LilórienSilme
~ Fanfiction-Autorin ~
Kapitel 6
~ Alte Liebe
Hätte ich noch die Gabe der Voraussicht besessen, hätte sie mich vielleicht davor gewarnt, was in den nächsten Stunden passieren würde, doch so stolperte ich ohne Vorkenntnisse in die Ereignisse, die nun folgten.
Nachdem ich mit Telperion und Ithil-dî das Frühstück bereitet hatte, saßen wir mit allen zusammen um mehrere Feuer und hielten ein stilles Mahl ab. Keiner schien ein Wort über die letzte Tage sprechen zu wollen, denn es kam mir so vor, als wären sie alle zu stolz, um zuzugeben, dass sie sich selber in dieses Unheil manövriert hatten. Und ich hütete mich davor, sie deswegen anzusprechen, denn ich wollte nicht, dass sie mich gleich zu beginn alle hassten.
Die Ringe hatte ich immer noch im Haus meiner Cousine verborgen. Ich wollte nicht riskieren, dass man sie mir stahl. Nicht, weil ich mich durch den Besitz bereichern wollte, sondern weil mir der Ring von Haldir viel bedeutete und Caeya nicht von jedem getragen werden konnte. So gab ich mich wie jeder andere auch und versuchte möglichst unauffällig zu beobachten und zu lauschen.
Oft hörte ich, wie die Überlebenden einer einstigen Hochkultur darüber tuschelten, wie schrecklich das Leben doch nun war und dass sie vermutlich alle bald sterblich sein würden und sterben mussten. Ich selbst sah dem Tod mit weniger Abscheu entgegen. Ich hatte schon so viele sterben gesehen, dass es für mehr als ein Leben reichte, und fürchtete mich selbst kaum noch davor, in Mandos’ Hallen einzugehen, da ich wusste, dass dort meine Familie auf mich warten würde. Doch vermutlich war ich mit Ausnahme von Arwen und Lúthien die einzige Elbe auf Erden, die sonst noch freiwillig den Tod gewählt hätte. Nur dass ich es nicht aus Liebe, sondern aus Pflichtgefühl tun würde.
„Die Götter haben uns verflucht“, zischte jemand dicht neben mir und zustimmendes Gemurmel hob sich an. Entsetzt drehte ich mich dorthin, wo ich den Tumult vernahm, und funkelte sie böse an. Der, der gesprochen hatte, sah sich durch meinen Blick herausgefordert und erhob sich. Er deutete mit dem Finger auf mich. „Glaubst du es etwa nicht?“, fragte er, als erwarte er, dass ich aufspringen und den Göttern auf der Stelle abschwören würde.
Eigentlich hatte ich diese Art von Unterhaltung vermeiden wollen, doch nun schien es zu spät zu sein. Alle Augen waren auf mich gerichtet, die meisten sahen mich an wie ein Insekt, welches sie schnellstmöglich zerquetschen wollten, doch ich konnte auch einige zweifelnde Blicke erkennen. Würde ich bei ihnen mehr Glück haben?
Geschlagen erhob ich mich und wappnete mich innerlich für eine Schlacht. „Wenn ich ehrlich sein soll“, seufzte ich, „glaube ich nicht, dass die Götter uns verlassen haben. Jedenfalls nicht freiwillig.“ Meine Worte hinterließen ungläubiges Schweigen. Man hätte die angespannte Luft mit einem Messer durchschneiden können, so kam es mir vor. Ich fühlte mich in dieser Situation und in meiner Haut überhaupt nicht wohl und das musste ich auch ausstrahlen, denn ein siegessicheres Lächeln breitete sich nun auf dem Gesicht desjenigen aus, der mich herausgefordert hatte.
So schnell wollte ich mich jedoch nicht vertreiben lassen. Also straffte ich die Schultern und richtete mich zu meiner vollen Größe auf. Leider war er immer noch einen Kopf größer als ich, denn, obwohl meine Mutter die größte Elbe unter den Galadhrim war, wie man sich erzählte, hatte ich nur die blauen Augen und die hellen Haare dieser Rasse geerbt. Mein Körperbau war klein und zierlich und nicht besonders respekteinflößend, doch ich versuchte mein Bestes, nicht beeindruckt von ihm zu sein.
„Wie ist Euer Name?“, fragte ich ihn und wählte bewusst die Höflichkeitsform der Anrede. Vielleicht würde er sich dadurch etwas milder stimmen lassen, wenn ich ihn höher einstufte, als er mich.
„Tarias“, sagte er und blitzte mich aus dunklen Augen an. Ich musste mir ein Lächeln verkneifen, denn selten hatte ich erlebt, dass ein Name so gut eine Persönlichkeit wiedergab. „Ich bin der Älteste unter den Elben hier.“
„Und das macht Euch allwissend?“, gab ich zurück und stützte meine Hände in meine Hüften. Ich wusste, dass es ein schlechter Versuch war, ihn aus seiner Reserve zu lochen, doch immerhin musste ich es versuchen. Hoffentlich zwang er mich nicht, meine Herkunft preiszugeben. Ich würde es ungern sehen, wenn man mich als Prinzessin erkannte.
Tarias blickte mich von oben herab ab, als habe er das Lamm schon zur Schlachtbank geführt und müsste nun nur noch das gewetzte Messer an die Kehle legen. Ein kleiner Schritt zur Seite und ich wäre verloren. „Nun, zumindest kann ich mehr Lebenserfahrung aufweisen, als jeder hier. Und das zeichnet mich immerhin dazu aus, Empfehlungen auszusprechen.“
„Ihr meint wohl, Befehle zu geben!“, zischte ich zurück. Es machte mich unglaublich ärgerlich zu sehen, wie er sich aufspielte, und das, obwohl er nicht die leiseste Ahnung davon hatte, was in der Welt vor sich ging. Sein Leben lang hatte er immer unter dem Schutz der Götter hier in Valinor gelebt. Und nun, da er dazu gezwungen wurde, seine Angelegenheiten selbst zu regeln, gab er den Göttern die Schuld an allem. Doch was ich noch als viel schlimmer erachtete, war, dass er aus Unsicherheit nach denjenigen trat, die schwächer waren als er, um sich selbst als stark darzustellen.
Ohne dass ich es wollte, überkam mich eine unbändige Wut. Ich wusste genau, dass ich in dieser Situation nicht fähig war, einen klaren Gedanken zu fassen und wahrscheinlich Dinge tun würde, die ich später nur bereuen würde. Doch eine glückliche Fügung bewahrte mich davor.
„Hier seid ihr alle“, ertönte eine tiefe Stimme vom anderen Ende des Platzes her, auf welchem wir uns niedergelassen hatten. Ein Klirren von Metall auf Metall und das Stampfen von zwei schweren Stiefeln auf dem harten Boden begleitete die Gestalt, als sie zu uns herüber kam. „Ich hab mich schon gefragt, wo ihr Spitzohren alle abgeblieben seid. Ihr könnt euch freuen, dass ich euch eure Gäule wiedergebracht habe. Aber dankt mir nicht zu viel. Das hält so ein kleiner Körper nicht aus.“
Den Spott in der Stimme hätte ich unter Tausenden wiedererkannt. Eben noch hatte in meinem Inneren ein Kampf gewütet, dem das Kräftemessen der Naturgewalten gleichkam, doch nun war mein Zorn verraucht und ein überwältigendes Gefühl raubte mir die Fähigkeit zu sprechen.
„Hütet Eure Zunge, Herr Zwerg“, warnte Tarias ihn und schritt aus meinem Blickfeld. Unfähig etwas zu sagen oder mich zu rühren, lauschte ich auf das kleine Wortgefecht, was sich daraufhin entspann, und ich konnte hören, dass diese zwei sich nicht sonderlich grün waren. Ob es nun an der natürlichen Feindschaft zwischen Elben und Zwergen liegen mochte, oder daran, dass sie sich persönlich auf den Tod nicht ausstehen konnten, schien dabei keine Rolle zu spielen.
Irgendwann, nach einer Ewigkeit, wie es mir schien, konnte ich endlich meine Beine dazu bringen, sich zu bewegen und mich umzudrehen. Unsere Blicke kreuzten sich und ich konnte nicht verhindern, dass sich ein breites Lächeln auf meinem Gesicht ausbreitete, wohingegen mein Gegenüber mich ansah, als hätte er einen Geist gesehen.
„Gimli“, hauchte ich. Dass ich ihn hier, am Ende der Welt, treffen würde, hatte ganz und gar weit außerhalb meiner Vorstellungskraft gelegen. Natürlich hatte ich gehört, dass er mit ihm hierher gekommen war, aber so vom Glück verfolgt war ich nicht, dass ich mir selber eine Begegnung mit ihm gegönnt hätte.
Der Zwerg ignorierte nun den keifenden Elb vor sich, trat an ihm vorbei und kam auf mich zu. „Bei Balins Barte“, sagte er und starrte mich weiter unverwandt an. Seine braunen Augen saugten sich an meinem Anblick fest. Es war offensichtlich, dass er mich hier genauso wenig erwartet hatte, wie ich ihn. „Herrin, was macht Ihr hier? Wir dachten, Ihr wäret in Lórien begraben worden wie Eure Nichte.“
Müde schüttelte ich den Kopf. „Das ist eine Geschichte, die zu lang ist, um sie hier zu erzählen. Wir werden jedoch die passende Gelegenheit finden, uns auszutauschen, mein alter Freund“, sagte ich und schloss den verblüfften Zwerg in meine Arme. Wahrscheinlich erwartete er, dass ich so viel Geist war, wie der Herr vom Dimholt.
„Wieso überrascht es mich nicht“, sagte Tarias laut und zog damit wieder unsere Aufmerksamkeit auf sich, „dass Ihr Euch kennt? Die Frage ist nur: woher?“ Als er gesehen hatte, wie wir beide uns umarmt hatten, hatten ein paar Schräubchen und Rädchen in seinem Kopf angefangen sich zu drehen. Die Art und Weise, wie Gimli mit mir redete, deutete darauf hin, dass er großen Respekt vor mit hatte. Und vor was hatte ein Zwerg schon Respekt, außer vor Gold, Edelsteinen und Waffen?
Widerwillig löste ich mich von meinem alten Freund und richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf Tarias. „Und mich überrascht es nicht, dass das Volk der Elben unterzugehen droht, wenn so viel Feindschaft selbst zwischen den letzten Überlebenden herrscht. Wäre es nicht besser, wenn wir alle zusammen halten würden?“
Eine braunhaarige Elbe erhob sich von ihrem Platz. „Sie erzählt uns den gleichen Unsinn, den auch schon Delos von sich gab!“, rief sie und wedelte mit ihrem Löffel. Wieder erhob sich zustimmendes Gemurmel. Manche senkten die Köpfe, als wünschten sie sich nichts sehnlicher, als von hier zu verschwinden. Andere wiederum nickten bekräftigend. Das Lager war gespalten. Ich konnte den Zwiespalt in ihren Herzen spüren. Auch wenn sie sicher wirkten, ein falsches Wort von der richtigen Person, und sie würden ihre Meinung ändern.
„Nírnaeth, nenne diesen Namen nicht mehr“, sagte ein Elb, der aussah, als habe er sein ganzes Leben an der Küste verbracht. Seine Haut war braun gebrannt von der Sonne und sein Haar ausgeblichen. Doch seine Augen waren hellwach. „Er ist ein Verräter, der nur versucht hat, uns alle auseinander zu bringen. Er wollte uns gegeneinander aufhetzen, um so leichtes Spiel mit uns zu haben.“
„Und wer seid Ihr?“, fragte ich ihn. Er neigte höflich seinen Kopf und sagte: „Mein Name ist Cirion, Sohn des Círbann, und ich spreche für alle Elben, die an den Küsten Amans leben.“ Ich unterbrach ihn mit einer harschen Handbewegung. „Sollte nicht jeder für sich selbst sprechen, Cirion?“ Beschämt senkte er den Kopf und ich konnte eine verräterische Röte auf seinen Wangen erkennen.
Eine angespannte Stille lag nun über den Versammelten. Mit meinen Worten hatte ich ihre Neugier geweckt. Ich konnte spüren, dass sie wissen wollten, wer ich war. Woher nahm eine Fremde den Mut, so mit ihnen zu sprechen? Und Tarias sagte schließlich, was sie alle dachten: „Bist du nicht ein wenig zu jung, um uns älteren Elben sagen zu können, was wir zu denken haben?“
Gimli lachte laut auf und ließ sie alle zusammen zucken. Sein tiefes Grollen hallte über den Platz wie ein Gewittersturm. Als er sich wieder beruhigt hatte, zeigte er auf mich. „Ihr solltet sie lieber nicht so respektlos behandeln. Sie ist vermutlich älter, als ihr alle zusammen.“ Er musste immer noch kichern und wischte sich schließlich eine Lachträne aus dem Augenwinkel. Und wenn ich nicht so eine Furcht vor ihrem Zorn gehabt hätte, hätte ich vermutlich mit ihm über ihre verdutzten Gesichter gelacht.
Doch bevor noch etwas Schlimmeres passieren konnte, schaltete sich Telperion ein. Er wusste, dass ich niemandem sagen wollte, dass Galadriel meine Mutter war. Nur er und meine Cousine wussten es bisher. „Nun, vielleicht sollten wir uns erst einmal wieder beruhigen und zu Ende unser Mahl einnehmen. Mit vollen Mägen lässt es sich leichter reden.“
„Ich verzichte auf unnötige Reden“, zischte Tarias ihn an und stieß ihn bei Seite. Sofort war Ithil-dî bei ihm Mann und half ihm aufzustehen. Sie funkelte Tarias wütend an, verkniff sich jedoch eine Bemerkung. Auch sie konnte die Spannung in der Luft spüren. Ein falsches Wort und er würde vermutlich handgreiflich werden. Sie konnten von Glück sagen, dass er keine Waffe bei sich trug.
Fieberhaft überlegte ich nun, wie ich die Situation entschärfen konnte. So wie es aussah, hatten Delos’ Reden eine tiefe Unsicherheit bei allen geweckt, die schwer zu überbrücken war. Wenn ich wollte, dass sie mir zuhörten, musste ich ihr Vertrauen gewinnen. Doch die Tatsache, dass ich alle ihre Wunden versorgt und ihnen zu Essen und zu Trinken gegeben hatte, schien genauso wenig geholfen zu haben, wie die Tatsache, dass ich mit einem Zwerg befreundet war. Ich fürchtete, dass es bald keinen anderen Weg mehr geben würde, als ihnen zu sagen, wer ich war und warum ich hier war.
Ich seufzte tief. „Nun gut“, sagte ich und zog damit wieder alle Aufmerksamkeit auf mich. „Wie es aussieht, habt Ihr alle Euer Vertrauen in Euch selbst verloren. Erst, wenn Ihr dieses wiedergefunden habt, könnt Ihr verstehen, was geschehen ist.“ Ohne eine Antwort abzuwarten ging ich ins Haus und holte Caeya aus seinem Versteck. Ich streifte ihn auf meinen Finger und betrachtete ihn eine Weile. Ich überlegte, ob es wirklich das Richtige war in diesem Moment, doch so sehr ich mich auch bemühte, ich konnte keinen anderen Weg finden.
Also trat ich wieder hinaus ins Licht. Das Funkeln des Smaragds ließ alle mich ansehen und ihre Augen weit aufreißen. Bevor jemand etwas sagen konnte, erhob ich meine Stimme. „Mein Name ist Lilórien, Tochter von Galadriel, Herrin des Lichts. Die Götter selbst gaben mir diesen Ring.“ Ich hielt Caeya hoch, sodass ihn alle sehen konnten. „Und sie betrauten mich mit der Aufgabe, Euch wieder zum wahren Glauben zurück zu führen.“ Eine Weile blieb es still, denn sie mussten alle erst einmal verarbeiten, was ich soeben gesagt hatte. Doch dann sprach Tarias erneut. Ich konnte Wut in seinen Augen sehen. Er fühlte sich gekränkt und in seinem Stolz verletzt. Sein Kiefer spannte sich an. „Du redest genauso wirr wie Delos. Man sollte dich aus der Stadt jagen! Oder euch aneinander binden und in der Wildnis zurück lassen. Dann könntet ihr euch gegenseitig mit eurem Gerede in den Irrsinn treiben.“ Er steigerte sich so in seine Wut hinein, dass ich Angst hatte, er könnte jeden Moment auf mich zulaufen und mir an die Kehle gehen.
Doch ich versuchte, mich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen und antwortete ihm sanft: „Es gibt nur einen Unterschied zwischen ihm und mir: er hat von Euch blindes Vertrauen in die Götter verlangt. Ich sage: vertraut Euch selbst, dann werdet Ihr wieder stark.“
„Unsinn!“, schrie er mir entgegen. „Du bist genauso wahnsinnig wie er es ist.“ Drohend kam er einen Schritt näher, hielt den Zeigefinger hoch erhoben und funkelte mich an. Ich legte mir schon eine passende Antwort zurecht, die ihn hoffentlich besänftigen würde, doch dazu kam ich nicht mehr.
Ich hörte, wie sich die schnellen Schritte eines Pferdes unserem Versammlungsort näherten. Dann sprang jemand vom Rücken des Tieres und kam auf uns zu. „Das wird nicht mehr möglich sein“, sprach er und alle drehten sich zu ihm um, „denn ich fürchte, dass Delos bereits wahnsinnig geworden ist.“
In meinem Kopf begann sich plötzlich alles zu drehen. Mir brach der kalte Schweiß aus und meine Kehle schnürte sich zu, als ich seine Stimme hörte. Wie erstarrt stand ich da und wagte kaum zu atmen, weil ich fürchtete, dass es eine Illusion war und ich sie vertreiben könnte, wenn ich mich bewegte. Doch als Gimli seinen Namen aussprach, wusste ich, dass ich nicht träumte. Dort hinter mir stand tatsächlich Thranduils Sohn, der Prinz der Waldelben aus dem Düsterwald.
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Namensbedeutungen:
Tarias – Widerspenstigkeit
Nírnaeth – Wehklagen
Cirion – Schiffsmann, Matrose
Círbann – Hafen