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Kapitel 8

 

~ Keep calm

 

Take care of your school, find a job, go to work

You‘re sittin‘ all day long on this couch


Als Emily am nächsten Morgen wach wurde, war sie ziemlich desorientiert. Ein paar Dinge schienen absolut nicht zusammen zu passen und ließen sie die Stirn runzeln, noch bevor sie die Augen aufschlug.

Es war so unglaublich still. Es fehlten die typischen Geräusche des Ego-Shooter-Spiels, welches Mike jeden Morgen, jeden Abend und die halbe Nacht durchgespielt hatte. Stattdessen hörte sie in weiter Ferne leises Klirren von Geschirr. Auch der obligatorische Zigarettenqualm war verschwunden. Alles, was sie riechen konnte, waren frischer Kaffee, Zimt und Vanille.

Auf einmal wusste sie wieder, wo sie war, wie sie hierher gekommen und was passiert war. Sie öffnete die Augen, die sich sofort mit Tränen füllten, und am liebsten wäre sie wieder unter die Bettdecke gekrochen und erst wieder heraus gekommen, wenn alles vorbei war. Blöderweise war sie in dem Moment, in dem sie ihre Umgebung wahrnahm, so verdutzt, dass sie gleich wieder vergaß, traurig zu sein, denn sie blickte geradewegs in das rostrote Gesicht einer Katze, die neben ihrem Kissen auf der Matratze hockte und sie anstarrte.

Mit einem spitzen Schrei sprang sie auf, warf dabei den armen Kater vom Bett, der protestierend miaute, und blieb mit der Decke vor sich mitten im Zimmer stehen. „Was zum...?“

Doch weiter kam sie nicht, denn als sie sich nun umsah, blieb ihr buchstäblich die Spucke weg. Sie hatte ja schon geahnt, dass Joe ein echtes Mädchen war, doch das hier war wirklich übertrieben. Das Bett war aus weißem Metall gefertigt, hatte Schnörkel und Bettpfosten, die an Vogelkäfige erinnerten. Die Tapete war grau und mit weißen Vögeln und Blumenranken verziert, die ein regelmäßiges Muster bildeten. Neben dem Bett stand ein kleiner Hocker, der wohl als Nachttisch dienen sollte. Auch er war weiß gestrichen, wies aber an den Ecken bereits Gebrauchsspuren auf. Auf einer kleinen Kommode hatte Joe scheinbar ihre ganzen Habseligkeiten aufgereiht und Emily stellte erschrocken fest, dass sie gar nicht mehr ihre Klamotten trug, sondern einen rosa Pyjama. Ihre eigenen Sachen lagen gewaschen, gebügelt und ordentlich zusammen gelegt auf der Kommode.

Etwas erschrocken ließ sie die Decke fallen. Der Kater beäugte sie noch immer skeptisch, machte es sich aber langsam auf der Bank im Erker des Zimmers bequem, wo ein Haufen Kissen lagen. Der ganze Raum wirkte wie aus einem Katalog für Vintage-Möbel abfotografiert.

Dieser Eindruck verstärkte sich noch, als Emily sich endlich dazu durchgerungen hatte, sich anzuziehen und ins angrenzende Badezimmer zu gehen. Das Bad hatte zwei Türen, von der eine vermutlich in Joes Schlafzimmer führte. Auch hier setzte sich der Vintage-Stil fort. In der Ecke unter dem großen Fenster stand eine alte Badewanne frei im Raum, nur getragen von den typischen goldenen Füßen. Der Waschtisch war tatsächlich ein Tisch, auf dem das Waschbecken nur aufgesetzt wirkte. Der riesengroße Spiegel dahinter war genauso verschnörkelt wie die Bettpfosten. Der Boden war weiß gefliest, die Wände bis zur Hälfte in einem Mintgrün. Darüber streckte sich eine Tapete mit mintgrünen und rosa Streifen bis zur Decke.

Alles wirkte harmonisch und perfekt aufeinander abgestimmt. Und es ließ sich Emily gleich wohl fühlen.

Als sie sich gewaschen und angezogen hatte, stieg sie vorsichtig die schmale Treppe ins Erdgeschoss hinunter. Dabei warf sie einen Blick durch das Fenster im Treppenhaus und staunte nicht schlecht, als sie das Meer auf der gegenüber liegenden Straßenseite erblickte. Sie hatte gar nicht gewusst, dass Joe in so einer unglaublichen Lage wohnte.

In der Küche duftete es köstlich. Der Geruch des frischen Kaffees mischte sich mit dem von frischem Gebäck. Dampfende Brötchen lagen in einem Brotkorb direkt neben einer Etagere, in der sich Zimtschnecken tummelten. Dazwischen gab es Teller mit Obst und klein geschnittenem Gemüse, Wurst und Käse, ein paar Pancakes und natürlich den typischen Porridge mit Milch.

„Boah“, machte Emily und zog damit Joes Aufmerksamkeit auf sich, die gerade dabei war, ihren Spülstein zu säubern. „Oh, gut, du bist wach“, sagte sie fröhlich und gar nicht Joe-like. „Ich wollte dich gerade wecken kommen.“

„Das hat dein Kater schon erledigt“, sagte Emily leicht abwesend, weil sie mit der Fülle an Lebensmitteln nicht klar kam. Das alles überforderte sie einfach nur. Noch nie hatte sich jemand für sie auch nur annähernd so viel Mühe gegeben. Und als keiner der beiden eine Weile lang nichts sagte, platzte es schließlich aus ihr heraus. „Ist das etwa alles für uns? Wer soll das denn nur essen?“

Endlich hörte Joe auf zu putzen. „Na ja, ich dachte, du bleibst heute einfach hier, während ich zurück in den Workshop fahre. Dann musst du nichts kochen, bis ich abends zurück komme, und du kannst endlich das Bad nehmen, was ich dir gestern versprochen hab, wozu wir aber nicht mehr gekommen sind.“

Der gestrige Abend war für Emily nur noch verschwommen vorhanden. Sie konnte sich erinnern, dass sie zu Joe ins Atelier gestürzt war, dass diese sie mit nach Hause genommen und ins Bett gepackt hatte. Doch das war auch schon alles. Sie hatte weder die beiden Katzen wahrgenommen, die es sich nun jeweils auf einem der Stühle gemütlich machten, noch dass an Joe offenbar eine Fernsehköchin verloren gegangen war, ganz zu schweigen von einer Innenarchitektin. Anerkennend sagte sie ihr das.

Joe lief sofort wieder rot an. Die Einrichtung, die sie damals noch von ihrer Mutter übernommen hatte, war alles andere als stilvoll gewesen. Als sie Auckland verlassen hatte, hatte sie auch gleich die meisten Möbel zurück gelassen. Aus ein paar alten Stücken hatte sie jedoch neue gemacht, hatte Stoffe ausgetauscht, das Holz neu angestrichen oder per Hand ein paar neue Muster aufgemalt. Und mittlerweile war ihr Haus ihr ganzer Stolz. „Und davon abgesehen: wenn du so wie ich kaum Sozialleben hast, suchst du dir eben etwas anderes, um dir die Zeit zu vertreiben. Und ich habe eben das Kochen für mich entdeckt.“ Und die Gartenarbeit und das Fotografieren und das Putzen...

Nachdem sie beide gefrühstückt hatten, machte Joe sich fertig, um zur Arbeit zu fahren. Sie konnte Emily leider ihr Auto nicht hier lassen, doch sie bot ihr ihr Fahrrad an, was an der Garage lehnte. „Und was ist in der Garage?“, fragte Emily neugierig, als sie sich ihre zweite Zimtschnecke gönnte.

„Mein privates Atelier. Aber da darfst du nicht rein.“

„Wieso?“, fragte Emily verdutzt, weil sie mit diesem klaren Verbot, was Joe ausgesprochen hatte, nicht gerechnet hatte. Normalerweise erlaubte Joe immer alles, egal um was es ging. „Ich mache sicher nichts kaputt. Versprochen!“

Joe zögerte. Sie hatte noch nie jemanden in ihre Garage gelassen. Dazu waren ihr ihre Arbeiten einfach zu wertvoll. Nicht, dass sie Emily zugetraut hätte, etwas mutwillig zu zerstören, doch es konnte genauso gut etwas aus Versehen kaputt gehen. Und das wollte sie nicht riskieren. Daher schüttelte sie nur entschuldigend den Kopf, streichelte Kaiser noch einmal, dann zog sie die Haustür ins Schloss.

Im Workshop angekommen warfen ihr die Leute, denen sie begegnete, neugierige Blicke zu. Es war äußerst ungewöhnlich, dass sie nicht die Erste heute Morgen gewesen war. Außerdem hatten genug Mitarbeiter mitbekommen, wie Emily gestern einen Heulkrampf erlitten hatte und zu Joe ins Büro gestürmt war. Und nun wollte natürlich jeder wissen, was los war. Doch sie wussten auch alle, dass Joe ihnen niemals etwas erzählen würde, wenn sie sich bedrängt fühlte. Daher schoben sie Beverley vor.

Die ältere Frau betrag Joes Atelier mit zwei Tassen Tee in der Hand. „Hallo, Kindchen“, sagte sie, stellte die Tassen an einem ungefährlichen Ort ab und nahm auf dem Schreibtischstuhl Platz. „Alles okay bei dir?“

Joe nickte nur, während sie den Stoff für Galadriels Kleid vor sich ausbreitete. Sie hatte dafür extra genügend Platz auf dem großen Tisch geschaffen, damit sie ihn in seiner ganzen Pracht einmal betrachten konnte. Leider gab es kaum natürliches Licht hier, weil die Oberlichtfenster sehr klein und schmal waren. Doch es genügte bereits um zu sehen, wie toll der Stoff schimmerte. Beim Dreh würde es vermutlich auch nur Scheinwerferlicht geben. Da würde sie sich noch etwas einfallen lassen müssen. Vielleicht kam ihr ja eine Idee, wie sie Pete beim Dreh von Der Herr der Ringe gekommen war.

Damals hatte man den Einfall gehabt, dass man Galadriel direkt ansehen können musste, wie alt sie war, ohne ihr Falten verpassen zu müssen. Ihre Aura sollte geheimnisvoll wirken und in ihren Augen sollte man ihre Weisheit erkennen können. Dazu hatte man das sogenannte Galadriel Light erfunden: eine Lichterkette, die direkt neben der Kamera hing, damit sich die einzelnen Birnen als Sternenlicht in Cate Blanchetts Augen fingen.

Sie würde Richard später zu diesem Thema befragen. Wohlmöglich hatte er schon eine Idee, mit der er aufwarten konnte. Doch um das Kleid fertigstellen zu können, würde sie erst einmal Beverley loswerden müssen.

Natürlich wollte Joe nicht unhöflich sein. Daher drehte sie sich zu der älteren Frau um und lächelte sie freundlich an. „Ja, alles okay.“

Beverley seufzte tief. Es war klar gewesen, dass Joe nicht mehr Worte als nötig verlieren würde. Also versuchte sie, ein bisschen mehr aus ihr herauszukitzeln. „Und was ist mit Emily? Ich hab gehört, dass es ihr nicht so gut gehen soll.“

„Ihr geht‘s auch gut“, sagte Joe beiläufig. Sie würde den Teufel tun und den Leuten hier erzählen, dass man Emilys Freund Mike verhaftet und ihren gesamten Besitz gepfändet hatte, sodass sie eigentlich nur noch mehr die Kleider besaß, die sie gestern getragen hatte. Das Haus war weg, die Möbel darin und die Autos. Alles hatte die Steuerfahndung mitgenommen. Und Mike saß nun vermutlich im Knast und würde bald vor Gericht kommen. Und wenn er ein kluger Mann war, was Joe eigentlich ziemlich bezweifelte, dann würde er Emily nicht mit in die ganze Sache ziehen. Denn sollte er das versuchen, würde Joe dafür sorgen, dass er das Gefängnis nicht mehr verließ.

Sie malte sich gerade haarklein aus, wie sie eine Schlägertruppe anwerben würde, um ihm sein loses Mundwerk zu stopfen, als Beverley sie an der Schulter berührte und in die Gegenwart zurück holte. „Wo ist Emily jetzt?“ Joe konnte ehrliche Besorgnis in der Stimme der Schneiderin hören und das brachte sie schließlich zur Vernunft.

Sie senkte den Kopf und sagte so leise, dass die andere sich zu ihr herunterbeugen musste, um etwas zu verstehen: „Sie wohnt jetzt erst mal bei mir. Aber bitte, trag nichts herum. Emily soll selbst etwas sagen, wenn sie wiederkommt.“

„Wann kommt sie denn wieder?“

„Das würde mich auch interessieren!“ Richard stand plötzlich in der Tür. Er betrachtete die Szene vor sich mit verschränkten Armen. Seitdem man Peter ins Krankenhaus gebracht hatte, musste er noch mehr arbeiten als vorher. Die Zeit, die sie vorher eigentlich gar nicht mehr gehabt hatten, weil der Dreh bereits in zwei Wochen beginnen sollte, wollte er nun effektiv nutzen. Es war nicht klar, wie lange Pete noch unter Beobachtung stehen würde, nachdem man ihn notoperiert hatte, doch Richard und Andy hatten beschlossen, alles auszunutzen, was ihnen an Zeit gegeben wurde.

Deswegen hatten sich die dunklen Ringe unter seinen Augen noch verstärkt und Joe konnte froh sein, dass Richards Frau Tanya genauso verrückt war wie ihr Mann, und es ihm nicht nicht vorhielt, wenn er länger arbeitete. Trotzdem machte sie sich ein bisschen Sorgen um ihren Chef.

Die Sorge verflog allerdings wieder, als sie in sein zerfurchtes Gesicht blickte. Auch wenn man ihm das nie wirklich ansah, wusste sie jetzt, dass er wütend war. Nicht wirklich richtig wütend, aber verärgert. Und das war für einen Richard Taylor schon eine verdammt negative Gefühlsregung.

Daher gab sie schnell klein bei. „Ich weiß nicht, wann sie wiederkommt. Ihr Freund hat sie verlassen und das hat sie ziemlich mitgenommen. Sie kann nicht zurück in ihr Haus. Deswegen wohnt sie jetzt bei mir. Es tut mir leid, Richard. Ich hätte direkt heute Morgen zu dir kommen und es dir erzählen müssen. Aber ich wollte Emily nicht in den Rücken fallen. Es ist ihre Sache, was sie erzählt und was nicht. Und ich möchte nicht diejenige sein, die etwas verrät, was gar nicht verraten werden soll. Ich...“

Richard stoppte ihren unnatürlichen Redefluss, indem er die drei Stufen zu ihr hinunter kam, ihre kleinen Hände in seine riesigen nahm und ihr tief in die Augen blickte. „Es ist schon gut, Joe“, sagte er langsam und gedehnt, als spräche er mit einem Kleinkind. „Ich bin euch nicht böse. Du wirst deine Gründe gehabt haben.“

Verdutzt sah Joe ihn an, während Beverley sich heimlich aus dem Raum stahl. Sie wusste, dass dies nun kein geeigneter Zeitpunkt mehr war, Joe auszuquetschen. Die kleine, junge Frau war schon durch den Wind genug, das war unverkennbar. Sie würde sie und Richard nun besser alleine lassen.

„Was?“ Mehr konnte Joe nicht sagen. Und nun musste Richard sogar lächeln. Er ließ sie los, fuhr aber fort, ihr weiter in die Augen zu sehen. „Ich bin euch nicht böse“, wiederholte er daher noch einmal.

„Oh.“ Ihre Augen wurden nur noch größer, als sie ohnehin schon waren, denn sie schien endlich zu begreifen, dass er sich nur Sorgen gemacht hatte. Also ließ sie sich kraftlos auf ihren Stuhl sinken, legte ihre Händen in den Schoß und betrachtete sie eingehen, als müsste sie sich jede Stelle davon einprägen.

Richard sah ihr an, dass sie die Situation belastete. Er konnte ja nicht ahnen, dass es um Emily schlimmer stand, als Joe ihn glauben lassen wollte. Doch er konnte erraten, dass Joe damit nicht gut klarkam. Vermutlich war das für sie eine derartig fremde Art, einem Menschen so nah sein zu müssen, dass sie sich buchstäblich in die Enge getrieben fühlte. Und da würde er ihr noch so aufmunternde Worte sagen können, es würde wohl kaum zu ihr durchdringen.

Daher beschloss er, ihr noch einmal väterlich die Hand auf die Schulter zu legen und sie dann alleine zu lassen. Doch dazu kam er nicht, denn jemand klopfte an die Tür.

Da Joe keine Anstalten machte, etwas zu sagen, bat er denjenigen herein, und zu seiner großen Überraschung war es Graham McTavish, der komplett als Dwalin kostümiert war.

Das Outfit sah großartig aus. Der Bart stimmte perfekt mit dem Rest überein und auch die Tattoos auf seinem kahlen Schädel wirkten kein bisschen übertrieben. Hätte er seine Waffen getragen, hätte er sicherlich ziemlich bedrohlich gewirkt. Doch sein bedröppelt wirkender Gesichtsausdruck ließ diesen Eindruck gleich wieder verschwinden.

„Hey“, sagte Graham und hob seine überdimensionierte Hand. Offensichtlich hatte man eine komplette Kostümprobe mit ihm gemacht, die nur Andy angeordnet haben konnte, und ihm dabei auch seine Handprothesen angezogen.

Als Graham erfasste, was sich gerade vor ihm auftat, zögerte er, vollständig den Raum zu betreten. „Störe ich?“, fragte er stattdessen und machte schon Anstalten, wieder zu gehen. Er deutete mit einem Daumen über seine Schulter zur Tür, doch Richard winkte schnell ab. Das war genau das Richtige, um Joe vielleicht ablenken zu können.

„Nein, nein!“, sagte er daher schnell. „Komm nur rein. Was können wir für dich tun?“

Der Schotte zögerte kurz, als er Joes Gesichtsausdruck sah, doch ein Blick auf Richard Taylor ermutigte ihn, doch zu sprechen. „Nun ja“, begann er, „offenbar hat man meinen Fatsuit ein bisschen geändert, denn das Kostüm schlackert am Rücken. Jedenfalls fühlt es sich nicht mehr so eng an, wie vorher. Könntet ihr vielleicht mal einen Blick darauf werfen?“

Zufrieden lächelnd wandte Richard sich an Joe. „Das ist deine Aufgabe!“, sagte er fröhlich. „Du hast das Kostüm entworfen und weißt am besten, wie es zu sitzen hat. Also kümmere dich bitte darum. Ich muss mich wohl mal mit Andy unterhalten.“ Und so plötzlich, wie er eben aufgetaucht war, verschwand er auch schon wieder. Zurück blieb eine verwirrte Joe, die verzweifelt versuchte, ihre Gefühle hinter einer Maske zu verbergen. Doch darin war sie noch nie sonderlich gut gewesen.

Deswegen war es kein Wunder, dass Graham auf sie zukam und ihr einen Arm um die schmalen Schultern legte. Dieses im Gegensatz zu ihm so winzige Wesen wirkte so verletzlich, dass es sofort alle Beschützer- und Vaterinstinkte in ihm weckte, die er vermutlich auch bei seinen Kindern verspürt hätte in solch einem Moment. Nur die Tatsache, dass er keine Ahnung hatte, sie sie darauf reagieren würde, hielt ihn davon ab, sie sofort an seine breite Brust und in seine übergroßen Arme zu schließen. „Ist alles okay mit dir?“

Statt einer Antwort sah sie ihn nur von unten an und fühlte sich durch den Größenunterschied, der dadurch, dass sie auf dem Stuhl saß, nur noch verstärkt wurde, noch kleiner als sonst. Dann stand sie auf, ließ seinen Arm von ihrer Schulter gleiten, und trat hinter ihn. Ohne ein weiteres Wort begann sie, den Stoff abzufühlen, darin probeweise zu ziehen und noch einmal Maß zu nehmen. Schließlich, nach einer halben Stunde, in der sie beide kein einziges Wort miteinander gewechselt hatten, forderte sie ihn leise und zögerlich dazu auf, den Mantel auszuziehen.

Zögerlich kam er ihrer Aufforderung nach. Er hatte ein bisschen Angst, dass etwas kaputt gehen könnte, wenn er das alleine tat. Doch zu seiner Erleichterung passierte nichts dergleichen.

Joe nahm ihm das Kleidungsstück ab, hängte es auf eine leere Kleiderpuppe und begann damit, die Naht am Rücken aufzutrennen. Der Stoff hatte sich wohl seit der letzten Anprobe ein bisschen gesenkt und damit die Nähe etwas auseinander gezogen. Wenn sie das Rückenteil um einen Zentimeter kleiner machen würde, würde es wieder perfekt sitzen.

Graham sah sich derweil ausgiebig im Raum um. Er trat zuerst an das Bild von Thranduil heran und besah es sich lange. Der Entwurf wirkte sehr beeindruckend auf ihn und er wünschte, dass er auch so ein Talent besessen hätte. Doch vermutlich hätte es ein bisschen lächerlich gewirkt, wenn er mit seinen Pranken versucht hätte, eine Nadel zu halten.

Er war bereits bei der zweiten Wand angelangt, als Joe ihn ansprach. „Mr. McTavish?“, fragte sein kleinlaut. „Das wird eine Weile in Anspruch nehmen. Wenn Sie wollen, können Sie gerne solange in die Kantine zum Mittagessen fahren.“

Breit lächelnd drehte er sich zu ihr um. „Ich bin zwar alt, Kleines“, sagte er mit seinem volltönenden Bass, „aber Mr. McTavish ist mein Vater. Ich bin Graham.“ Daraufhin kam er wieder zu ihr herüber und streckte ihr eine der riesigen Hände hin, die sie nur zögerlich ergriff. 

Es fühlte sich seltsam an, die Prothese zu berühren, doch sein Lächeln, das er ihr dabei schenkte, ließ sie das Gefühl vergessen. Stattdessen lief sie wieder rot an und ganz plötzlich war ihr die Situation nicht mehr so unangenehm, wie noch Momente zuvor. Stattdessen breitete sich ein kleine warme Sonne in ihrem Bauch aus, die sie sich seltsam geborgen fühlen ließ.

Und auf einmal wollte sie auch gar nicht mehr, dass er ging. Und weil er das scheinbar genauso sah, nahm er Platz, während sie an seinem Kostüm arbeitete, und erzählte ihr, was er bisher im Bootcamp für Zwerge schon alles erlebt hatte. Besonders schien ihm die Übung zu gefallen, in der sie alle lernen mussten, wie ein echter Zwerg zu gehen und zu rennen. Dazu hatten sie Stiefel bekommen, die die Ausmaße von Kindersärgen hatten und die verdammt schwer waren. Doch Graham machte es offenbar Spaß.

Er und Richard Armitage lieferten sich gerne kleine Zweikämpfen, in denen sie miteinander rangen wie kleine Kinder. „Und um meinem Zwergenkönig Respekt zu zollen“, berichtete er kichernd, „und ihm zu zeigen, was für ein toller Kampf es doch war, haben wir uns schließlich mit den Stiefeln abgeklopft, haben sie aneinander geschlagen und sind dann einfach weggegangen.“ Er brach wieder in heftigeres Kichern aus, was seinen Kopf rot anlaufen ließ. Das wirkte ziemlich befremdlich, da die Haube mit seinen künstlichen Haaren noch immer eine andere Farbe hatte, genauso wie seine Nasenprothese.

Auch Joe konnte sich nun ein Lachen nicht mehr verkneifen. Sie musste schließlich die Schneiderkreide weglegen, weil sie sich vermutlich sonst vermalt hätte, und hielt sich die Hände vor den Mund, während sie versuchte ihr Lachen zu unterdrücken. Das gelangt ihr aber kaum und schon bald quollen ihr vor Anstrengung Tränen aus den Augen, was Graham nun auch richtig Lachen brachte, als er sah, wie sie sich bemühte, Haltung zu bewahren. Sein Lachen steckte sie schließlich so sehr an, dass sie nicht mehr an sich halten konnte.

Beide hielten sich die Bäuche, bis sie ihre Muskeln spürten. Erst dann konnten sie sich wieder beruhigen.

„Du solltest uns mal besuchen kommen“, schlug Graham schließlich vor, als Joe mit dem Abnähen fertig war. Vorsichtig zog er den Mantel wieder an und brachte den Rest des Kostüms in Ordnung. Dabei stellte er zufrieden fest, dass es nun wieder perfekt saß. „Es würde dir bestimmt Spaß machen, uns zuzuschauen, wie wir uns zum Affen machen.“

Joe grinste ihn an, prüfte dabei noch einmal den Sitz und war ebenfalls zufrieden. „Vielleicht“, sagte sie jedoch nur, dann entließ sie Graham wieder.

Als sie am Abend völlig erschöpft nach Hause kam, fühlte sie sich trotzdem auf eine seltsame Art und Weise beschwingt. Das mochte zum Einen an Grahams Besuch und der Tatsache, dass er sie richtig zum Lachen gebracht hatte, gelegen haben. Aber hauptsächlich wohl daran, dass sie endlich mit Galadriels Kleid hatte beginnen können. Morgen würde sie den Rest des Stoffes zuschneiden können. Und dann würde sie mit dem Zusammennähen loslegen können, sobald alles ordentlich versäumt war.

Nachdem sie die Tür aufgeschlossen und ihren Schlüssel ans Schlüsselbrett gehängt hatte, verflog ihre gute Laune nach einem einzigen Blick in ihr süßes, kleines Häuschen allerdings sofort wieder.

Emily hatte scheinbar den Tag auf der Couch verbracht, denn ihre sonst so sorgfältig angeordneten Kissen lagen wild verstreut herum. Benutztes Geschirr stand auf dem Wohnzimmertisch, zwei Kissen und ihre Kuscheldecke waren zu Boden gerutscht, ihre sauber gestapelten Zeitschriften lagen überall herum und die Küche sah aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen.

Der Küchentisch sah noch genauso aus, wie sie ihn verlassen hatte. Nur, dass mittlerweile alle Zimtschnecken aufgegessen worden waren. Das Obst wurde langsam braun und die Gemüsesticks, die genau wie das Obst nicht angerührt worden waren, schrumpelten schon. Doch das Schlimmste war, dass ihr geheimer Ben&Jerry‘s-Vorrat geplündert worden war.

Drei leere Becher standen auf der Anrichte über der Spülmaschine, die benutzten Löffel lagen in einer Pfütze geschmolzenen Schokoeises daneben. Irgendwo im Haus hörte sie laute Musik spielen, was vermutlich dafür gesorgt hatte, dass Emily sie nicht hatte kommen hören. 

Joe seufzte gedehnt. Sie warf ihre Tasche in irgendeine Ecke, weil es eh keinen Sinn hatte, jetzt noch penibel zu sein, und ließ sich auf einen ihrer vielen unterschiedlichen Stühle plumpsen. Sie barg das Gesicht in den Händen und zwang sich zur Ruhe. Nach ein paar tiefen Atemzügen hatte sie sich wieder unter Kontrolle. Sie wusste, dass es Emily im Moment sehr schlecht ging und sie würde sie auch bestimmt nicht dafür verurteilen. Sie würde einfach versuchen, darüber hinwegzusehen und ihrer Freundin die Unterstützung zukommen lassen, die sie benötigte. Es würde ja wohl nicht allzu lange dauern, bis Emily wieder arbeiten ging und sich nach einer eigenen Wohnung umsah.

© by LilórienSilme 2015

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