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Kapitel 8

~ Keimende Ideen

 

Während unsere Gemeinschaft am Fuße des Götterberges zusammen wuchs, durchstreifte Delos bereits seit Tagen die Wälder Oromes. In den Armen trug er seine beiden Söhne, die er beschützte wie seine Augäpfel. Er hatte versucht, sie so gut wie möglich zu nähren, hatte ihnen die Früchte der Natur zu essen gegeben, doch noch immer waren ihre Schreie nicht verstummt. Er fürchtete um ihre Gesundheit, doch er wusste nicht mehr, was er noch tun konnte.

 

Eines Tages kam ihm schließlich jedoch der Zufall zur Hilfe. Als er aufwachte, weil die Sonne aufging, sah er eine Herde wilder Ziegen in der Nähe grasen und ihm kam die rettende Idee. Vorsichtig erhob er sich und schlich auf das Tier, welches am weitesten entfernt von den anderen stand, zu. Geschickt fing er es mit einem Seil ein, dann führte er es zurück zu seinem Lager. Er hatte Glück, denn es handelte sich um ein Muttertier, welches wohl gerade ein Zicklein geboren hatte, denn seine Euter waren prall gefüllt mit Milch.

 

Als er die nahrhafte Flüssigkeit erwärmt hatte, fütterte er seine Söhne so lange damit, bis sie schließlich selig einschliefen. Kurz darauf ertönte ein klägliches Meckern in der Nähe und das Zicklein, welches vermutlich zu seiner Ziege gehört, schob sich aus dem Unterholz heran. Obschon seine Situation alles andere als erfreulich war, stahl sich ein kleines Lächeln auf sein Gesicht. Heute Abend würde er nicht hungern müssen.

 

Noch lange hatte er den widerlichen Gestank von verbrennendem Fleisch in der Nase gehabt, als er seine Frau verlassen hatte. Doch der Duft, den das frische Hammelfleisch nun verströmte, ließ seinen Magen laut aufbegehren. Kaum fertig verschlang er auch schon große Bissen davon, bis er schließlich erschöpft niedersank.

 

Mit seinen Söhnen im Arm lag er da und blickte in den Himmel. Er fragte sich, wo er sich wohl nun befand und wo er würde endlich zur Ruhe kommen können. Er konnte nicht weit genug von der Stadt wegkommen, dachte er sich. Doch auch würde er seinen Söhnen ein zu Hause bieten müssen. Sie brauchten ein Dach über dem Kopf und einen Kamin, an dem sie sich wärmen konnten in kalten Nächten. Weit würde er nicht mehr mit ihnen fliehen können, ohne dass sie krank wurden.

 

Am nächsten Tag, nachdem er seine Kinder versorgt hatte und sie endlich eingeschlafen waren, machte er sich alleine auf den Weg, um die Gegend, in der er sich befand, zu erkundigen. Vielleicht war ihm das Glück erneut holt und er würde hier einen geeigneten Platz finden, um ein Haus zu errichten.

 

In der heißen Mittagssonne schwitzend erklomm er einen Hügel. Und nun breitete sich vor ihm eine wunderschöne Landschaft aus: saftige grüne Wiesen erstreckten sich zu seiner Linken, während rechts hinter ihm noch immer die Wälder Oromes lagen. Ein Stück weiter endete das Land plötzlich und eine scharfe Klippe stürzte sich in die Tiefe zum Meer hinab. Ein flacher Hügel schwang sich davor auf und er beschloss, dass dies das neue zu Hause seiner Familie werden würde.

 

Während er zurück ging, hielt er bereits nach brauchbaren Baumaterialien Ausschau und freute sich beinahe über die Vielfalt, die sich ihm hier bot. Wohlmöglich war der Rest der Ziegenherde noch nicht so weit weg gelaufen, sodass er sie alle einzeln einfangen konnte. Zuerst würde er einen Verschlag bauen, um dort die Tiere halten zu können.

 

Da es nicht so aussah, als würde es bald regnen, breitete er seinen Mantel auf der Spitze der Hügelkuppe aus und legte seine Söhne darauf. Dann brach er erneut auf, um etwas Holz für ein Feuer in der Nacht zu sammeln.

 

Es vergingen nur wenige Wochen, bis Delos eine winzige Hütte errichtet hatte, in denen er und seine kleine Familie nun Schutz vor dem nahenden Herbst finden konnten. Und auch wenn er das Lachen von Milui mit jeder Stunde schmerzlich vermisste, wusste er, dass sie in Sahîrim und Carim weiter lebte. Beide hatten ihre sanften Augen geerbt und er konnte ganze Tage damit verbringen, sie nur anzusehen, denn je öfter er das tat, desto mehr sah er von ihr in ihnen. Sein Kummer war beinahe grenzenlos, doch die Sorge um seine beiden Söhne und sein Verlangen nach Vergeltung trieben ihn unaufhörlich voran.

 

Etwa vier Monate waren seit seiner Flucht aus Valmar vergangen und aus der kläglichen Behausung war ein kleiner Bauernhof erwachsen. Vor der Hütte zog sich ein Zaun entlang, welcher nun die vollständige Ziegenherde und sogar noch ein Rochelin und zwei Rinder enthielt, die Delos bei seinen vielen Streifzügen durch die Wälder aufgespürt hatte. Seine Umgebung war ihm nun beinahe so vertraut, wie jedes Detail in den Gesichtern seiner Söhne. So war es auch nicht verwunderlich, dass er des Nachts von einem Geräusch geweckt wurde, was nicht zu den üblichen passte, die sonst, wenn es dunkel war, erklangen.

 

Darauf bedacht, keinen Laut zu machen, erhob er sich aus dem groben Bett, welches er für sich und seine Kinder gebaut hatte, griff automatisch nach dem Messer, welches griffbereit neben seinem Kissen lag, und schlich zur Tür. Er spähte durch einen Schlitz zwischen den Brettern hindurch, konnte jedoch trotz seiner guten Augen nichts erkennen. Er lauschte erneut, doch das Geräusch kam nicht wieder. Eine Weile blieb er noch in der wachsamen Stellung, dann schlüpfte er wieder unter die Decke, zog die warmen kleinen Körper näher an sich heran und schlief ein.

 

Das Weinen von Carim weckte Delos bald wieder und er wusste, dass es Zeit für das Frühstück war. Kaum hatte er sich gewaschen und angezogen, stimmte auch Sahîrim in das Geschrei mit ein. Er beeilte sich nach draußen zu kommen und die Ziegen zu melken, um ihnen ihre Milch geben zu können. Doch als er gerade dabei war, das erste Euter zu ergreifen, bemerkte er aus dem Augenwinkel eine Bewegung.

 

Delos schnellte von seinem Schemel hoch, bereit sich und seine Familie zu verteidigen, doch eine bekannte Stimme gebot ihm Einhalt. „Warte!“, rief Tarias und hob abwehrend die Hände, um zu zeigen, dass er unbewaffnet war. Delos ließ das Messer wieder in seinem Stiefel verschwinden, behielt jedoch die abweisende Haltung bei. „Was willst du hier?“, fragte er. „Hat man dich geschickt, um mich und meine Familie noch mehr zu demütigen?“

 

Tarias machte einen Schritt auf Delos zu, dieser zeigte ihm jedoch allzu deutlich, dass er auf Abstand bleiben sollte. Also blieb er vor dem Gatter stehen. „Nein, mein Freund“, sagte er. „Auch mich hat man meiner Ehre beraubt. Ein vorlautes Weib hat die Führung in Valmar an sich gerissen und mich der Stadtgrenze verwiesen. Manche von uns sind dort nun nicht mehr willkommen.“

 

Delos musste an die Frau denken, die er auf dem Götterberg erblickt hatte, und ballte automatisch seine Hand zu einer Faust. Er wollte seinem Gegenüber jedoch nicht zeigen, dass er wusste, was geschehen war. In Wahrheit konnte er es sich nur allzu deutlich ausmalen, doch Tarias schien das Thema wechseln zu wollen, denn er blickte sich nun suchend um. „Wo ist Milui? Geht es ihr gut?“

 

„Es geht dich nichts an, was mit meiner Frau geschehen ist“, sagte Delos. Er verschränkte die Arme vor der Brust. Dieses Spielchen wurde ihm langsam langweilig. „Ich frage dich erneut: was willst du hier?“

 

Wieder machte Tarias einen Schritt auf ihn zu. Dieses Mal jedoch ließ er sich von dessen grimmiger Miene nicht beeindrucken. Seine Hände umfassten die oberste Holzbohle des Gatters. „Wie ich schon sagte: man hat mich der Stadtgrenze verwiesen. Und weil ich sonst keinerlei Ort kenne, an dem ich bleiben könnte, möchte ich mich dir anschließen. Zusammen könnten wir vielleicht etwas gegen diese Aufmüpfigkeit ausrichten. Was sagst du dazu, mein Freund?“

 

Delos drehte sich um und widmete sich wieder dem Melken der Ziege zu. Deutlicher konnte er nicht werden. „Ich bin nicht dein Freund, Tarias. Auch du warst gegen mich, als ich versuchte, aus einem Haufen kopfloser Hühner wieder ein Volk zu machen. Und nun, da man dich gekränkt hat, kriechst du vor mir in den Staub. Wenn du dich mir tatsächlich anschließen willst, kannst du mir helfen, indem du den Stall ausmistest.“

 

Wütend krallten sich seine Hände nun um das Holz, dass es knackte. „Du wagst es“, zischte er zwischen zusammengepressten Zähnen hervor, doch der andere schnitt ihm das Wort ab. „Meine Frau ist tot“, sagte Delos, selber überrascht über die Kälte in seiner Stimme. „Ich musste ihren Körper verbrennen, damit er nicht den Tieren des Waldes zum Opfer fällt. Sie schenkte mir zuvor zwei Söhne, um die ich mich nun kümmern muss. Es interessiert mich nicht, was in Valmars Häusern geschieht.“

 

Tarias blickte ihn erstaunt an. Also hatte Legolas die Wahrheit gesprochen. Hatte er denn auch damit Recht, dass Delos wohlmöglich den Verstand verloren hatte? Er konnte es ihm nicht verdenken. Doch vielleicht konnte er diesen Umstand für sich nutzen. Und obwohl es weit unter seiner Würde war, griff er nach der Schaufel und öffnete das Gatter. Ohne ein Wort begann er den Dreck der Tier aufzuhäufen. Delos nahm es mit keiner Geste zur Geltung, doch das musste er auch nicht. Tarias wusste, dass er zumindest diesen Kampf gewonnen hatte.

 

Als Delos wieder aus dem Haus kam, nachdem er seine Söhne gefüttert hatte, saß Tarias auf dem Zaun und besah sich das, was Delos geschaffen hatte. „Dein Haus ist gut geworden“, sagte er. „Die Wände sehen dick und stabil aus. Und mit deinen Tieren hier könntest du den Winter gut überstehen.“

 

„Hör auf zu reden“, sagte Delos, „und mache dich nützlich. Zünde ein Feuer für deine Freunde an und bitte sie heran. Ich möchte mit ihnen reden.“ Es überraschte Tarias nicht, dass er das sagte. Und so tat er, wie ihm befohlen wurde. Kurze Zeit später, nachdem das Feuer brannte, begab er sich in den Wald und kehrte kurz darauf mit etwa einem Duzend Gleitern wieder auf. Wortlos ließen sie sich alle am Zaun nieder und warteten darauf, dass man sie willkommen hieß.

 

Delos hatte es sich auf seinem Schemel bequem gemacht. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und blickte jedem einzeln in die Augen. Sie sahen alle abgekämpft und müde aus und obwohl er eigentlich keinerlei Gesellschaft hatte haben wollen, gestattete er ihnen, hier zu bleiben.

 

Denn in der Zwischenzeit hatte er über Tarias’ Worte nachgedacht. Man hatte ihn aus der Stadt vertrieben und die, denen er hatte helfen wollen, hatten seine Bemühungen mit Füßen getreten. Dass diejenigen, die nun hier waren, nur zu ihm kamen, weil sie sich von ihm Rache erhofften, störte ihn wenig. Auch er hatte bereits daran gedacht, Vergeltung zu üben für den Tod seiner Frau. Sie wäre sicherlich nicht gestorben, wenn sie in Valmar ihre Kinder zur Welt gebracht hätte. Doch es war geschehen und nicht rückgängig zu machen.

 

„Sagt mir, wie lautet der Name der Elbe, die sich anmaßt, von den Göttern geschickt worden zu sein?“ Es überraschte die Übrigen, dass er wusste, dass Lilórien sich von den Göttern gesandt glaubte. So dauerte es eine Weile, bis jemand das Wort ergriff. Ihr Name war Mithren und die Bedeutung ihres Namens spiegelte sich in ihren grauen Augen wider. „Sie nennt sich Lilórien, Tochter von Galadriel. Aber wir wissen nichts über sie. Wir dachten, dass Celebrían die einzige Tochter der Noldor ist. Offenbar haben wir uns geirrt. Oder sie spricht nicht die Wahrheit.“

 

Delos schüttelte den Kopf. „Das ist eher unwahrscheinlich. Doch ich frage mich, was sie so lange im Osten gehalten hat, in den schwindenden Ländern. Warum kam sie erst so viele Jahre nach ihrer Mutter hierher? Und was gibt ihr das Recht, mit den Göttern zu sprechen?“

 

„Über ihre Vergangenheit wissen wir nichts“, sagte Tarias. „Doch sie trägt einen Ring mit dem Namen Caeya. Vielleicht ist es ein Ring der Macht.“ Delos erinnerte sich an das grüne Leuchten, was er auf dem Taniquetil gesehen hatte. War es möglich, dass die Valar einen neuen Ring geschaffen hatten? Aber dieser Gedanke war abwegig. Sie würden nicht den gleichen Fehler wie Sauron machen. Außerdem hatten sie offenbar keine Macht mehr, die sie in einem Ring einschließen könnten. Was also konnte es bedeuten?

 

Als die anderen bereits schliefen lag er noch lange wach und dachte über das Gesagte nach. Die Tochter von Galadriel war in den Westen zurückgekehrt. Wenn er sich recht erinnerte, hatte er einmal davon gehört, dass sie bereits vor Jahren in Valinor gewesen war, um hier zu lernen. Gab es nicht Geschichten darüber, dass sie sogar damals schon in der Gunst der Götter gestanden hatte? Doch was machte sie so besonders? Hatte sie eine Gabe, von der sonst niemand wusste?

 

Mit dem Entschluss mehr über sie zu erfahren schickte Delos eine Elbe mit dem Namen Delia noch vor Sonnenaufgang zurück nach Valmar. Sie sollte sich dort einschleichen und mehr über die Gemeinschaft und ihre vermeidliche Anführerin erfahren. Vielleicht konnte er so ein paar Informationen erbeuten, die einmal wichtig für ihn sein könnten.

 

Doch das Wichtigste in seinem Leben würden seine Söhne bleiben. Bei Sahîrim war bereits zu erkennen, dass er einmal ein großer Krieger werden würde. Er war bei der Geburt schon ein paar Zentimeter größer gewesen als sein Bruder und wirkte nun, nachdem sie jeden Tag mit der reichhaltigen Ziegenmilch gefüttert wurden, auch schon um einiges kräftiger als Carim. Beide hatten sie jedoch das stählerne Blau von Miluis Augen erhalten und er hoffte, dass sie es behalten mochten.

 

Nun, da er seinen Ältesten in den Armen hielt, wurde Delos klar, dass er ihnen keine allzu glückliche Zukunft würde bieten können in einer einfachen Holzhütte am Rande der Klippen, nur mit einem Haufen dilettantischer Bauern geschützt. Doch wenn er sich Mühe gab, konnte er aus ihnen Krieger formen, die eines Tages so weit waren, die Demütigung, die sie erfahren hatten, zu vergelten. Er musste ihnen zeigen, wie man kämpfte, wie man siegte, und wie man sich das zurückholte, was einem gestohlen worden war.

 

Jedoch um das zu erreichen, musste er erst einen Fuß in die Türe bekommen. Wenn er seinen Widersachern auf offenem Felde begegnete, bestand immer noch die Gefahr, dass es sich bei Caeya um einen Ring der Macht handelte. Da würde er subtiler vorgehen müssen. Und vielleicht konnte sogar einer seiner Söhne der Schlüssel zu seinem Plan werden.

 

 

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Namensbedeutungen:

 

Mithren – grau

Delia – sich verbergen

© by LilórienSilme 2015

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