LilórienSilme
~ Fanfiction-Autorin ~
Kapitel 10
~ Rage
I always seem to find myself in situations like this
Like this situation I’m sensational all the fucking time
Always subject of critic acclaim
Der Umzug war eine reine Katastrophe für Joe. Obwohl die Leute vom Umzugsunternehmen alles taten, um möglichst vorsichtig mit all den empfindlichen Sachen umzugehen, hätte sie sie am liebsten alle rausgeworfen und die Kartons selber gepackt. Doch sie schaffte es ja nicht einmal, auch nur ein Wort herauszubringen, als die großen kräftigen Kerle plötzlich vor ihr standen.
Einer der Männer hatte sie gefragt, was er mit den Stoffresten machen sollte. Und eigentlich hatte sie ihm sagen wollen, dass sie sie behalten wollte, doch er hatte ihr Schweigen falsch aufgefasst, alles in einen großen Sack gesteckt und hinaus zum Müll gebracht. Und weil Joe keine andere Möglichkeit gesehen hatte, war sie dem Sack hinterher gelaufen und hatte ihn wieder aus dem Müll herausgeholt.
Natürlich hatten sie dabei ein Haufen der anderen Mitarbeiter bei Weta gesehen. Und am liebsten wäre sie sofort wieder umgedreht, als sie sah, dass sie nicht alleine war. Doch wenn sie noch einen von den Stoffresten hätte gebrauchen können, hätte sie sich geärgert, sie einfach weggeschmissen zu haben. Also versuchte sie die Menschen zu ignorieren, schob sich vor dem Müllcontainer eine Kiste zurecht, auf die sie raufklettern konnte, und stieg schließlich in den Container rein.
Es dauerte eine Weile, bis sie den richtigen Sack gefunden hatte, denn offenbar produzierte man hier mehr Müll, als sonst wo auf der Welt. Und der mit ihren Stoffresten lag natürlich ganz unten. Als sie ihn endlich dort herausgezerrt hatte, war sie nicht nur schmutzig, sondern stank auch nach Müllcontainer.
Von sich selbst angeekelt brachte sie den Sack in Sicherheit, bevor er wieder verschwinden konnte, und suchte dann ein Bad auf. Dort traf sie zufällig auf Emily, die sich vor dem Spiegel gerade frisch machte. Ihre Freundin hielt erschrocken inne, als sie sie so sah. „Oh mein Gott, was ist denn mit dir passiert?“ Sie drehte sich zu ihr um, während sie noch weiter Wimperntusche auftrug. „Als ich bei dir eingezogen bin, dachte ich eigentlich, dass du ein sehr ordentlicher Mensch bist, aber mittlerweile sieht es in unserem Haus ja aus wie bei Hempels. Deine Putzfrau hat scheinbar Urlaub, oder?“
Beinahe wäre Joe sofort der Kragen geplatzt. Dieses Mal schoss ihr das Blut aus anderen Gründen in die Wangen, nämlich weil sie nicht das sagen konnte, was sie eigentlich dachte: Du allein bist der Grund, wieso es bei mir zu Hause so aussieht! Und es ist auch nicht unser Haus, sondern meins. Ich habe es mit meinem Geld gekauft und du hast dich dort eingenistet wie ein Parasit, der alles Leben aus mir heraussaugt. Du allein bist für das ganze Chaos verantwortlich!
Ihre Hände ballten sich zu Fäusten und ihre Kiefer mahlten aufeinander. Wäre sie in einem Comic drin gewesen, hätte über ihrem Kopf eine Denkblase mit Totenschädel, Bomben und ähnlichem Zeug geschwebt. Doch stattdessen sagte sie nur leise und zwischen zusammengebissenen Zähnen: „Ich habe keine Putzfrau.“
Das überraschte Emily angemessen. Sie hörte auf, sich die Wimpern zu verlängern und starrte ihre Freundin nur an. „Oh, was, echt jetzt?“, war ihr einziger Kommentar dazu. „Ich dachte, du hättest eine. So sauber und ordentlich ist doch eigentlich sonst kein Mensch.“ Dann zuckte sie mit den Schultern, steckte den Mascara wieder weg und verließ das Badezimmer, ohne noch ein weiteres Wort zu sagen.
Als sie weg war, sank Joe erschöpft gegen die Tür. Tränen stiegen in ihren Augen auf, und weil sie alleine war, ließ sie sie laufen. Heiß brannten sie sich in ihre Wangen ein, als würden sie aus Säure bestehen, und erinnerten sie nur daran, wie hilflos sie eigentlich war.
Diese ganze Situation war so absurd, dass es eigentlich gar nicht wirklich passiert sein konnte. So etwas dachten sich doch sonst nur irgendwelche schlecht bezahlten Drehbuchautoren aus, um einen Film besonders interessant zu machen. Doch das hier war ihr Leben: eine beinahe fremde Frau war in ihr Haus eingezogen und hatte es bis zur Unkenntlichkeit in ein Schlachtfeld verwandelt; man vertrieb sie von ihrem Arbeitsplatz, weil man sie irgendwo anders haben wollte; und die Umzugsleute schissen Sachen raus, die nicht für den Müll bestimmt waren.
Am liebsten hätte sie ihre ganze Wut einfach hinausgeschrien, doch das traute sie sich nicht. Am Ende würde sie noch jemand hören.
Nachdem sie sich Hände und Gesicht gewaschen hatte und sich wieder einigermaßen frisch fühlte, kehrte sie in ihr Atelier zurück, was schon beinahe völlig leer geräumt war. Die Männer waren wirklich schnell. Und weil sie nicht da gewesen war, als alles eingepackt wurde, hatten sie auch nichts mehr weggeworfen. Den Sack mit den Stoffresten hatte sie sorgfältig unter anderen Kisten im Umzugswagen vergraben, damit ihn niemand mehr herausnehmen würde.
Am Abend war schließlich alles ordentlich verpackt und der Wagen wurde zur Stone Street gefahren. Morgen würde man ihn dann wieder ausladen.
Doch bevor das passierten sollte, sah Joe sich noch ihren neuen Arbeitsplatz an. Das Art Department, oder Block 5, befand sich direkt links vom Haupteingang. Das kam ihr sehr entgegen, denn so musste sie nicht erst einmal über das Gelände laufen, wenn sie nur zu ihrem Schreibtisch wollte.
Direkt daneben lag die E Stage, wo sich die ganzen Modelle für sie Sets befanden. Wenn ein Set gebaut werden sollte, wurde zunächst einmal ein Modell davon angefertigt, damit man es sich von allen Seiten beschauen konnte. Und weil das die Leute vom Art Department machten und sie für die Modelle viel Platz brauchten, hatte man ihnen eine eigene Stage gegeben.
Angrenzend an die E Stage und Block 5, die nur durch eine Tür voneinander getrennt waren, schloss sich die F Stage an, die so groß war, wie Block 5 und die E Stage zusammen. Dort hatte man die Sets für die Aufnahmen im Inneren des Nebelgebirges und der Trollhöhle aufgebaut. Dort sollte auch die erste Szene mit Andy Serkis als Gollum und Martin Freeman als Bilbo gedreht werden. Dahinter war die G Stage mit dem Set für den Pine Forest, wo die Adler die Kompanie der Zwerge retten würden. Das Set besaß die neuste Technologie und man konnte dort drinnen sogar echtes Feuer entfachen.
Dann kamen die H und J Stage und ganz am Ende stand die K Stage, die extra für King Kong erbaut worden war und wo auch der Name herkam. Dort würden die Dreharbeiten für den Düsterwald, Dol Guldur und auch der Teil der Troll-Szene spielen, die unter freiem Himmel stattfinden sollte.
Das Interessante für Joe war allerdings das, was auf der rechten Seite der großen Straße lag, die die Studios einmal der Länge nach durchschnitt. Auf der gegenüberliegenden Seite dessen, wo sie später arbeiten sollte, lag nämlich die A Stage, wo man das Set von Bruchtal neu errichtet hatte, sowie die B Stage, in der Beutelsend aufgebaut worden war, und der große Trailerpark der Schauspieler.
Das alles kam Joe wahnsinnig groß vor und sie fühlte sich plötzlich schon wieder so klein und unnütz. Am liebsten hätte sie Richard sofort gesagt, dass er Peter sagen sollte, dass sie nicht die Richtige für diesen Job war. Doch sie hatte Angst, was dann mit ihr passieren würde. Wohlmöglich würde Peter sie gleich feuern. Und dann konnte sie Emily gleich ihr Haus vermachen.
Den restlichen Abend verbrachte sie damit, endlich wieder Ordnung in ihrem Heim zu machen. Es dauerte fast bis zwei Uhr morgens, dann dann atmete Joe erleichtert auf. Ihre Freundin war schon längst wieder in ihrem Zimmer verschwunden, hatte laut Musik angemacht und war darüber vermutlich eingeschlafen. Doch das hatte Joe die Möglichkeit gegeben, so laut zu arbeiten, wie sie wollte. Sie hatte gleichzeitig Spül- und Waschmaschine, Trockner und Staubsauger laufen gehabt, was Rooney und Kaiser absolut unpassend fanden und sich nach draußen gerettet hatten. Gerade, als Joe das letzte Kissen auf ihrem Sofa wieder so hinlegte, wie es sich gehörte, steckte Kaiser den Kopf durch die Katzenklappe in der Terrassentür und miaute.
Wohnzimmer und Küche waren ein großer Raum, der optisch nur von einem Rundbogen in der Mitte getrennt wurde. Die Küche lag an der Frontseite des Hauses zur Straße hin und besaß ein großes Fenster über der Anrichte, damit man den Ausblick genießen konnte. Die Küchenschränke waren in einem großzügigen U angeordnet und boten sehr viel Platz.
Dann zog sich der Raum weiter hinüber, wo der große Esstisch stand. Er war aus groben Holz gefertigt und kein Stuhl war gleich. Joe hatte damals alle Flohmärkte in der Gegend abgesucht und billig welche erstanden, die sie dann abgeschliffen, neu in weiß lackiert und dann auf alt getrimmt hatte. An der Wand zum Garten raus stand ein großes Buffet, was noch von ihrer Großmutter stammte. Das hatte sie nicht verändern müssen.
Das Wohnzimmer bog sich dann vom Esstisch weg zur anderen Frontseite des Hauses, sodass der große Wohnbereich wie ein U um den Flur und das Gästebad lag. Eine schmale Treppe führte in der Küche nach oben in den zweiten Stock.
Alles war in einem Pastellgrün gehalten. Zwischendurch gab es knallpinke Farbklekse, die alles ein bisschen auflockerten und den Vintage-Stil perfekt machten.
Zufrieden sah Joe sich um und stellte befriedigt fest, dass es keine Spur mehr von Emily in ihrem Haus gab. Schnell schrieb sie ihrer Freundin noch einen Zettel, dass der Kühlschrank leer wäre und sie bitte beim Bäcker etwas essen sollte, heftete ihn mit einem Magneten an die Kühlschranktür, verstaute ihre Putzsachen wieder in dem Schrank unter ihrem Spülstein und stiefelte dann mit Kaiser im Schlepptau nach oben in ihr Schlafzimmer.
Die restliche Woche war Joe mit dem Auspacken beschäftigt. Ihr neues Büro war kleiner als ihr erstes und es war nicht so leicht, alles unterzubringen, was sie mitgebracht hatte. Doch schließlich konnte sie die letzte Kiste zusammenfalten. Es sah nun alles etwas gequetscht aus an den Wänden, wo die ganzen Zeichnungen hingen, doch es gefiel ihr.
Für die Zwerge hatte sie nun eine eigene Wand gemacht, wo sie alle aufgereiht hingen. Die Modelle hatten in der obersten Reihe nur ihre Fatsuits an, besaßen aber schon das Gesicht des jeweiligen Schauspielers. Darunter trugen sie ihre Prothesen und Perücken und ganz unten hingen sie in voller Montur.
Für jeden Zwerg hatten sie sich beim Designern eine Farbe ausgedacht. So war Thorin zum Beispiel immer in Mitternachtsblau gekleidet, wohingegen Balin ein dunkles Rot trug. Für Dwalin hatten sie Khaki gewählt, Bifur trug Rost, Bofur hatte ein Senfgelb, Bombur ein Olivgrün, Fíli besaß Mauve, Kíli Petrol, Glóin Blutrot, Óin ein schlichtes Braun, Nori ein helles Grau, Dori ein fröhliches Purpur und Ori ein zartes Grau-Lila.
Diese Farbpalette zog sich durch alles durch und sorgte zusätzlich zu den einmaligen Silhouetten, die die Zwerge hatten, für einen wundervollen Wiedererkennungswert. Peter hatte darauf bestanden, dass jeder der Zwerge ein Unikat sein sollte, denn er wollte verhindern, dass es dreizehn Gimlis gab. Das hätte vermutlich alles sehr viel Angst gemacht.
Und um jedem Zwerg nicht nur seinen eigenen Charakter, sondern auch eine eigene Geschichte zu geben, hatte Richard sich zusammen mit Peter eine Art Wappen für jeden von ihnen ausgedacht. Diese Zeichen fanden sich dann in Teilen des Rüstung, auf den Waffen, den Gürteln und jedem anderen Equipment der Zwerge wieder. Und für jede Zwergenfamilie sollte es etwas ähnliches geben. So tauchte das Design von Kíli und Fíli beispielsweise in dem von Thorin irgendwo wieder auf und markierte die drei als eine Einheit, denn Fíli und Kíli waren Thorins Neffen, die Söhne seiner Schwester Dís, der einzigen Zwergenfrau, die bei Tolkien jemals mit Namen genannt wurde.
Gerade wollte sie sich an ein neues Design für Tauriel begeben, als ihre Tür geöffnet wurde und Richard Armitage und Graham eintraten. Sie waren noch in Zivil gekleidet, da der Drehbeginn offiziell erst in einer Woche sein würde, doch sie wirkten leicht abgekämpft.
„Hi Kleines“, sagte Graham, kam auf sie zu und schloss sie in eine feste Umarmung ein. Sofort breitete sich in Joe wieder dieses Gefühl von Geborgenheit in ihrem Bauch aus, gegen das sie nichts tun konnte. Am liebsten hätte sie den großen Schotten den ganzen Tag im Arm gehalten, nur um immer dieses Gefühl zu haben.
Aber er ließ sie wieder viel zu schnell los, und weil Richard nicht wusste, was er tun sollte, nahm er sie kurzerhand auch in den Arm. Seine langen Haare kitzelten sie ein wenig, doch auch diese Umarmung fühlte sich seltsam vertraut an. Als er sie wieder losließ, strahlte sie über das ganze Gesichte. „Hallo!“, sagte sie fröhlich. „Was treibt euch her?“
„Wir haben gehört, dass du jetzt hier dein Büro hast, und wollten dich besuchen kommen“, sagte Richard. Er begann damit, den Raum mit langen langsamen Schritten zu durchmessen und sich alles genau anzusehen. „Wir sind neugierig, was du Neues gemacht hast.“
Graham warf sich in ihren Schreibtischstuhl. „Und weil das Bootcamp jetzt Mittagspause hat, dachten wir, fragen wir dich, ob du nicht Lust hast, mit uns zusammen ins Kantinenzelt zu gehen.“ Es klang so selbstverständlich und nett, dass man fast hätte denken können, sie würden sich alle drei schon seit Jahren kennen.
Doch dem war nicht so. Und die Art, wie er das sagte, überrumpelte Joe zutiefst. Sie riss erstaunt die Augen auf und sah dabei aus wie ein Reh, das vom Scheinwerferlicht erfasst und gleich überfahren wird. Ihr brach schon wieder der Schweiß aus und ihr Herz begann zu rasen. Sie kannten sich doch kaum! Wieso fragten sie sie denn dann, ob sie mit ihnen zum Mittagessen gehen wollte? Das war irgendwie noch nicht das, was sie von den beiden erwartet hatte.
Verlegen trat sie von einem Fuß auf den anderen. „Ich, äh...“, stammelte sie. Eigentlich müsste sie sich geschmeichelt fühlen, dass die beiden an sie gedacht hatten, doch die Aussicht, mit so vielen Leuten auf einmal an einem Tisch und in einem Raum zu sein, trug nicht gerade dazu bei, dass sie unbedingt Ja sagen wollte. Diese Sache mit der Freundschaft, die die beiden offensichtlich im Sin hatten, ging ihr definitiv viel zu schnell.
Abwehrend hob sich daher die Hände und brachte unter viel Anstrengung und weiterem Gestammel heraus, dass sie noch viel zu Arbeiten hätte. Richard schien das zu akzeptieren, aber das wollte Graham nicht gelten lassen. „Du musst auch mal raus hier!“, insistierte er. „Oder willst du dich hier tagein, tagaus vergraben und nur arbeiten, arbeiten, arbeiten?“
„Eigentlich war das der Plan“, flüsterte sie zurück, halb in der Hoffnung, keiner der beiden hätte es gehört.
Natürlich wusste sie, dass es in den Studios auch ein soziales Leben gab, dass die Menschen hier nicht nur arbeiteten und ansonsten nichts miteinander zu tun hatten. Aber das war eben nichts für sie. Immerhin hatte sie diese Persönlichkeitsstörung, hinter der sie sich verstecken konnte. Und wenn sie schon zu Hause von der Anwesenheit ihrer Freundin Emily terrorisiert wurde, dann wollte sie zumindest hier ihre Ruhe haben. Und dazu zählte auch die Tatsache, dass sie friedlich und allein in mitgebrachtes Mittagessen verzehren konnte.
Bevor Graham weiter in die sie dringen konnte, packte Richard ihn sanft am Arm. Scheinbar war er etwas feinfühliger als sein Kollege. „Lassen wir sie“, sagte er. „Wir kommen morgen noch mal wieder und fragen sie dann. Vielleicht überlegt sie es sich ja noch anders.“ Dabei zwinkerte er Joe zu, die sich allerdings nur verlegen eine Strähne ihres blondes Haares hinter ihr eines Ohr schob und dabei versuchte, ihre rot angelaufenen Wangen hinter ihrer Hand zu verbergen. Die Aussicht, dass die beiden jetzt wohlmöglich jeden Tag hier auftauchen konnten, behagte ihr ganz und gar nicht.
Abends war sie fast schon wieder soweit, dass sie ihren Chef gebeten hätte, doch Ann oder Bob an ihre Stelle zu setzen. Doch Richard würde gewiss nicht mehr mit sich reden lassen, jetzt wo sie schon ihren ganzen Kram hierher in die Studios geschafft hatten.
Und trotzdem hätte sie am liebsten ein „Bitte nicht stören“-Schild an ihre Tür gehangen. Wieso konnte man sie denn nicht einfach in Ruhe lassen? Hatten die beiden blöden Zwerge denn nichts Besseres zu tun, als sie zu belästigen? Denn, wie von Richard angekündigt, erschienen sie am nächsten Tag wieder um die Mittagszeit bei ihr und fragten sie, ob sie doch mit ihnen essen gehen wollte.
„Ich kann nicht“, wich sie ihnen wieder aus. „Richard hat mir aufgetragen, den Mantel von Tauriel noch einmal zu überarbeiten.“ Das war zwar keine Lüge, doch das hätte sie genauso gut auch nach dem Mittagessen machen können. Immerhin hatte man ihr keine Deadline genannt. Trotzdem war ihr das eine willkommene Ausrede.
Graham runzelte kurz die Stirn, dann glätteten sich seine Falten wieder. Erst hatte er geglaubt, Joe spreche von Richard, seinem Zwergenanführer. Doch dann begriff er, dass sie Richard Taylor meinte. „Also, ich finde, wir sollten uns Spitznamen für euch beide ausdenken“, sagte er mit einem Blick auf Richard, der wieder äußerst neugierig die Zeichnungen an den Wänden betrachtete. Offenbar schienen ihm die Entwürfe äußerst gut zu gefallen.
Allerdings konnte er Grahams Gedankensprung nicht so ganz folgen. Verwirrt drehte er sich um. „Wieso? Was meinst du?“
Anstatt aber auf seine Frage einzugehen, sagte Graham: „Ist dein zweiter Vorname nicht Crispin?“ Und dann stahl sich ein diebisches Lächeln auf sein Gesicht, das ihm den Ausdruck eines großen Kindes verlieh. „Wir könnten dich Crispy nennen. Oder was meinst du, Joe?“
Die Angesprochene errötete sofort unter der Aufforderung, ihre Meinung zu sagen, doch ihr gefiel die Idee. Unter normalen Umständen hätte sie wohl nie etwas dazu gesagt, sondern sich einfach weiter ihrer Arbeit gewidmet und so getan, als hätte sie nichts gehört. Aber Graham sah so begeistert und fröhlich aus, dass ihr tatsächlich etwas einfiel. So leise, dass die beiden Männer es beinahe nicht hören konnten, sagte sie: „Archy?“
Graham klatschte begeistert in die Hände. „Da haben wir es doch: du bist Archy und Richard Taylor nennen wir einfach Ricky T oder so. Dann verwechseln wir euch nicht mehr.“
„Ganz toll, Graham“, erwiderte Richard nur. „Ich bin begeistert.“
Joe konnte jedoch kaum noch. Sie hielt sich die Hand vor den Mund, um Richard nicht zu zeigen, wie sehr sie das alles amüsierte. Schließlich brachte sie kichernd hervor: „Ja, er kann das nur nicht so zeigen. Er freut sich innerlich.“
Das brachte schließlich auch Richard zum Lachen und seine tiefe Stimme ließ Joes Zwerchfell vibrieren. In diesem Moment war sie fast soweit, dass sie Ja zu der Sache mit dem Mittagessen gesagt hätte, doch dann kamen ihr wieder die vielen Menschen in den Sinn, die sicher auch alle jetzt etwas aßen.
Große Menschenansammlungen machten ihr Angst. Nicht, dass sie Platzangst gehabt hätte. Es war eher die Tatsache, dass dort eine viel größere Möglichkeit bestand, dass man sie ansprach, etwas von ihr wollte oder sie gar blamierte, indem man ihr das Tablett aus der Hand schlug. Derlei Dinge hatte sie oft genug in der Kantine in ihrer alten Schule erlebt, wenn sie doch mal mit Denver dorthin gegangen war. Meistens hatte sie sich auch da ihr Essen selbst mitgebracht und es dann in aller Ruhe draußen auf dem Schulhof verzehrt. Und jedes Mal, wenn Denver sie überredet hatte, mit ihr und ihrer Band zusammen zu essen, war das Ganze in einer Katastrophe geendet. Zumindest kam es Joe aus der heutigen Sicht so vor. Und darauf konnte sie wirklich gut verzichten.
Sie schüttelte also noch einmal entschieden den Kopf, als die beiden sie erneut fragten, und sie schienen es zu glauben, dass sie noch arbeiten musste. Doch ein Nein wollten sie offenbar nicht auf sich sitzen lassen, denn von diesem Tag an kamen sie jeden Mittag, um sie zu fragen. Und jeden Mittag erhielten sie wieder dieselbe Antwort.