LilórienSilme
~ Fanfiction-Autorin ~
Kapitel 9
~ Was ist Liebe
Lothlorien war so schön wie ich es in Erinnerung hatte. Natürlich war ich nicht lange fort gewesen, doch es konnte sich viel in wenig Zeit verändern, das hatte ich gelernt. Genauso gut konnte sich wenig in viel Zeit verändern. Doch was man daraus machte, lang allein an einem selbst.
Wir wanderten zwischen den mächtigen Stämmen umher und mein Blick konnte sich nicht losreißen von der Schönheit der Bäume. Natürlich waren sie im Frühling am schönsten anzusehen, doch der Herbst war für mich immer eine besondere Zeit gewesen, war ich doch am Ende des Sommers in den Herbst hineingeboren worden. Schon als kleines Kind hatten mich die fallenden Blätter fasziniert.
Haldir führte uns zum größten der Bäume an den Fuß der Treppe, die sich um den gewaltigen Stamm bis nach oben in die Krone schlang. Mal ging sie seicht hinauf, mal steil. Doch immer leuchteten hellblaue Lampen unseren Weg. Spitze Bögen bildeten das Dach. Ich fuhr mit der nackten Hand über die Rinde des Baumes und wusste, dass ich wieder dort war, wo mein Herz für einen Augenblick verweilen sollte. Nicht für lange, dessen war ich sicher. Doch wenigstens für diesen Moment sollte mein Herz ruhen.
Ich hatte ein wenig Frucht vor der Begegnung mit meinen Eltern. Was würde meine Mutter mir zu sagen haben? Mein Vater würde mich sicher glücklich in die Arme nehmen, doch meine Mutter würde mir sicher erst in mein Herz blicken. Ich mochte diese Momente nicht. Zwar wollte ich, wie jedes Kind, meiner Mutter nahe sein, doch so nah musste selbst unsere Bindung manches Mal nicht sein.
Ich spürte ihren Geist, der nach meinem tastete, als ich die Treppe zu ihrem Haus hinaufstieg. Neugierige Augen beobachteten uns von Balkonen und Treppen aus. Ich wollte sie zurückstoßen, doch ich konnte es nicht. Sie drang in mein Gedächtnis ein und überraschte mich. Sie sah, was ich nicht wusste und zog sich wieder zurück. Dann waren wir oben angekommen.
Wir standen jetzt auf einer Plattform mit einem Loch in der Mitte, durch das ein dicker Seitenast ragte, und warteten. Überall lagen goldenen Blätter auf dem Boden und Lampen erhellten die Nacht, die inzwischen wieder über uns hereingebrochen war. Es waren kaum Laute zu hören, was ich als sehr angenehm empfand.
Wir versammelten uns vor einer Treppe. Haldir und ich standen ein wenig abseits der Gemeinschaft. Er tastete nach meiner Hand, doch ich kam ihm nicht entgegen. Erst als er sie gefunden hatte und sie packte, erwiderte ich den Griff.
Dann erleuchtete ein helles Licht uns plötzlich und auf dem oberen Treppenabsatz erschienen meine Eltern. Sie fassten sich an der Hand, mein Vater rechts, meine Mutter links, und schritten gemeinsam die Treppe hinunter. Dabei wirkten sie so geheimnisvoll und würdevoll wie nur die Ältesten es sein konnten. Denn nur sie hatten die Erfahrung langer Lebensjahre schon hinter sich gebracht.
Alle blickten erstaunt, erschrocken oder vielleicht sogar ein bisschen ängstlich zu ihnen hinauf. Ich jedoch verneigte mich und führte die rechte Hand an meine Stirn. Meine Mutter sprach zu mir alleine: „Willkommen, meine Tochter.“ Dann zog sie sich wieder aus meinem Kopf zurück und wandte sich den anderen zu.
Sie blieben auf der zweiten Stufe stehen. Mein Vater sprach als erster. „Der Feind weiß, dass ihr hier eingetroffen seid. Eure Hoffnung, unerkannt zu bleiben, sie ist nun zunichte.“
Ich hatte zwar vermutet, dass die Orks, denen wir in Moria begegnet waren, ihren Herren nicht verschweigen würden, dass wir diese Grenzen passiert hatten. Aber ich hatte nicht damit gerechnet, dass sie so klug waren, um sagen zu können, welchen weiteren Weg wir nehmen würden, auch wenn aus diesem Tal nicht viele Wege führten. Saruman musste weitere Späher haben.
„Hier sind neun“, sprach mein Vater weiter, „doch zehn sind von Bruchtal aus aufgebrochen. Sagt mir, wo ist Gandalf? denn es verlangt mich sehr, mit ihm zu sprechen. Ich kann ihn aus weiter Ferne nicht sehen.“ Vorwurf lag in meines Vaters Stimme, das war nicht zu überhören. Und ganz plötzlich fühlte mich sehr schuldig dafür, dass ich ihm nicht geholfen hatte. War es unsere Schuld, dass wir eine mächtige Waffe, wohlmöglich sogar die mächtigste, an unseren Feind verloren?
Meine Mutter drang in Aragorns Gedanken, denn selbst ich konnte spüren, dass er sich die größten aller Vorwürfe machte. Dann sprach sie: „Gandalf der Graue hat die Grenzen dieses Landes nicht überschritten.“ Und plötzlich durchfuhr mich eine Vorahnung: Der graue Pilger würde auch nie diese Grenzen mehr überschreiten, doch jemand anderes würde kommen, an seiner statt.
„Er ist in den Schatten gestürzt.“ Die Stimme meiner Mutter klang hohl und ihr Blick war in weite Fernen gewandert.
Als Legolas sprach, kehrte sie wieder zu uns zurück. „Er wurde zugleich von Schatten und Flammen genommen. Ein Balrog von Morgoth.“ Meines Vaters Blick lag nun voller Trauer und ich spürte, dass er dachte, wir hätten nun alles verloren. Legolas’ weitere Worte schienen ihn nur noch darin zu bestärken. „Denn unnötigerweise gingen wir in die Tiefen von Moria.“
„Unnötig war keine von Gandalfs Taten im Leben“, sagte meine Mutter, doch es schien die Gefährten nicht aufmuntern zu wollen. Auch wenn es ein Trost war, dass sein Tod nicht umsonst gewesen sein sollte, versiegten die Tränen nicht. „Wir durchschauen seine genauen Absichten nur noch nicht.“
Meine Mutter schien zu spüren, dass sich Gimli auch Vorwürfe machte, hatte er doch vorgeschlagen, unter dem Berg hindurchzugehen. Aber sie fand auch hier wieder die richtigen Worte: „Lasse die große Leere von Khazad-dûm nicht in dein Herz, Gimli, Glóins Sohn. Denn die Welt ist gefahrvoller als vormals, und in allen Ländern ist Liebe nun verwoben mit Trauer.“
Ich hörte, dass Boromir schluchzte, doch natürlich wusste ich nicht, was Mutter zu ihm sagte. Ich kannte seine Geschichte nicht, wusste nur, dass sein Vater Denethor, Truchsess von Gondor, ein schwacher Mensch war. Doch wir Elben hielten die meisten Menschen für schwache Wesen, die der Versuchung nicht widerstehen können und immer wieder nach der Macht greifen, sobald sich ihnen die Gelegenheit bietet.
„Was wird nun werden aus dieser Gemeinschaft?“ Mein Vater stellte die Frage, die uns allen in den Köpfen beschäftigte. Sie lag schwer auf unserem Gemüt wie ein Stein. „Ohne Gandalf ist die Hoffnung verloren.“
Schweigen herrschte nun zwischen den Gefährten und meinen Eltern. Niemand wollte etwas gegen die Worte meines Vater sagen, denn jeder dachte dasselbe. Doch ich konnte nicht zulassen, dass sie nun die Hoffnung aufgaben. Nicht jetzt und vor allem nicht hier! Denn dieser Ort sollte ihnen als Erholung dienen und sie nicht dazu bringen, aufzugeben. Ich musste etwas unternehmen.
Ich löste meine Hand aus Haldirs und trat neben meine Mutter. Die Gemeinschaft blickte mich erwartungsvoll an und die Stille nahm noch zu. Ich sagte: „Wenn ihr glaubt, dass die Hoffnung verloren sei, dann seid ihr es nicht würdig, von Gandalf bis hierher gebracht worden zu sein.“ Ich nahm nun meine Kapuze ab und mein Haar leuchtete im blauen Schein der Lampen wie der Himmel an einem wolkenlosen Sonnentag. Sie blickten mich erstaunt an, schienen dann aber zu begreifen.
„Ich bin Lilórien, Prinzessin dieses Landes, und ich sage euch, dass die Hoffnung nicht verloren ist. Ihr habt mich in eurer Mitte geduldet, ohne zu wissen oder zu erahnen, wer ich war. Ich habe euer Vertrauen mit meiner Maskerade missbraucht, dich ihr habt es mir wieder entgegengebracht. Gandalf stürzte in den Schatten, aber nicht nur er alleine kann euch führen. Ich sehe in eurer Mitte jemanden, der dies vermag. Schenkt ihm nun das Vertrauen, das ihr Gandalf und mir schenktet und die Hoffnung lebt weiter, in euch!
Ich sage nicht, dass es gelingen wird. Aber ich sage auch nicht, dass ihr scheitern werdet. Meine Reise ist hier zu ende, doch eure steht erst am Anfang. Und von jetzt bis zum Ende hin kann vieles passieren. Ihr dürft nur nicht aufgeben.“ Ich blickte jedem einzelnen in die Augen und hoffte auf ein Zeichen von Einsicht. Doch ich fand keines. Nicht einmal Aragorn schien an meine Worte zu glauben.
Etwas resigniert trat ich wieder zurück zu Haldir. Ich merkte nicht, wie Legolas’ Blicke mir folgten, wie verwundert er mich ansah. Aber ich hoffte, dass seine Augen auf mir ruhten.
Nach einem Moment der Stille erhob meine Mutter wieder ihre Stimme. „Eure Fahrt steht auf Messers Schneide. Geht nur um ein Weniges fehl und sie wird scheitern, was den Untergang für alle bedeutet. Und doch besteht Hoffnung, so lange die Gemeinschaft treu ist. Lasst euch das Herz nicht schwer machen. Geht nun und ruht. Denn ihr alle seid erschöpft nach so viel Plage und Trauer. Heute Nacht schlaft in Frieden.“
~*~*~*~
Ich hatte mich von den Gefährten verabschiedet und war alleine in mein Flett gegangen. Ich ließ mir Badewasser kommen, zog meine verschmutzten Kleider aus und war froh, als ich in das warme Wasser tauchte, mich wieder waschen zu können. Ich schrubbte mich gründlich ab, ließ mir noch einmal neues Wasser kommen und versorgte schließlich meine Wunden. Als ich in einem sauberen Kleid steckte, legte ich mich auf mein Bett und schloss für einen Moment die Augen. Sofort zeigte sich mir Legolas’ Gesicht und erschrocken fuhr ich hoch.
Jemand hatte an die Tür geklopft. Zögerlich rief ich denjenigen herein. Es war Haldir. Er kam zu mir und setzte sich ebenfalls aufs Bett. Er drückte mir einen Kuss auf die Stirn und sah mir in die Augen. „Bist du glücklich, dass du wieder hier bist?“
Ich wusste nicht, was ich ihm darauf antworten sollte. Eigentlich sollte ich glücklich sein und ich wäre es mit Sicherheit auch gewesen, aber ich war es trotzdem nicht. „Ja, ich bin glücklich.“ Ich hatte ihn noch nie offensichtlich angelogen. Doch zu liebevoll blickte er mir in die Augen. Ich konnte ihn jetzt nicht verletzten und sagen, dass ich am liebsten weiter mit der Gemeinschaft ziehen würde.
Er nahm mich in die Arme und erhob sich dann wieder. „Ich lasse dich jetzt allein. Du hast sicher viel, worüber du nachdenken musst. Wenn du mich suchst, ich bin bei deinen Eltern.“ Er warf mir noch eine Kusshand zu, dann ging er. Und ich war froh, dass er ging.
Kaum war er fünf Minuten fort, verließ auch ich meinen Baum. Ich ging über eine Hängebrücke hinüber zum nächsten Baum, stieg dann eine Treppe hinunter, eine andere wieder hinauf, bis ich einen ruhigen Ort gefunden hatte. Ich setzte mich auf einen Ast nieder und ließ die Füße hinunter baumeln. Meinen Rücken lehnte ich an den Stamm und schaute nach oben zu den Sternen.
Irgendwann begann ich eine Melodie zu summen. Ich verband sie mit Gandalf, seinen Taten, seiner Stimme und seinem Aussehen. Bald bildeten sich Worte heraus und ich stimmte ein Lied für ihn an:
„A Olòrin i yàresse
Mentaner i Nùmeherui
Tìrin i Ròmenòri
Maiaron i Oiosaila
Manan elye etevannen
Nòrie i me melanelye?
Mithrandir, Mithrandir, A Randir
Vithren ù-reniathach i amar galen
I reniad lìn ne mòr, nuithannen
In gwidh ristennin, i fae narchannen
I lach Anor ed ardhon gwannen
Caled veleg, ethuiannen.” [1]
Als ich das Lieb beendet hatte, stimmten andere Elben in den Gesang ein. Ich jedoch stieg wieder von meinem Baum herab und schlenderte zwischen den Bäumen umher. Vermutlich würde Haldir nach mir suchen, doch das war mir zu diesem Zeitpunkt egal. Eigentlich wollte ich nur alleine sein.
Es fühlte sich herrlich an, als meine nackten Füße durch das Gras gingen. Die Halme kitzelten meine Sohlen und ließen mich schmunzeln. Ich setzte mich an einen kleinen Bach und spielte mit den winzigen Fröschen, die am Rand saßen, bis sie auf einmal ins Wasser hüpften.
Zu erst bemerkte ich nicht, dass jemand hinter mir war. Erst als ich seine Spiegelung im Wasser sah, begriff ich, was die Frösche erschreckt hatte. Legolas setzte sich neben mich.
„Ich hoffe, ich störe Euch nicht, Prinzessin“, sagte er höflich. Er überkreuzte seine Beine und ich musste feststellen, dass ich bequem darin hätte liegen können, so klein kam ich mir vor. Aber meine Schwester war immer die größere von uns beiden gewesen. Sie hatte warme weibliche Rundungen, mein Körper war straff und sehnig.
„Ihr stört nicht, Prinz“, sagte ich. Ich drehte verlegen den Kopf zur Seite. Schon wieder errötete ich und ich wollte nicht, dass er es dieses Mal sah. „Was führt Euch hierher?“
„Euer Gesang“, antwortete er und ich war überrascht, dass er meine Stimme erkannt hatte. Er hatte sie doch erst ein einziges Mal vernommen. „Der Text Eures Liedes hat mich überrascht. Ich dachte nicht, dass Ihr eine so enge Bindung zu ihm hattet.“
Mein Blick wanderte in die Ferne, zurück zu den Tagen, an denen ich erst vor kurzem aus Valinor zurückgekehrt war. „Ihr würdet Euch wundern, wie eng unsere Bindung war.“ Deswegen kann ich ihn immer noch fühlen, wollte ich noch sagen, doch ich wollte ihn nicht erschrecken. „Er war ein sehr enger Freund meiner Familie. Und dadurch natürlich auch von mir.“
„Ich verstehe.“ Eine Weile herrschte jetzt Schweigen zwischen uns, doch es war nicht unangenehm. Es kam mir eher so vor, als würden sich unsere Geister gegenseitig abtasten und auf ein Zeichen des anderen warten, dass er wieder sprechen könnte. Doch ich schwieg weiter.
„Ihr seid die Verlobte von Haldir, nicht wahr?“ Diese Frage traf mich ganz und gar unvorbereitet. Alles hätte ich erwartet, nur dies nicht. Wie ein Schwertstreich in der Finsternis kamen diese Worte hernieder und trafen mich. Ich schnappte nach Luft.
Es dauerte eine Weile, bis ich im Stande war zu antworten und ich hoffte inständig, dass ich ihn nicht beleidigt hatte. „Ja, ich bin ihm seid meiner Geburt versprochen.“
„Dann müsst Ihr ihn sehr lieben.“ Dies klang eher wie eine Feststellung denn einer Frage. Verwundert blickte ich ihn an. „Nun ja, Ihr seid noch sehr jung und er ist vermutlich viel älter als Ihr.“
Ich lächelte ihn an. „Ein weiser Zauberer lehrte mich einst: Liebe dauert ewig, solange wir uns um sie bemühen. Wenn du jemanden liebst, kümmert es dich nicht, wie viele Jahre zwischen euch liegen, welche Taten er vollbracht oder begangen hat, aus welcher Familie er stammt oder welchem Geschlecht er angehört. Wichtig ist nur, dass du ihn liebst. Alles andere ergibt sich von selbst.“
Er setzte sich jetzt mir direkt gegenüber und sah mir tief in die Augen. Ich musste mich zusammennehmen, damit ich nicht wieder mein Gesicht anwenden konnte. Doch dieses Mal hielten mich seine blauen Augen in ihrem Bann gefangen. „Ihr wollt damit also sagen, dass man jeden lieben sollte, auch wenn diese Liebe nicht erwidert wird?“
Ich überlegte einen Moment, dann sagte ich: „Ja, so könnte man seine Worte verstehen. Doch ich glaube nicht, dass man jemanden sein ganzes Leben lieben kann ohne selbst Liebe zu empfangen. Schenkt man erst einmal liebe, bekommt man sie auch wieder zurück.“
Unverwandt erhob er sich wieder, beugte sich dann aber noch einmal zu mir herunter und küsste mich auf die Wange. „Ich danke Euch“, flüsterte er, dann verschwand er und ich blieb allein zurück.
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[1] Oh Olórin, der vor langer Zeit
Von den Herren des Westens geschickt wurde
Um über die Länder des Ostens zu wachen,
Immerweiser der Maiar,
Was brachte dich dazu, die zu verlassen,
Die dich lieben?
Mithrandir, Mithrandir, oh Grauer Pilger
Nie wieder wirst du die grüne Welt durchwandern,
Deine Reise endete in der Dunkelheit.
Die Bande durchschnitten, der Geist gebrochen,
Die Flamme von Anor hat die Welt verlassen,
Das größte Licht ist ausgegangen.