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Kapitel 7

 

~ Love Hurts

 

To take a lot of pain

Love is like a cloud

Holds a lot of rain


Zwei Tage später erhielt das Team endlich eine gute Nachricht aus dem Krankenhaus. Dass Pete eingeliefert worden war, hatte sich bereits zur Presse herumgesprochen, doch selbst für die Öffentlichkeit konnte Entwarnung gegeben werden. Das einzige, was weder Richard noch den Rest wirklich aufmunterte, war die Tatsache, dass ihr Regisseur noch eine Weile unter Beobachtung stehen würde.

Allerdings fand Fran das Ganze mehr als gut. Joe hatte schon vor ein paar Wochen den besorgten Blick von ihr gesehen, wenn sie ihren Ehemann angesehen hatte. Es war nicht zu übersehen gewesen, dass Pete sichtlich abgebaut hatte. Viele hielten es für den erneuten Versuch einer Diät, doch Richard hatte Joe im Vertrauen erzählt, dass es dieses Mal so etwas sicher nicht sein konnte. Und nun hatten sie es mit allzu großer Gewissheit erfahren.

Für Joe waren die zwei Tage, die sie mehr oder weniger in der Luft gehalten worden waren, was den Zustand des Vaters der Kompanie anging, schrecklich gewesen. Sie hatte sich viel zu sehr in ihre Kindheit zurück versetzt gefühlt, was sich leider auch sehr auf ihre Arbeit niedergeschlagen hatte. Daran hatte auch die Begegnung mit den Schauspielern nichts geändert. Schließlich war es Richard zu bunt geworden und er hatte sie nach Hause geschickt.

Als sie dort schließlich alles geputzt, aufgeräumt und neu hergerichtet hatte, war ihr allerdings so sehr die Decke auf den Kopf gefallen, dass sie es keine zwei Minuten mehr in ihrem gemütlichen Wohnzimmer ausgehalten hatte. Sie hatte ihre Sachen gepackt und war zur Haustür gestürmt.

Dort stand sie nun immer noch unschlüssig herum, weil sie nicht recht wusste, ob sie das wirklich tun wollte. Was würde Richard sagen, wenn er sie heute wieder an ihrem Arbeitsplatz finden würde?

Vermutlich würde er gar nichts sagen, doch es würde ihr schon vollkommen reichen, wenn er sie nur ansah. Sie kannte ihn mittlerweile gut genug, um seine Blicke deuten zu können. Und da sie ohnehin schnell ein schlechtes Gewissen kam, selbst für Dinge, für die sie eigentlich gar nichts konnte, würde das die Sache sicherlich nicht besser machen.

Dafür hätte sie allerdings endlich einen Erfolg bei Galadriels Kleid vorweisen können. Während sie im Garten in der Abgrenzung zu dem kleinen Teich, den ihre Schildkröte ihr Heim nennen durfte, gekniet und die Wasserpflanzen beschnitten hatte, war ihr die Spiegelung der Sonne auf der Wasseroberfläche aufgefallen. Das hatte sie zu der Idee gebracht, dass man einen Stoff bräuchte, der Licht genauso einfangen konnte, wie Wasser es vermochte. Und wie es der Zufall so wollte, war ihr gleich zu Beginn ihres Jobs so ein Stoff in die Hände gefallen, als man sie geschickt hatte, das Art Department aufzuräumen.

Es war ein leichter Seidenstoff, sehr zart und überhaupt nicht geeignet für Hobbits, Menschen oder Zwerge. So ein Stoff konnte tatsächlich nur für Elben verwenden werden. Und selbst dort noch nicht einmal für jeden. Vermutlich hatte man diesen Ballen schon vor Jahren für den Herrn der Ringe gekauft, aber dann doch nicht verwendet.

Die Seide war leicht cremefarben, sodass sie schon fast weißt wirkte, dabei aber in keinem Fall steril war. Für eine Figur wie die Herrin der Galadhrim konnte man kein reines Weiß verwenden. Das passte nicht zu ihrer warmen Ausstrahlung. Und der Silberfaden, mit dem der Stoff gewebt war, band das Licht aus eine fast ätherische Art und Weise, sodass ein leichter Schimmer auf dem Stoff entstand. Daraus würde sich ein atemberaubendes Gewand schneidern lassen.

Schließlich fasste sie sich ein Herz, schnappte sich ihre braune Ledertasche mit den Stiften, dem Zeichenblock und ihrem Notizheft, griff nach ihrem Schlüsselbund am altmodischen Schlüsselbrett und verließ ihr kleines Häuschen auf der Karaka Bay Road.

Wie immer bot sich ihr hier ein herrlicher Anblick über das Meer. Nur eine Straße und ein schmaler Streifen Strand trennten sie von der Worser Bay an der südlichen Spitze vom wellingtoner Ortsteil Seatoun. Und bei gutem Wetter konnte man sogar quer über die Bucht hinüber zum East Harbour Regional Park sehen. Heute allerdings hatte sich das Wetter wieder ihrer Stimmung angepasst und so konnte sie dank des Sprühregens kaum einen halben Kilometer weit gucken. Daher klappte sie den Kragen ihrer Jacke hoch, die sie sich im Gehen übergeworfen hatte, und stiefelte zu ihrem Auto.

Der alte BMW parkte in der Einfahrt und sein schwarzes Verdeck glänzte von der Nässe. In letzter Zeit hatte sie nicht oft die Möglichkeit gehabt, offen zu fahren. Doch vielleicht, wenn sie Glück hatte, würde der Spätsommer noch ein bisschen Sonne mit sich bringen und das Wetter so schön werden lassen, wie es Anfang Januar gewesen war.

Weihnachten war dieses Mal sogar ziemlich erträglich gewesen. Sonst hatte sie die Feiertage meist allein zu Hause verbracht und war im Selbstmitleid über den Tod ihrer Mutter und die Abwesenheit ihres Vaters versunken. Dieses Mal jedoch hatte Emily sie zu sich und Mike eingeladen und sie hatten den Heiligabend zu dritt verbracht. Mike war ziemlich schnell ins Schlafzimmer verschwunden, wo Joe später gehört hatte, wie er ein Ballerspiel am Computer gezockt hatte. Doch der Abend mit Emily war wunderschön gewesen. Seitdem ihre beste Freundin Denver damals nach der Schule so viel auf Reisen gegangen war, um ihre Band und ihre CDs zu promoten, hatte sie nicht mehr so einen intensiven Moment mit einer Freundin erlebt. Da hatte sie sich endlich mal wieder richtig wohl gefühlt.

Als sie am nächsten Morgen einem halbnackten Mike in der Küche begegnet war, der sie nur mit einem lässigen und völlig machomäßigen Kopfnicken begrüßt hatte, war dieser Moment vorbei gewesen. Es hätte nur noch gefehlt, dass er „Na, Puppe, was läuft?“ zu ihr gesagt hätte.

Um einer unangenehmen Konversation – oder eher einem Schweigen ihrerseits und einem Monolog von Mike – aus dem Weg zu gehen, hatte sie in Windeseile ihre Sachen aneinander gerafft und war förmlich aus dem Haus der beiden gestürmt. Denn auch hier war ihr dieser seltsame Blick von Mike nicht entgangen, den Männer gelegentlich drauf hatten, wenn sie sich eine Beute ausgesucht hatten. Und das wollte sie sich, und vor allem anderen auch Emily, in keinem Fall antun!

Im Workshop angekommen holte sie sich erst einmal eine große Tasse Tee. Morgens mochte sie am liebsten Kaffee, doch tagsüber trank sie vor allem Pfefferminztee gesüßt mit Honig. Das sorgte dafür, dass ihr Atelier auch gerne mal danach roch, genauso wie ihre Oberteile, deren Ärmel sie ganz gerne mal in der Teetasse versengte. Als sie ihre erste Tasse schließlich geleert hatte und sich einen Überblick über die letzten beiden Tage verschafft hatte, die sie nicht anwesend gewesen war, ging sie zu den Stofflagern.

Hier stapelten sich Ballen um Ballen von Stoffen jeglicher Art. Man konnte so gut wie alles hier finden, was es derzeit auf dem Markt gab. Und alles war ordentlich sortiert. Es gab ein Regal nur für Zwerge, das niemand anrühren durfte, solange es nicht um Zwergenkostüme ging; es gab ein Regal für die Stoffe der Menschen; es gab ein Regal für verschiedene Lederarten. Doch ihr Weg führte sie geradewegs zu dem Regal, in dem die zarten Stoffe der Elben aufbewahrt wurden.

Es dauerte eine Weile, bis sie das Richtige gefunden hatte. Doch dann schließlich entdeckte sie den Ballen, den sie suchte, ganz oben. Natürlich, dachte sie genervt. Murphys Gesetz schlägt wieder zu!

Suchend sah sie sich um, fand schließlich die Leiter, die man hier benutzte, um an die oberen Lagen heranzukommen, legte sie vorsichtig an und krabbelte hinauf. Zum Glück hatte sie keine Höhenangst. Das wäre bei jemandem von ihrer Körpergröße, der ständig irgendwo raufklettern musste, auch sicher ziemlich ungünstig gewesen. Doch als sie oben angekommen war, stellte sich ihr das Problem, dass sie nun mit ihrer nicht unbedingt sehr ausgeprägten Kraft in ihren zarten Ärmchen dieses schwere Stück auch wieder heil herunter tragen musste. Und am besten gelang ihr das, indem sie nicht auch noch von der Leiter fiel.

Ganz langsam setzte sie ihre kleinen Füße auf die Sprossen und war so konzentriert, dass sie gar nicht bemerkte, wie jemand hinter sie trat. Als sie etwa auf seiner Höhe angekommen war, streckte er die Arme nach dem Stoff aus und nahm ihn ihr ab.

Erschrocken quietschte sie auf und wäre beinahe doch noch herunter gefallen, doch sie fing sich gerade noch, hielt sich an einer der oberen Sprossen fest, wirbelte dabei einmal um die eigene Achse und schlug etwas zu hart mit dem Rücken gegen die Leiter. Verdutzt kam sie schließlich zum Halten und starrte ungläubig in die Augen ihres Chefs Richard.

Der große Neuseeländer sah sie entschuldigend an. „Es tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken“, sagte er, stellte den Stoffballen auf dem Boden ab und reichte ihr eine Hand, um ihr herunter zu helfen. Dankbar griff sie danach, jedoch nicht ohne vorher rot angelaufen zu sein. Als sie mit beiden Beinen wieder fest auf dem Boden stand, atmete sie erleichtert auf.

Richard unterdessen musterte den Stoff, den sie unter mittlerer Lebensgefahr aus dem obersten Regal heraus geholt hatte, mit wachsender Neugier. „Ist der für Galadriels Kleid?“ Joe nickte, während sie sich eine Haarsträhne hinter ihr Ohr strich. Meistens trug sie die lange blonde Pracht zu einem Pferdeschwanz zusammen gebunden, weil sie sie beim Arbeiten störten. Heute jedoch hatte sie darauf verzichtet. Und so wallten sie in leichten Wellen bis auf ihre Schultern herunter und noch etwas darüber hinaus.

„Der Stoff ist wirklich sehr schön. Zeig mir doch mal bitte deine Zeichnung dazu.“

Ohne ein Wort zu sagen ging Joe vor in ihr Atelier und er folgte ihr schweigend. Er hatte bereits geahnt, dass sie es nicht lange zu Haus aushalten würde, und verzichtete daher auf einen tadelnden Satz. An ihrem Arbeitsplatz angekommen legte er den Ballen auf eine mehr oder weniger freie Stelle auf ihrem Tisch und kam zu ihr. Sie wühlte schon in ihrer Mappe mit den Entwürfen, fand allerdings nicht, was sie suchte, drehte sich um und scannte die Wände mit den Augen ab.

In einer Ecke des Raumes befand sich ein kleines Waschbecken. Darüber hing ein kleiner, runder Spiegel, der jedoch nicht mehr zu sehen war. Er war, genauso wie der Rest der vier Wände, mit Zeichnungen, Stoffproben und kleinen Farbpaletten übersät, die auf den ersten Blick keinerlei Ordnung folgten. Erst auf den zweiten Blick fiel ihm auf, dass sie es nach Rassen unterteilt hatte. Und auf den dritten Blick durchschaute er ihre Ordnung sogar. Vermutlich hätte er es sich genauso angeordnet.

So hing zum Beispiel die eine Zeichnung von Thranduil in seinem Blättermantel direkt neben der Zeichnung seiner Krone, während die Kostüme für seinen Sohn Legolas darunter angeordnet waren. Diese kamen ihm auch schrecklich vertraut vor und er konnte nur hoffen, dass Orlando Bloom zusagen würde, noch einmal in die Rolle des Düsterwaldprinzen zu schlüpfen.

Die Zeichnung von Galadriel thronte schon fast in der Mitte der Wand, die dem Eingang gegenüber lag. Daneben hatte Joe noch Platz gelassen für eventuelle weitere Blätter, doch bisher hatte sie keinen neuen Geistesblitz gehabt, wie die Herrin der Galadhrim hätte aussehen können. Und als Richard sich den Entwurf besah, wusste er auch genau, wieso: es war perfekt! „Das sieht großartig aus!“

Schüchtern senkte Joe den Kopf, als wollte sie sich bedanken, brachte jedoch wieder einmal kein Wort heraus. Auch das breite Lächeln des Designers konnte sie nicht dazu bewegen, Danke zu sagen.

Daher ergriff er wieder das Wort. „Ich werde den Entwurf mitnehmen und ihn Fran oder Philippa mitgeben, falls Pete wieder soweit genesen ist, dass er sich in seinem Krankenhausbett langweilt. Wenn es ihnen gefällt, dann kannst du sofort mit dem Zuschneiden anfangen. Die Maße von Cate kann ich dir zukommen lassen. Allerdings haben wir noch nicht die definitive Zusage von ihr.“

Er wandte sich schon zum Gehen, drehte sich dann aber noch einmal zu ihr um und sah sie gütig an. Dabei legte er seine Stirn in weiche Falten, die ihm das herrliche Aussehen eines kleinen Hundes gaben. „Du weißt, dass du mit mir reden kannst, wenn etwas nicht stimmt?“

Joe nickte wieder nur. Dieses Mal schaffte sie es jedoch, während sie heftig ihre Hände knetete, Danke zu sagen. Und gerade, als Richard den Raum wieder verlassen wollte, wurde er beinahe von einer stürmischen Emily umgerannte, die ihn offenbar gar nicht gesehen hatte. Die Schneiderin wirbelte herum, entschuldigte sich nachlässig bei ihm, während er nur abwinkte und verschwand, dann drang sie auf Joe ein.

Die konnte sofort sehen, dass etwas nicht stimmte. Sie hatte Emily nicht darüber informiert, dass sie heute wieder zur Arbeit kommen würde, daher konnte sie nur darauf tippen, dass sie eben jemand im Lager gesehen haben musste und es ihrer Freundin erzählt hatte. Die war nun so außer sich, dass ihre Hände leicht zitterten und sie keinen ganzen Satz sprechen konnte. Sie griff nach Joes Händen und drückte sie viel zu fest an ihre Brust. Dann setzte sie zum Sprechen an, bekam jedoch nur einen merkwürdig hohen Laut heraus. Erst beim dritten Anlauf verstand Joe, dass ihre Freundin den Namen ihres Freundes aussprach: Mike.

„Em, was ist denn nur los?“ Ernsthaft besorgt vergaß Joe für einen Moment ihre Scheu solchen Situationen gegenüber und führte Emily zu dem einzigen Stuhl im Raum. Bestimmt drückte sie sie darauf und sah sie schließlich erwartungsvoll an. So, wie sie Emily kannte, würde es nicht lange dauern können, bis sie etwas sagte.

Doch die Schneiderin musste noch ein paar Mal schlucken, bevor sie sich soweit gefasst hatte, dass sie sich verständlich ausdrücken konnte. Heute war sie viel zu spät auf der Arbeit erschienen und hatte es auch bisher nicht fertig gebracht, auch nur ein Stück zu nähen. Immer wieder war sie in Tränen ausgebrochen, hatte sich trösten lassen oder war auf der Toilette verschwunden. Doch sie wollte eigentlich nur mit Joe darüber reden, denn vermutlich würde sonst niemand Verständnis für sie haben.

„Mike“, sagte sie endlich, „hat mir heute erzählt…“ Doch wieder brachte sie es nicht übers Herz, die Worte auszusprechen. Das würde es alles nur zu real machen, und das wollte sie nicht. Am liebsten wollte sie das alles vergessen und nicht mehr darüber sprechen. Nie wieder!

Joe konnte jedoch genau sehen, dass ihrer Freundin etwas auf der Seele lag. Daher ging sie vor ihr in die Hocke und sah ihr tief in die Augen. „Emily, bitte, sag mir doch, was los ist. Wenn ich kann, helfe ich dir!“

Das brachte einen Damm in ihr zum Einstürzen und plötzlich konnte sie sich nicht mehr daran hindern, unkontrolliert zu schluchzen. Ihr ganzer Körper zitterte, ihr Atem ging nur stoßweise und Joe hatte die größten Schwierigkeiten, etwas aus dem Gestammel herauszuhören. Doch als Emily schließlich fertig war, glaubte sie, es halbwegs verstanden zu haben.

„Also hat Mike eure gesamten Ersparnisse in eine Firma gesteckt, die gar nicht existierte? Und diese Firma wurde nun von der Steuerfahndung dicht gemacht und das Finanzamt hat alles zu Geld gemacht, was es finden konnte.“ Emily nickte unter Tränen. „Und wie lange geht das schon so? Ich meine, wie lange hat er die Firma schon?“

„Zwei Jahre.“

Beinahe wäre Joe nach hinten über gefallen. Sie musste erst einmal paar Mal tief durchatmen, bevor sie die Tragweite dieser Information verarbeitet hatte. „Er hat zwei Jahre lang jeden Cent, den du angespart hast, um dir eine eigene Schneiderei aufzumachen, abgezwackt und in diese dubiose Firma gesteckt? Das…“ Doch weiter kam sie nicht, denn ihr waren plötzlich die Worte ausgegangen.

Leider bestätigte dies nur das Bild, was sie bisher von Mike gehabt hatte, und machte ihn für sie nur noch mehr zu einem Menschen, den man ganz dringend von anderen Individuen fern halten sollte, wenn man nicht darauf aus war, dessen Leben zu zerstören. Am liebsten hätte sie diesen Kerl höchstpersönlich verprügelt! Doch erstens war ihre Gestalt nicht sehr furchteinflößend und ihre Kraft vermutlich nicht der Rede wert, und zweitens würde sie sich das ohnehin nicht trauen. Alles, worauf sie nun noch hoffen konnte, war, dass Emily nicht auch noch dort irgendwo mit drin steckte. Dass er ihr quasi das Geld unter dem Hintern weggestohlen hatte, war schon schlimm genug!

Ohne großartig darüber nachzudenken sagte sie plötzlich: „Komm, Liebes, du kannst erst mal bei mir im Gästezimmer wohnen, bis wir eine andere Lösung gefunden haben.“ Sie half Emily beim Aufstehen. „Und jetzt fahren wir zu mir nach Hause und du nimmst ein langes, ausgedehntes Bad, um die Nerven ein bisschen zu beruhigen. Und danach koche ich uns etwas.“

Joe war zwar gerade erst im Workshop angekommen, doch die Belange ihrer Freundin waren in diesem Moment eindeutig wichtiger. Dann würde Galadriels Kleid eben noch einen Tag länger warten müssen.


***


Heiße Tränen laufen über die Wange deiner besten Freundin und du kannst sehen, dass sie sehr mit sich kämpfen muss. Doch aufhalten kann sie es nicht. Ihre Schultern erbeben leicht unter dem Schluchzer, den sie nun ausstößt, und ihre Lippe zittert. Ihre Hände, die viel größer sind als deine, zittern ebenfalls, als sie nach deinen greifen.

„Was mache ich denn jetzt nur?“, fragt dich Denver. Ihr schmales Gesicht ist von Tränenspuren durchzogen, die Wimperntusche ist verschmiert und der Lippenstift bereits in den Taschentüchern verteilt, die sich zu euren Füßen sammeln. Selten hat die schöne Denver Jones einen so jämmerlichen Anblick geboten, dass selbst du dich in diesem Moment schöner finden müsstest als sie.

Doch solche Gedanken hast du nicht. Deine Besorgnis gilt ganz allein dem gebrochenen Herzen deiner Freundin. Und auch, wenn du nicht weißt, wie sich so etwas anfühlt, weil du noch nie wirklich geliebt hast, geschweige denn mit einem Jungen zusammen warst, vergleichst du es innerlich mit dem Schmerz, den du gefühlt hast, als deine Mutter dich verlassen hat. 
Verlassen werden tut immer weh, denkst du traurig. Deinen eigenen Schmerz hast du bereits vor Jahren tief in dir vergraben. Niemandem erzählst du je etwas davon, dass du noch immer manchmal weinend wach wirst des nachts, wenn du von deiner Mutter träumst, denn das geht niemanden etwas an.

Aber Denver ist zu dir gekommen mit ihrem Schmerz, denn sie weiß, dass du Verständnis für sie hast. Du hast immer Verständnis. Und du hast immer ein nettes, aufmunterndes Wort auf den Lippen. Auch, wenn es nicht viel ist, was du sagst. Das, was du sagst, macht es meist weniger schlimm. Deswegen vertraut Denver dir.

Dieses Mal jedoch sagst du nichts. Stattdessen öffnest du ihre Hände und ziehst sie in eine feste Umarmung hinein. Und du hältst sie so lange fest, bis ihre Schultern endlich aufgehört haben zu beben.

© by LilórienSilme 2015

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