top of page

Kapitel 9

 

~ Take a Chance on him

 

Die letzte Klappe war an diesem Abend gefallen, doch die Schauspieler und das Team warteten noch auf das letzte Okay von Andrew. Gerade war er dabei sich das Material von diesem Drehtag anzusehen und zu sichten, ob es in Ordnung war. Da es nicht besonders viel war, würde es nicht lange dauern und sie könnten noch ein paar Takes drehen, bevor es zu dunkel wurde.

 

Es waren die Szenen, die vor dem großen Kampf stattfinden sollten und so ziemlich jeder war dabei. Die vier Geschwister steckten in ihren Kostümen und Ben hatte ebenfalls seine Rüstung angelegt. Georgie saß bei Vittoria auf dem Schoß, während Anna hinter den beiden stand und den drei Jungs dabei zusah, wie sie weiter mit dem Schwert übten. Will und Skandar waren ziemlich gut, Ben wirkte in Vittorias Augen noch etwas ungeschickt.

 

Verträumt kämmte sie das Haar der Jüngeren mit den Fingern durch und dachte an die Tage, in denen sie und ihre große Schwester noch freundlich miteinander umgegangen waren. Nachdem sie von der Schule geflogen und Katarina ihren Abschluss mit Auszeichnung bestanden hatte, war das zarte Band endgültig zwischen ihnen zerrissen und sie hatten nur noch selten miteinander gesprochen. Und manchmal wünschte sie sich, dass sie wieder mit ihrer großen Schwester über ihre Probleme sprechen könnte, sie sie danach in den Arm nehmen und ihr sagen würde, dass alles wieder in Ordnung käme.

 

Jemand schüttelte sie an der Schulter. Sie musste ein paar Mal blinzeln, bis sie wieder in der Realität war. Dann merkte sie, dass Georgie sie erwartungsvoll ansah. „Was hast du gesagt, Süße?“, fragte sie und schüttelte den Kopf. „Es tut mir leid, ich war in Gedanken.“ 

 

Die Jüngere lächelte. „Das hab ich gemerkt“, sagte sie und sah Anna an. „Ich habe euch beide gefragt, ob ihr Lust habt, heute Abend zu mir ins Hotel zu kommen und ein paar Filme zu gucken. Ich fühle mich abends immer so alleine.“ Da Georgie noch keine dreizehn war, war das nur verständlich. Für ihr junges Alter hielt sie sich jedoch extrem gut am anderen Ende der Welt, ohne ihre Eltern.

 

Und natürlich sagten die beiden jungen Frauen zu. Als dann endlich der Feierabend in Sicht war machte sich jeder zu seinem Zimmer auf. Vittoria blieb noch eine Weile am Set, denn sie war mit einem eigenen Auto da. Verträumt stand sie auf der kleinen Anhöhe vor dem Berg und blickte in den Himmel. In der kurzen Zeit, die sie hier war, hatte sie dieses Land tief in ihr Herz geschlossen. Zu schade, dass sie wohl nie wieder hierher kommen könnte.

 

Die Tage hier konnte sie bereits abzählen. Es würde nicht mehr lange dauern und sie hätten alle Außenaufnahmen abgeschlossen und würden zurück nach Europa fliegen, um dort in einem Studio die restlichen Szenen zu drehen. Vielleicht würde Andrew ihr es ja gestatten, ein paar Tage frei zu nehmen, damit sie sich in Ruhe verabschieden könnte. Denn wenn sie diese Insel erst einmal wieder in einem Flugzeug verlassen hatte, gäbe es keinen einzigen Anreiz für sie noch ein weiteres Mal in so eine Höllenmaschine zu steigen. Und erst recht nicht wenn der Flug ganze dreißig Stunden dauerte.

 

Auf dem Weg zu ihrem Appartement dachte sie darüber nach, was sie gleich erwarten würde. Georgie und besonders Anna waren ihr zu guten Freundinnen geworden und sie würde die beiden vermissen, wenn der Dreh zu Ende war. Zu Hause in London hatte sie nicht viele Freunde, weil sie immer der Typ Frau gewesen war, der auf eigenen Beinen stehen wollte. Und wenn man das bereits mit fünfzehn tun musste, weil man gar keine andere Wahl hatte, dann forderte so etwas nun einmal Opfer. Ihres war es gewesen, dass sich ihre sozialen Kontakte auf ihren Arbeitsplatz beschränkt hatten. Nur Meg hatte sie außerhalb davon kennen gelernt. Ihre gemeinsame Leidenschaft für Kaffee, die sie jeden Tag in denselben Laden zur selben Uhrzeit getrieben hatte, hatte es möglich gemacht, dass sie eines Tages über einem heißen dampfenden Becher Milchkaffees ein Gespräch angefangen hatten.

 

Neue Leute kennen zu lernen war nie das Problem für Meg gewesen. Ihr Telefonbuch war voll mit Leuten, die sie jedes Wochenende auf einer Party oder unter der Woche in der Uni sah. Für Vittoria war es immer schwer gewesen, sich auf jemanden einzulassen, da sie durch ihre Familie schwer enttäuscht wurde, was das Zwischenmenschliche anging. Sie war nie wirklich in der Lage gewesen, sich auf andere einzustellen, geschweige denn Kompromisse einzugehen. Vermutlich hatte sie deswegen auch selten eine Beziehung gehabt, die länger als ein halbes Jahr dauerte.

 

Zu Hause stand sie lange vor ihrem offenen Kleiderschrank, der nicht einmal zur Hälfte gefüllt war, und überlegte, was sie anziehen sollte. Da man bei ihren bisherigen Arbeitsplätzen selten Wert auf makelloses Aussehen gelegt hatte, bestand ihre Garderobe hauptsächlich aus Jeans, Shirts und Pullovern. Blusen, Stoffhoden oder derartiges besaß sie genau von jedem eins. Doch für einen gemütlichen DVD-Abend mit zwei Mädchen würden vermutlich eine Jogginghose und ein Sweatshirt genügen.

 

Als sie zwanzig Minuten später aus der Dusche kam, klingelte ihr Handy. Sich weiter die Haare trocknend nahm sie ab. „Hallo?“, sagte sie in den Hörer, während sie versuchte sich mit einer Hand das Handtuch um den Kopf zu wickeln.

 

„Hey Vic“, sagte Anna. „Georgie hat nichts zu Knabbern hier. Kannst du vielleicht noch etwas besorgen? Das wäre super nett von dir.“ Vittoria seufzte. Eigentlich war sie sowieso schon zu spät dran. Doch dann dachte sie, dass sie nun wenigstens eine Entschuldigung dafür hätte. „Natürlich“, sagte sie. „Irgendwelche besonderen Wünsche?“ Doch die Mädchen verneinten beide.

 

Schließlich machte sie sich in gemütlichen Klamotten auf den Weg. Im Supermarkt kaufte sie ein paar Tüten Popcorn und Lakritze. Kurz stand sie vor dem Regal mit den Sektflaschen, entschied sich dann jedoch dagegen. Georgie war noch viel zu jung und sie selbst musste fahren. Anna hätte den ganzen Sekt für sich gehabt und das wollte sie ihr in keinem Fall zumuten.

 

Kurz darauf klingelte sie an der Suite der kleinen Schauspielerin. Voll bepackt wurde sie in den kleinen Flur gelassen, nachdem Anna die Tür aufgemacht hatte. „Wow“, sagte sie, als sie das ganze Essen sah. „Willst du uns mästen?“

 

Vittoria ließ die Tüten auf den kleinen Beistelltisch fallen und zog sich die Schuhe aus. „Nein, eigentlich hatte ich vor euch alle mit Popcorn auszustopfen und danach in den Ofen zu schieben und euch zu braten wie eine Weihnachtsgans.“ Sie gab ein schrilles Lachen von sich, was wohl an eine Märchenhexe erinnern sollte. Es gelang ihr nicht besonders gut, doch sie konnte Anna damit zumindest ein Lächeln entlocken. Diese hob nun die Hälfte der Tüten auf ihren Arm und ging voran in das kleine Wohnzimmer. „Aber es ist gut, dass du so viel gekauft hast“, sagte sie, während die andere sich den Rest schnappte und hinter ihr her lief.

 

„Warum?“, fragte Vittoria und stolperte. Die großen Tüten versperrten ihr ein wenig die Sicht, doch sie konnte trotzdem sehr deutlich hören, dass es mehr als zwei Leute waren, die sich bereits im Zimmer befanden. Eigentlich hatte sie gedacht, dass sie nur zu dritt wären. Verwirrt ließ sie die Tüten wieder fallen und blickte in die verdutzten Gesichter von Skandar, Will und Ben.

 

Anna hatte ihre Sachen sicher auf dem Wohnzimmertisch abgelegt und blickte Vittoria nun mit dem unschuldigsten Gesicht an, das sie auflegen konnte. „Weil wir noch die Jungs eingeladen haben.“

 

Verwirrt und wütend ging Vittoria, mit der größtmöglichsten Selbstbeherrschung, die sie aufbringen konnte, um ruhig zu wirken, in den Flur zurück. Sie kam sich vor wie in einem schlechten Hollywoodfilm, in dem die Hauptperson von einem Fettnäpfchen ins nächste stolpert. Nicht, dass sie je damit Probleme hatte, ein solches zu finden, doch sie hatte gehofft, dass sie wenigstens hier Ruhe vor ihm haben würde. Genügte es nicht schon, dass sie ihn während der Arbeit ertragen musste? Musste sie nun auch noch sein Grinsen in ihrer Freizeit ertragen?

 

Es kam ihr vor, als wären sie eine Clique wie aus einer dieser Seifenopern, bei denen ständig etwas los war und es Liebe und Intrigen gab. Lächerlich, wenn man länger darüber nachdachte. Absurd war jedoch das erste, was ihr in den Sinn kam. Total surreal und absolut unnötig, wie mit Botox aufgespritzte Lippen oder die Schmerzen einer Geburt. Am liebsten wäre sie sofort wieder nach Hause gefahren und hätte es sich dort mit einem Buch gemütlich gemacht.

 

Als Vittoria das Zimmer betreten hatte, waren Ben kurz die Gesichtszüge entglitten. Er hatte zwar gehofft, dass noch jemand auftauchen würde, der wenigstens halbwegs in seinem Alter war, doch er hatte nicht einmal im Traum daran gedacht, dass es sie sein würde. Natürlich war auch ihm aufgefallen, dass sie viel Zeit mit Georgie und Anna verbrachte. Doch er hätte sich gewünscht, dass es rein beruflicher Natur war.

 

Nun war sie wieder aus dem Zimmer gegangen, als wäre nichts geschehen, und Anna folgte ihr, während Georgie sich an Will kuschelte. Ben konnte hören, wie sich die beiden vor der Tür leise stritten. Doch nach ein paar Minuten herrschte Stille. Er hörte die Eingangstür zufliegen und jubelte schon innerlich auf, dass Vittoria gerade gegangen war.

 

Anna war Vittoria hinterher gelaufen und hatte die Tür hinter sich zugemacht. Die Italienerin war gerade dabei gewesen sich wieder ihre Schuhe anzuziehen. „Warte doch, Vic“, sagte Anna und versuchte ihre Stimme möglichst leise und möglichst autoritär klingen zu lassen. „Wir dachten, dass es okay für dich wäre, wenn wir sie auch einladen.“ Doch die andere reagierte nicht darauf. „Vielleicht musst du ihn nur etwas besser kennenlernen.“

 

Vittoria hielt mitten in der Bewegung inne. Sie hatte bereits den Türknauf in der Hand und die Tür einen Spalt weit geöffnet, als Annas Worte sie ins Kreuz trafen. Abrupt drehte sie sich um. „Ihn besser kennenlernen?“, sagte sie schrill. „Ich will ihn nicht besser kennenlernen. Ich will überhaupt keine Zeit mit ihm verbringen. Er ist ein Idiot. Nein, schlimmer, ein Vollidiot und ein Schleimer. Und wirklich das letzte, was ich will, ist Zeit mit ihm verbringen. Ich brauche ihn nicht zu kennen, um mir sicher zu sein, dass ich ganz sicher nie mit ihm befreundet sein möchte.“

 

„Weißt du“, sagte Anna und trat auf die Freundin zu. „Dasselbe hab ich von dir am Anfang auch gedacht.“ Sie sah das verdutzte Gesicht und versuchte es mit Diplomatie. Vielleicht war sie mit dieser Aussage doch ein wenig zu weit gegangen. „Sieh mal, niemand am Set kannte dich, außer Andrew. Du hast mit niemandem geredet und bist immer sofort wieder abgehauen. Was sollten wir da groß von dir denken? Wir mussten annehmen, dass du eine Zicke bist. Doch jetzt, wo wir dich kennen, bist du das überhaupt nicht. Du bist so ein netter Mensch und die Tatsache, dass du jemanden so verachtest wie Ben, das passt irgendwie gar nicht zu dir.“

 

Die Ältere war nun nur noch mehr verdutzt. So viel Menschenkenntnis hatte sie der Jüngeren gar nicht zugetraut. Für ihr Alter war sie ziemlich reif.

 

Anna trat noch einen Schritt auf sie zu, streckte die Hand nach ihrer aus. „Bitte“, flüsterte sie und fasste ihre Hand. „Gib ihm eine Chance.“ Wütend knallte Vittoria die Türe wieder zu. Doch dann besann sie sich. Sie schüttelte sich, wie um die Wut zu vertreiben, und straffte ihre Schultern. „Na gut, wenn euch so viel daran liegt.“ Mit einem schrillen Schrei fiel Anna ihr um den Hals und drückte sie ganz fest an sich. „Schon gut“, sagte sie. „Du erwürgst mich ja noch.“ Gemeinsam gingen sie ins Wohnzimmer zurück.

 

Vittoria ließ sich in dem einzigen Sessel nieder, während die anderen sich alle auf das Sofa oder davor quetschten. Ben hatte sich vor Anna gesetzt und sich gegen deren Knie gelehnt. Skandar saß neben ihm. Will hatte auf dem Sofa Platz genommen und Georgie auf den Schoß genommen. Anna legte ihren Kopf auf seine Schulter. Sie wirkten wie eine große Familie und sie kam sich wieder einmal fehl am Platze vor. Dasselbe Gefühl hatte sie gehabt, wenn sie ihre Eltern und Katarina abends vor dem Fernseher gesehen hatte.

 

Ben merkte, dass Vittoria sie alle ansah, während vor ihnen auf dem Bildschirm bereits der Film lief. Doch irgendwie schien sie sie alle nicht richtig zu sehen, sondern eher in der Vergangenheit zu schwelgen. Das gab ihm die Gelegenheit sie etwas näher zu betrachten. Ihre Fingernägel waren dunkel lackiert und kurz geschnitten. Ihre Haare hatte sie zu einem unordentlichen Knoten zusammengebunden, aus dem sich bereits die ersten Strähnen wieder lösten. Dazu trug sie passend eine graue Jogginghose, die ihr eindeutig zu weit war, dicke Socken und einen gemütlich aussehenden Kuschelpulli, der vorne eine Tasche für die Hände und an den Ärmeln Löcher für die Daumen hatte. Ihm fiel nichts Besseres ein, doch als er sie so ansah musste er an einen Weihnachtsmorgen denken.

 

Dann kehrte ihr Blick wieder ins Hier und Jetzt zurück und sie bemerkte, dass er sie anstarrte. „Was ist?“, zischte sie. Schnell wandte er sich wieder dem Film zu. Etwa bei der Hälfte hielt es Georgie nicht mehr aus und griff nach dem Popcorn. Sie begann laut mit der Tüte zu rascheln, bis Skandar „Ssscht“ machte. Jetzt nahm sich auch Vittoria eine Tüte und begann ebenfalls zu rascheln.

 

Gespielt genervt sah Skandar die beiden an, warf jedem einen strafenden Blick zu und widmete sich wieder dem Film. Die Mädchen sahen sich an und Vittoria zwinkerte Georgie zu.

 

Als der Film zu Ende war, schaltete Will wieder das Licht an. „Welchen Film wollt ihr jetzt gucken?“, fragte er und allgemeines Schweigen brandete ihm entgegen. „Okay“, sagte er und nahm die Filme hoch, die neben dem Fernseher lagen. „Wir haben ‚Rache ist sexy’ und ‚Das Streben nach Glück’. Sollen wir abstimmen?“

 

„Nein“, sagte Vittoria. „Das klappt bei einer graden Anzahl von Stimmen nie. Lasst lieber das Los entscheiden.“ Sie stand auf und wollte nach den Filmen greifen, doch Ben war schneller und schnappte sie ihr vor der Nase weg. „War ja klar, dass sie wieder alles besser weiß“, sagte er und setzte sich in den Sessel, in welchem Vittoria vorher gesessen hatte. „Sie weiß ja immer alles besser.“

 

Sie versuchte ruhig zu bleiben. Alleine die Tatsache, dass er hier war, brachte sie schon zur Raserei. Dass er sich nun auch schon wieder einmischen musste, brachte das Fass zum Überlaufen. Sie konnte es nicht leiden, wenn er sie kritisierte. Wieso nur schaffte er es immer wieder, sie mit nur einem Wort so wütend zu machen. Ob es dafür einen Kurs auf der Schule gab: Wie bringe ich eine Frau zur Weißglut?

 

In dem Versuch, ruhig zu bleiben, baute sie sich bemüht gelassen vor ihm auf und stemmte die Hände in die Hüften. Hinter ihr was es verdächtig still geworden, wie vor einem mächtigen Gewitter, doch sie ignorierte es. „Weißt du, ‚sie’ hat auch einen Namen. Doch falls er dir entfallen sein sollte, wie dein Text letzte Woche, sag ich ihn dir gerne noch einmal. Wenn du willst schreib ich ihn dir auch auf oder tanze ihn dir vor. Aber nenn’ mich gefälligst beim Namen, wenn du schon über mich reden musst.“

 

Ihre kleine Ansprache ignorierend sagte er: „Ich bin dafür, dass wir den hier gucken.“ Er hielt ‚Rache ist sexy’ hoch, auf dessen Cover der untere Rücken einer jungen Frau zu sehen war, aus deren Jeans ein roter String herausguckte. „Dann sieht sie wenigstens mal, was sexy wirklich bedeutet und läuft vielleicht nicht mehr so ungepflegt rum.“

 

Gelassen stand er auf, schob sich an ihr vorbei und legte den Film ein. Dass Vittoria dabei war überzukochen ignorierte er. Erst als ihn die erste Ladung Popcorn genau in den Nacken traf reagierte er auf sie. Langsam drehte er sich zu ihr um und blickte in ihre grünen Augen, die nahezu Funken zu sprühen schienen. „So spricht man nicht mit mir, Prinzessin“, zischte sie und verpasste ihm noch eine Ladung genau ins Gesicht.

 

Ohne abzuwarten, was wohl als nächstes passieren würde, griff auch er sich eine Hand voll Popcorn, lief auf sie zu und stopfte es ihr hinten in den Pullover. Wütend schrie sie auf und versuchte nach ihm zu greifen, konnte aber seine Hand nicht zu fassen kriegen. Erst als er freiwillig von ihr abließ konnte sie sein Handgelenk packen.

 

Gerade wollte sie ihm eine heftige Ohrfeige verpassen, als Will ihre ausgestreckte Hand festhielt. Irritiert sah sie ihn an, schien wieder zur Besinnung zu kommen. Anna reagierte schnell und zog Vittoria von Ben weg ins Badezimmer. Sie schob die Ältere hinein und verschloss die Tür. Diese jedoch lief wild schnaubend quer durch den kleinen Raum, drehte sich an der hinteren Wand um und kam wieder zurück zur Tür. Aufgebracht stampfte sie auf wie ein kleines Kind, was seinen Willen nicht bekam. „Einfach unglaublich“, polterte sie und warf ein Handtuch quer durch das Zimmer.

 

Anna stand nur da und blockierte die Tür. Wenn sie in diesem Zustand wieder aufeinander treffen würden, könnte es Tote geben. Doch langsam schien sich Vittorias südländisches Gemüt wieder zu beruhigen und sie blieb stehen. „Verstehst du jetzt, warum ich nicht scharf darauf bin, Zeit mit ihm zu verbringen? Er hasst mich und ich hasse ihn. Und das reicht uns.“

 

Die Britin ging auf die andere zu, packte sie beiden Schultern und zwang sie so dazu, ihr in die Augen zu sehen. „Du wirst dich jetzt beruhigen und wieder da rein gehen. Und dann werden wir sechs einen netten Abend miteinander verbringen. Und wir werden es gerne tun, weil Georgie es sich wünscht. Hast du mich verstanden, Vittoria?“

 

Der Klang ihres Namens brachte sie wieder auf den Teppich. Sie dachte daran, dass Georgie sie eingeladen hatte, weil sie sie gern hatte. Wenn sie sich nun benahm wie Piper Halliwell würde das der Freundschaft in jedem Fall schaden. Auch wenn sie Ben gerne hätte explodieren lassen. Sie musste sich also zusammenreißen, und wenn das bedeutete, dass sie zumindest für diesen einen Abend Friede, Freude, Eierkuchen für alle vorspielen musste.

 

Langsam nickte sie. „Ja, du hast Recht. Ich werde mich einfach wieder auf meinen Sessel setzen und den Film gucken. Und ich werde meine Klappe halten“, sagte sie noch, als Anna ihr einen strafenden Blick zuwarf. „Ich werde die Klappe halten, versprochen!“ Anna nickte.

 

Als sie sich das Popcorn aus dem Pullover und den Haaren gepult hatte, gingen sie wieder zurück ins Wohnzimmer. Dort hatte man bereits die Reste der Schlacht beseitigt und den Film in den DVD-Player eingelegt. Das Hauptmenü flimmerte über den Bildschirm, was die einzige Lichtquelle im Raum war. Zum Glück hatte jeder wieder seinen alten Platz eingenommen, sodass Vittoria auch wieder, mit ihrer Tüte Popcorn, auf den Sessel klettern konnte. Sie zog die Beine unter sich und lehnte sich an.

 

Will drückte die Play-Taste und der Film begann. Und zum Erstaunen aller verkniffen sich Ben und Vittoria jegliche Kommentare während des Films, auch wenn Anna sich sicher war, dass beiden etwas sehr Bissiges zum jeweils anderen eingefallen wäre. Trotzdem lag immer noch diese unangenehme Spannung in der Luft. Das Gewitter war noch nicht vorbei.

 

Nachdem der Film aus war, saßen sie alle noch eine Weile still da und hingen ihren Gedanken nach. Georgie sah bereits so aus, als würde sie jeden Moment einschlafen und so hob Will sie auf den Arm und trug sie in ihr Schlafzimmer. Als er zurückkam, setzte er sich wieder neben Anna, lehnte sich dieses Mal jedoch bei ihr an, und fragte in die Runde: „Und, wie hat euch der Film gefallen?“

 

Anna und Skandar ließen jeweils ein zustimmendes Brummen hören. Auch sie waren bereits ziemlich müde. Ben sagte jedoch: „Irgendwie kommen die Männer in diesem Film ganz schlecht weg.“

 

Bevor Will zu einer entschärfenden Antwort ansetzen konnte, fuhr Vittoria dazwischen. „Nicht Männer im Allgemeinen. Nur solche, die nicht fähig sind, zwischenmenschliche Informationen zu verarbeiten.“ Dabei warf sie Ben einen vielsagenden Blick zu.

 

„Oh, und Frauen sind natürlich alles kleine Engelchen“, schoss Ben zurück, wirkte dabei aber nicht wirklich überzeugend. Auch er war ziemlich müde und seine Antwort fiel nicht halb so bissig aus, wie sie eigentlich beabsichtig war. Doch das entschärfte die Situation, denn so klang es, als meinte er es tatsächlich so, wie er es gesagt hatte.

 

Vittoria lächelte. Eigentlich war dieses Gezankte richtig lustig. Wären sie noch in den Neunzigern und würde man hier eine Kamera aufstellen, könnte man es als Familienserie verkaufen, dachte sie. „Nein, eigentlich sind wir richtig durchtriebene Miststücke, die nur darüber nachdenken, wie sie süßen kleinen Jungs das Leben zur Hölle machen können. Richtige Teufel, möchte man sagen.“ Und sie nahm sich eine Hand voll Popcorn und warf es in seine Richtung.

 

Anna befürchtete schon, dass es jetzt wieder losgehen würde, doch stattdessen nahm Will sich nun seinerseits eine Hand voll von dem süßen Zeug und warf es in Vittorias Richtung. Diese starrte ihn verdutzt an, doch dann fing sie an zu lachen und warf noch mehr in seine Richtung. Nun fuhr auch Skandar dazwischen und bewarf beide Parteien, bis sich auch Anna nicht mehr wehren konnte und mit eingreifen musste.

 

Schließlich war alles Popcorn aus den Tüten und auf dem Boden, dem Sofa und dem Tisch verteilt. Das Zimmer sah aus, als wäre eine Bombe explodiert. „Oh nein“, stöhnte Vittoria, als sie das Chaos sah, und sank in den Sessel zurück. „Wenn Georgie das morgen sieht, wird sie richtig sauer sein, dass sie alles verpasst hat.“ Die anderen lachten. „Ja, du hast Recht“, sagte Will. „Wir sollten das aufräumen.“

 

Und so machten sich die fünf mitten in der Nacht daran, das Durcheinander zu beseitigen, was sie angerichtet hatten. Als sie endlich nach Hause gingen und in ihren Betten lagen, wurde es bereits schon wieder hell. Mit einem Lächeln kuschelte Vittoria sich in ihre Kissen. Der Abend war doch noch ganz nett geworden.

© by LilórienSilme 2015

  • facebook-square
  • Instagram schwarzes Quadrat
  • Twitter schwarzes Quadrat
bottom of page