurde, dass sie es nicht mehr länger aushielt, machte sie ihre Ohren wieder frei.
Das erste, was sie hörte, war das klägliche Miauen von Kaiser, der vor ihrer Tür saß und mit der Pfote gegen das Holz kratzend um Einlass bat. Das hätte sie eigentlich wissen müssen, denn der Kater konnte eine geschlossene Schlafzimmertür absolut nicht ausstehen. Er schlief zwar auch nicht bei ihr im Bett, doch Joe hatte manchmal das Gefühl, dass er die Kontrolle über ihren Schlaf brauchte, um zu wissen, dass sie nicht einfach so gehen würde, dass sie bei ihm blieb. Und irgendwie konnte sie den verrückten Kater da voll und ganz verstehen.
Also schwang sie schließlich die schweren Beine aus dem Bett, tappte zum Fenster und öffnete die Vorhänge. Die Sonne stand hoch am Himmel, was sie im ersten Moment ziemlich verwirrte. Doch dann überlegte sie, dass sie vermutlich doch länger geschlafen hatte, als sie dachte. Scheinbar waren es mehr als nur zwei Minuten gewesen. Es mussten mindestens zwölf Stunden gewesen sein.
Seltsam, dachte sie, zuckte dann aber mit den Schultern und tat es ab. Sie streifte sich schnell einen Bademantel über, dann öffnete sie dem quäkenden Tier die Tür.
Sofort stürmte er an ihr vorbei, huschte einmal um ihre Beine, sprang dann auf ihr Bett und sah sie an, als wollte er ihr sagen: Warum, zum Teufel, hat das denn so lange gedauert? Ich hab mir schon Sorgen um dich gemacht! Tu das nie wieder!
Resignierend nahm Joe neben dem großen Knubbel Platz und streichelte ihn liebevoll. „Schon gut, Großer“, sagte sie. „Es tut mir leid. Ich werde die Türe nie wieder abschließen!“ Danach nahm sie ihn mit nach unten, ignorierte dabei geflissentlich das Durcheinander, das noch immer herrschte, und füllte die leeren Näpfe der beiden Kater auf.
Nach einem Blick auf den digitalen Kalender in der Küche musste sie allerdings feststellen, dass sie mehr als nur zwölf Stunden geschlafen hatte, denn es war bereits Sonntagmittag. Mit einem erneuten Schulterzucken nahm sie auch das zur Kenntnis und setzte sich zwischen die ganzen Kissen, die noch immer total unordentlich und kreuz und quer in der Gegend herum lagen, und schaltete den Fernseher ein. Heute würde sie keinen Handschlag mehr tun.
Als der Hunger schier übermächtig wurde, schaltete sie ihren Laptop ein und bestellte sich online eine Pizza, die sie auch bis auf den letzten Bissen verdrückte. Später, als es wieder langsam dunkel wurde, kroch sie zurück ins Bett. Von Emily hatte sie den ganzen Tag über weder etwas gesehen, noch etwas gehört. Doch es war ihr auch ganz recht so. So hatte sie endlich mal wieder das Gefühl gehabt, ihr Haus gehörte ihr ganz alleine.
Es fiel ihr nicht ganz leicht, am nächsten Morgen einfach so aus dem Haus zu gehen, ohne etwas aufgeräumt zu haben. Normalerweise war sie ein sehr ordentlicher Mensch, der schon beinahe als pedantisch bezeichnet werden konnte. Doch bisher war niemand nahe genug in ihre Privatsphäre vorgedrungen, um das festzustellen. Jemanden nun bei sich wohnen zu haben war eine völlig neue Erfahrung für Joe und es behagte ihr so gut wie überhaupt nicht. Sie mochte es nicht, wenn sich jemand ihr so sehr näherte. Doch Emily rauswerfen konnte sie auch nicht. Darüber hatte sie ja schon weiß Gott genug nachgegrübelt. Sie würde einfach warten müssen, bis sich das Problem von selbst löste.
Auf der Arbeit konnte sie das, was sie zu Hause erwartete, auch ganz gut ausblenden, indem sie sich völlig auf die Kostüme stürzte und darin aufging. So war es auch kein Wunder, dass sie bald mit allem fertig war und Richard zu ihr kam, um ihr eine neue Aufgabe zu geben.
Der kreative Kopf hinter all dem zog anerkennend die Augenbrauen hoch, als er sah, was Joe vollbracht hatte. Wenn ein Teil der Elbendarsteller bald eintreffen würden, könnten sie gleich alles anprobieren.
„Das sieht wirklich gut aus“, lobte er sie. Seine langen Finger strichen zärtlich über eines von Tauriels Klamotten. Sie hatten der Lederkorsage zuerst vorn eine Schnürung verpassen wollen, doch Joe hatte das nicht gefallen, weil sie fand, dass das nicht zu den Elben passte. Genau wie ihre Bauwerke musste sich auch ihre Kleindung perfekt an alles anpassen, ohne dass es gezwungen aussah. Mit einer Schnürung dort, wo man sie sehen konnte, wirkte es nicht grazil genug. Daher hatte sie sie durch kleine Haken im Rücken ersetzt, die von der hüftlangen roten Perücke, die Evangeline Lilly tragen sollte, vollständig verdeckt sein würden.
Ob der positiven Äußerung schoss Joe gleich wieder das Blut in die Wangen und ihre Ohren begannen ebenfalls rot zu glühen. Sie hasste es, wenn das passierte, doch mittlerweile konnte sie Lob schon besser wegstecken. Früher in der Schule hatte sie sich immer sofort verarscht gefühlt, wenn jemand ihr gesagt hatte, dass sie etwas gut gemacht hatte. Heute konnte sie es schon fast glauben.
Darauf etwas erwidern konnte sie aber immer noch nicht. Deswegen schwieg sie einfach und wartete darauf, dass Richard noch etwas sagen würde. Das tat er auch, doch anders, als sie es erwartet hatte. „Pete hat mich gebeten dir zu sagen, dass du dein Atelier verlegen sollst.“
Ihre Kinnlade klappte herunter. Hatte sie vielleicht doch etwas falsch gemacht? War der Regisseur wütend auf sie, weil sie letztens nicht mit ihm gesprochen hatte? Oder wollte er ihr damit sogar durch die Blume sagen, dass er sie rausschmiss? Wollte er ihr Atelier auf die Straße verlegen oder zu ihr nach Hause? War etwas mit Grahams Kostüm? Hatte sie ein Konzept nicht beachtet und damit die Preproduction zum Stocken gebracht?
Tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf, als Richard sich langsam zu ihr umdrehte. Er sah den entsetzten Gesichtsausdruck, wie sie ihn mit ihren großen Augen anstarrte, das Grün der Iris unnatürlich hell, und sofort bereute er es, den ersten Satz in einem Rätsel ausgesprochen zu haben.
Er beeilte sich daher, zu sagen: „Er möchte, dass du ins Art Department auf dem Gelände der Stone Street Studios ziehst. Er braucht jemanden vor Ort, der sich mit den Kostümen auskennt und notfalls auch sofort eingreifen kann, wenn etwas kaputt geht. Es macht keinen Sinn, dass du hier bei Weta sitzt und man dich erst anrufen oder holen muss, wenn etwas ist. Sobald der Dreh in zwei Wochen anfängt, musst du also alles gepackt haben und dort drüben eingezogen sein. Ich hoffe, es war in Ordnung für dich, dass ich für dich schon einmal zugesagt habe? Wenn du das nicht willst, kann ich es auch wieder rückgängig machen und Pete bescheid sagen, dass du das nicht möchtest.“
Richard musste eine gefühlte Ewigkeit auf eine Reaktion von ihr warten, denn sie sah ihn immer noch mit weit aufgerissenen Augen an. Meinte Peter das ernst? Wieso wollte er denn ausgerechnet sie haben? War das eine Strafe für sie? Wollte er immer ein Auge auf sie haben, damit sie nicht wieder Mist baute?
Doch bevor sie sich weiter in diese negativen Überlegungen verstricken konnte, fügte Richard noch hinzu: „Er wollte eben die Beste haben.“ Mit einem Auge zwinkerte er ihr zu und lächelte, um ihr ein wenig über den Schock zu helfen.
„Ähm“, war jedoch wieder einmal alles, was Joe über die Lippen bekam. Ihre schweißnassen Handflächen versuchte sie schnell an ihrer Jeans trocken zu reiben, doch irgendwie wollte ihr das nicht gelingen. Stattdessen brach ihr auch noch der Schweiß auf der Stirn aus, weil sie überhaupt nicht einschätzen konnte, wohin das führen würde. Meinten die beiden das tatsächlich so, wie Richard es gerade gesagt hatte? War sie die Beste?
Aber wie konnte sie die Beste sein, wenn sie doch eigentlich nie etwas Kreatives beigesteuert hatte? Okay, sie hatte die meisten Kostüme mit entworfen und viele davon auch selbst genäht oder in Auftrag gegeben, aber sie war doch noch so jung im Gegensatz zu Ann und Bob und Richard selbst. Sie hatte nicht die Erfahrung, die die drei mittlerweile aufweisen konnten. Sie war frisch von der Uni hierher gekommen. Wie konnte sie da annehmen, auch nur ansatzweise das leisten zu können, was die anderen hier leisteten?
Der zweite Ansatz, etwas auf Richards Äußerungen zu sagen, endete damit, dass sie nur stumm den Mund auf und zu klappte wie ein Fisch auf dem Trockenen. Nach fünf Versuchen gab sie schließlich auf und nickte nur ergeben.
„Prima! Das wird Peter sicher freuen!“ Er klopfte ihr nur schnell auf die Schulter, weil er nur zu gut wusste, wie sie auf andere Dinge wie Umarmungen oder Ähnliches reagierte. Auf dem Weg zur Tür hielt er noch einmal kurz inne und drehte sich wieder zu ihr um. „Ich schicke dir dann die Umzugsleute vorbei, damit sie alles vorsichtig einpacken. Hoffentlich bringen wir das dann schnell über die Bühne.“
Zurück ließ er sie mit dem Gefühl, total versagt zu haben. Obwohl es eigentlich ein wahnsinnig großes Kompliment war und sie das hätte wissen müssen, fühlte sie sich, als hätte man ihr eine Ohrfeige verpasst oder in der Schule eine Strafarbeit auferlegt. Oder beides. Sie konnte daher nur hoffen, dass sie Peter nicht noch mehr positiv auffiel und einfach weiter in Ruhe ihre Arbeit machen durfte.
Wie sehr sich diese Hoffnung jedoch nicht erfüllen würde, sollte ihr nur wenig später klarwerden.
***
„Du musst es ihr sagen!“
Denver sieht dich herausfordernd an. Ihre blauen Augen schießen geradezu Blitze, wenn sie darüber spricht. Und du kannst es sogar verstehen. Doch etwas dagegen unternehmen kannst du nicht.
Schüchtern senkst du den Kopf, schaust auf deine kleinen Füße, um nicht ihrem wilden Blick begegnen zu müssen. Deine beste Freundin hat nie solche Probleme wie du, denn sie respektieren alle. Wenn ihr etwas nicht passt, dann sagt sie das laut und deutlich, und es fällt dann schwer, ihre Meinung nicht mitzubekommen.
Doch wenn dich einer nach deiner Meinung fragt, dann erwartet er keine ehrliche Antwort, weil du nie eine Antwort gibst. Und wenn du deine Antwort gibst, dann lautet sie immer Ja.
Denver stampft wütend auf. „Sie kann sich nicht immer dein Mathebuch nehmen und behaupten, es wäre ihres, nur damit du einen Eintrag ins Klassenbuch bekommst, Joe! Du musst der Lehrerin sagen, dass es dein Buch ist. Verdammt, es steht dein Name in diesem blöden Buch drin!“
„Du weißt, dass ich das nicht kann“, flüsterst du, weil sich schon alle zu euch umdrehen. Es ist dir unangenehm, so aufzufallen. „Dazu fehlt mir einfach der Mut.“
Nun kniet sich deine beste Freundin vor dich hin, denn sie ist groß und schön und schlank, wohingegen du klein und unauffällig bist. Sie nimmt deine Hände in ihre und sieht dich eindringlich, aber trotzdem liebevoll an. „Joe, ich liebe dich wirklich, aber du musst endlich mal über deinen eigenen Schatten springen. Du musst diesen Mut endlich einmal finden! Sonst wirst du es noch sehr schwer haben im Leben.“ Dann drückt sie ein letztes Mal deine kleinen Hände, erhebt sich wieder und geht.
Du seufzt jedoch nur tief. Wenn das alles doch nur so einfach wäre.