LilórienSilme
~ Fanfiction-Autorin ~
~ Zwei Lager
„Legolas“, flüsterte ich, als ich mich umdrehte. Erst glaubte er sich verhört zu haben, aber dann erblickte er mich und ich konnte in seinen Augen die gleiche Verwirrtheit erkennen, wie sie in mir tobte. Wie in Zeitlupe nahm ihr wahr, dass er auf mich zukam. Ganz langsam hob er eine Hand, führte sie zu meinem Gesicht und berührte es, wie um zu prüfen, ob ich nicht vielleicht doch nur ein Produkt seiner Fantasie war.
Als seine weiche Hand meine Wange streifte, zuckte ich zusammen. Es war wie ein kleiner Stromschlag, der durch meine Haut fuhr und sie kribbeln ließ. Und es kam mir vor, als wären wir wieder vor den Toren Mordors und warteten auf unser Schicksal. Nur dieses Mal schlug es viel erbarmungsloser zu als vor hundertzwanzig Jahren.
Legolas hauchte meinen Namen. Sein Atmen streifte mein Gesicht. Doch dieser magische Augenblick verflog so schnell, wie er gekommen war, als Tarias dazwischen fuhr. Seine grobe Hand riss an meinem Arm und zwang mich dazu, ihn anzusehen. Er packte die Hand mit Caeya und hielt sich den Ring dicht unter die Augen, als müsse er jeden einzelnen Schliff des Steins überprüfen. Legolas machte einen Schritt nach vorne, um mich zu verteidigen, doch ich hielt ihn mit einem Blick zurück. Tarias’ Griff lag fest um meinen Oberarm und ich konnte fühlen, wie er langsam taub wurde. Doch ich verzog keine Miene, sondern wartete geduldig, bis er alles gesehen hatte, was er sehen wollte.
Schließlich stieß er mich von sich und schnaubte verächtlich. „Woher sollen wir wissen, dass du den Ring wirklich von den Göttern erhalten hast?“, sagte er und drehte sich von mir weg. „Wenn du das nicht sehen kannst, Tarias“, sagte ich, „dann bist du blind.“ Empört drehte er sich um, während alle anderen um uns herum den Atem anhielten. So schnell, wie er zuschlug, konnte ich nicht reagieren. Mit einem Mal begann meine Wange zu brennen und mein Kopf wurde zur Seite geschleudert. Doch als ich begriff, was geschehen war und mich wieder gefasst hatte, sah ich ihm fest in die Augen. Ich sah aus dem Augenwinkel, wie Legolas auf ihn zugehen und ihn zur Rede stellen wollte, doch ich gebot ihm mit einer Handbewegung Einhalt. Dies war mein Kampf.
Ich sah ihn so lange eindringlich an, bis er den Blick abwandte. Dann richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf Legolas. Ich kämpfte die Unruhe in mir nieder, versuchte mir nicht anmerken zu lassen, wie es in mir aussah. „Was soll das heißen, Delos ist bereits wahnsinnig geworden? Bist du ihm begegnet?“
Legolas schüttelte den Kopf. Er wirkte gefasst, auch wenn ich sehen konnte, dass seine Fäuste leicht zitterten. „Gimli und ich waren hinter den Pferden her, die nach dem Erdbeben aus der Stadt geflohen waren. Als wir sie gefunden hatten, sah ich, dass ein Tier lahmte. Ich zog ihm einen Splitter aus dem Huf und es ließ mich aufsitzen. Zur Probe ritt ich ein kleines Stück, bis zum Waldrand. Dort rastete ich und ließ meinen Blick schweifen. Doch schon bald entdeckte ich etwas.“
Er machte eine Pause und schluckte. Offenbar schienen ihm die Erinnerungen zu schaffen zu machen. Ich überlegte kurz, ob ich ihm beruhigend meine Hand auf den Arm legen sollte, doch ich scheute mich davor, ihn zu berühren. Schließlich fuhr er fort und entband mich von einer Entscheidung. „Hinter den Bäumen stieg eine Rauchsäule auf. Als ich dort ankam, konnte ich zuerst nicht begreifen, was ich dort sah. Doch der Wind blies den Rauch in eine andere Richtung und ich erkannte, dass es ein Körper war, der dort brannte. Ich ging näher her, so nah, bis ich schließlich sah, dass es Milui war, die dort lag. Der Boden um sie herum war blutgetränkt und ihr Bauch war flach.“
Lalwen, eine zierliche Elbe mit dunklen Haaren, schlug die Hände vor den Mund. Ich vermutete, dass sie mit Milui befreundet war. „Sagt mir nicht, dass sie tot ist“, flüsterte sie und die ersten Tränen begannen sich in ihren Augen zu sammeln. Doch Legolas blieb stumm. Wortlos blickte er sie an, Mitleid spiegelte sich auf seinem Gesicht wider und uns allen war klar, was er sagen wollte. „Delos muss ihr den Bauch aufgeschnitten und das Kind entnommen haben, dann hat er ihre Überreste verbrannt“, sagte er leise, aber wir konnten jedes Wort verstehen. Lalwen brach in Tränen aus, als sie das hörte, und Ithil-dî musste zu ihr gehen und sie stützen.
Ich jedoch hatte nur ein Wort deutlich herausgehört. So deutlich, dass es in meinem Kopf noch nachhallte, bis etwas in mir schrie, dass ich mich geirrt haben musste. Um mich herum brach eine Diskussion los. Alle riefen wild durcheinander, dazwischen konnte ich hören, wie Lalwen schrie und schluchzte und Legolas einen Lügner nannte. Bis sich alles zu drehen begann und ich mich hinsetzen musste.
„Ruhe!“, rief ich schließlich und alle verstummten gleichzeitig. Sie sahen mich alle verdutzt an, warteten darauf, dass ich etwas sagte. Ich schluckte ein paar Mal, da sich meine Kehle trocken und rau anfühlte, bis ich mir sicher war, dass mir meine Stimme nicht versagen würde. „Sagtest du, dass sie ein Kind in ihrem Leib trug?“
Es klang so unwirklich, so widernatürlich, dass sich mir alle Haare aufstellten, als wäre die Luft geladen wie vor einem starken Gewitter. Und als er nickte, wurde mir beinahe schlecht. Wie war das möglich? Seit fast dreitausend Jahren hatte es keine Elbenkinder mehr gegeben. Warum jetzt? Warum gerade hier? Und warum sie? Hatten die Götter sich vielleicht geirrt? Oder schlimmer noch: hatten sie es nicht gesehen?
Als es still blieb und keine weitere Erklärung folgte, kam Nírnaeth auf mich zu. „Was hat das zu bedeuten, Herrin? Werden wir alle nun sterblich?“ Ich fürchtete mich davor, auszusprechen, was mir schwante. Aber belügen durfte ich sie nicht. Sie würden es früher oder später ohnehin erfahren.
Ich straffte meine Schultern, räusperte mich und stand langsam auf, um Zeit zu schinden. Alle Augen waren nun auf mich gerichtet. Wir hatten eine tote Mutter, einen verrückten Vater und ein Elbenkind, was möglicherweise ebenfalls tot sein konnte. Und wir hatten bereits begrabene Elbenfürsten. Mein Kopf drohte zu platzen von den vielen Überlegungen, die ich in diesem Moment anstellte, aber egal, welche Verzweigung ich nahm, alle führten mich unweigerlich zu ein und derselben Schlussfolgerung.
„Das Gleichgewicht der Unsterblichkeit hat sich verschoben“, sagte ich in die Stille hinein und sie schien dadurch nur noch drückender zu werden. „Dadurch, dass die Götter ihre Macht verloren haben und diese Gestade nicht mehr schützen können, scheint sich die übrige Welt etwas von Aman zurückholen zu wollen. Stück für Stück geht der Einfluss der Mächtigen verloren und somit auch ihre Gnade. Mit meiner Mutter hat es begonnen. Und weil wir nun in der Lage sind zu sterben, gewährt uns Eru die Gunst, unser Geschlecht trotzdem unsterblich werden zu lassen, indem er uns neue Nachkommen schenkt. Milui war die erste, doch ich bin sicher, dass sie nicht die letzte war, die ein Kind empfangen hat.“
Alle sahen sich nun gegenseitig an. Besonders diejenigen Elben, die einen Gefährten gefunden hatten, wurden kritisch beäugt. Schließlich blieb auch mein Blick an meiner Cousine haften. Ob sie wohl auch schwanger werden würde?
Sie spürte meinen Blick und errötete. Schon lange sehnte sie sich danach, Telperion einen Sohn zu schenken, doch seit dem zweiten Zeitalter war in Aman kein Kind mehr geboren worden. Und selbst in Mittelerde hatte es im dritten Zeitalter kaum Nachkommen gegeben, obwohl dieser Teil der Welt sterblicher war, als jeder andere. Wie lange würde es wohl dauern, bis auch ich starb? Denn so wie es nun aussah, war ich diejenige, die die meisten Jahre zählte.
Tarias riss mich aus meinen Überlegungen heraus indem er sich ruckartig zu mir umdrehte. „Sie redet im Wahn!“, zischte er und zeigte mit einem Finger auf mich. „Ich sage euch, es ist ihre Schuld, wenn wir bald alle den Tod erleiden müssen. Ich bleibe nicht länger hier und lasse ihren schlechten Einfluss auf mich wirken. Nein! Da suche ich mein Glück lieber alleine.“
Ohne eine Reaktion abzuwarten drehte er sich um, raffte seine Sachen an sich und ging einfach davon. Als er aus unserem Blickfeld zwischen den Häusern verschwunden war, erhob sich der Nächste. Auch er nahm seine Sachen, klemmte sie sich unter den Arm, und folgte Tarias. Und so folgten ihm noch mehr Elben nach, bis sich unsere Gruppe still und heimlich auf beinahe ein Drittel minimiert hatte.
Ermüdet ließ ich den Kopf hängen. Ich wusste, dass ihnen die Wahrheit nicht gefallen würde, aber es hatte keinen anderen Weg gegeben. Zum Glück waren noch ein paar bekannte Gesichter unter denen, die nun mit mir hier saßen. Meine Cousine und ihr Mann waren geblieben. Genauso wie Legolas, Gimli, Nírnaeth und Cirion. Auch Lalwen und ihr Gefährte Rochanu saßen noch an ihren Plätzen. Und es wäre gelogen gewesen, wenn ich gesagt hätte, dass ich nicht froh darüber war.
Doch irgendwie wurde ich das Gefühl nicht los, dass immer noch eine Spannung in der Luft lag, die ich mir nicht erklären konnte. Ich beschloss, noch etwas zu sagen: „Wenn Ihr wollt, könnt Ihr gehen. Ich zwinge Euch nicht hierzubleiben. Auch kann ich Euch nicht versprechen, dass Ihr es hier besser haben werdet als anderswo. Das Einzige, was ich mit Gewissheit sagen kann, ist, dass die Valar über uns wachen. Auch wenn es den Anschein hat, als haben sie uns verlassen. Ich kann deutlich spüren, dass sie in unserer Nähe sind und es nicht zulassen werden, dass wir den Mut verlieren.
Meine Aufgabe wird es von nun an sein, diese Stadt wieder so weit aufzubauen, dass man in ihr wohnen kann. Wer mir dabei helfen möchte, sei herzlich dazu eingeladen. Wir müssen unsere Stärke wiederfinden. Wenn Ihr also dafür beten wollt, dass wir Kraft genug für dieses Unterfangen haben, biete ich Euch an, dies gemeinsam mit mir zu tun.“ Und um meine Worte zu unterstreichen ging ich auf die Knie, schloss meine Augen und legte meine Hände auf mein Herz. Ich konnte hören, dass es mir viele gleichtaten. Ob es alle waren, wusste ich nicht, denn ich behielt die Lider geschlossen.
Als es wieder ruhig war, hob ich mein Gesicht gen Himmel. Ich spürte die Sonne auf meinem Gesicht und ihre Wärme, wie sie mich durchflutete. Caeya an meiner Hand schien die Strahlen ebenso zu genießen, denn ich konnte fühlen, wie er leuchtete. Von irgendwoher kam schließlich eine sanfte Melodie und wir begannen wie auf ein geheimes Zeichen hin alle zu singen.
Erst war es noch sehr zögerlich, doch bald schon schallten unsere Stimmen in den Himmel und die vielen verschiedenen Klänge erfüllten meinen Verstand, mein Herz und meinen Körper, bis ich zu vibrieren schien. Es war als befände ich mich in einer Art Trance, in der ich meine physische Gestalt verließ und mein Geist über das Land flog. Und ich konnte spüren, dass ich nicht alleine flog.
Doch das Gefühl verging so schnell, wie es gekommen war. Augenblicklich verstummten wir alle wieder und als ich die Augen öffnete, war es bereits dunkel geworden und ein einziger Stern leuchtete hell am Firmament. Er schien uns zuzuzwinkern und uns zu necken, und ich wusste, dass Varda unsere Stimmen gehört hatte und dass sie uns nun als Eines sah. Wir waren geistig zu einer Gemeinschaft geworden, die von nun an zusammen daran arbeiten würde, mit unseren Händen und mit unserem Verstand eine bessere Welt zu schaffen.