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Kapitel 6

 

~ Here I am

 

It's a new world, it's a new start

It's alive with the beating of young hearts


Mitten in der Nacht schreckte Joe schweißgebadet aus dem Schlaf hoch. Es dauerte ein paar unendlich lang erscheinende Augenblicke, bis sie wieder wusste, dass sie immer noch in ihrem Schlafzimmer war, bis ihr Gehirn wieder in der Realität angekommen war.

Sie wusste nicht mehr, was sie genau geträumt hatte, doch sie wusste noch genau, dass es um ihre Mutter gegangen war. Wie von selbst fanden ihre kleinen Hände, immer noch zitternd, den Lichtschalter zu ihrer Nachttischlampe. Die Energiesparlampe flammte auf, warf ihr warmes Licht voraus, bis es auf einen Bilderrahmen traf. Schmucklos, glatt und aus Aluminium fasste er ein schlichtes Bild.

Die Frau darauf lächelte fröhlich, ihre braunen Augen strahlten, blickten direkt in die Kamera. Ihre schmalen Lippen lagen gerade so aufeinander, als würde sie jeden Moment anfangen, lauthals loszulachen. Doch dazu war es nie gekommen, denn ihr Gesicht war in diesem einen Augenblick erstarrt.

Jedes Mal, wenn Joe das Bild ihrer Mutter betrachtete, versetzte es ihr einen leichten Stich in ihr kleines Herz. Das Foto war kurz vor ihrem achten Geburtstag entstanden, als noch niemand von der schrecklichen Krankheit gewusst hatte, die bald nicht nur ein Leben zerstören sollte. Es war das letzte Foto, auf dem Maria Taylor unbefangen gelächelt hatte. Alle anderen Bilder, die später kamen, hatten nicht nur einen anderen Blickwinkel, weil die Tochter, die sie geschossen hatte, langsam größer wurde. Es hatte auch seit diesem Tag immer eine Traurigkeit in Marias Augen gelegen.

Joe schaute auf ihren Wecker, der neben ihr blinkte. Es war gerade kurz nach vier Uhr morgens, doch sie spürte, dass sie nicht mehr würde einschlafen können. Daher schwang sie ihre Beine aus dem Bett, schlüpfte in ihre Pantoffeln und schlürfte in die Küche. Ihre beiden Kater blinzelten sie verschlafen vom Fußende ihres Bettes an, als wollten sie sagen, dass es noch nicht Zeit für ihr Frühstück war. Doch Frauchen ignorierte es. Stattdessen zog sie sich in Ruhe an, füllte die Fressnäpfe auf und machte sich auf den Weg in den Workshop.

Die Nachricht von Peters Krankheit hatte sie schwer getroffen. Es war ihr noch nie leicht gefallen, über körperliche Schwächen zu reden oder damit umzugehen. Deswegen war sie auch nach Hause gegangen, nachdem Richard seinen Mitarbeitern die Hiobsbotschaft überbracht hatte. Die Stimmung, die danach an ihrem Arbeitsplatz geherrscht hatte, war erdrückend gewesen, beinahe unerträglich für jemanden, der mit so etwas nicht gut zurecht kam. Sie hatte nie gelernt, über so etwas zu sprechen, hatte nie gelernt, etwas derartiges zu verarbeiten, weil die Schwäche, die die Krankheit bei ihrer Mutter hervorgerufen hatte, immer todgeschwiegen worden war, bis es buchstäblich zu spät gewesen war.

Energisch verdrängte die junge Frau die düsteren Gedanken, die sich dem trüben Wetter, was von Norden her aufzog, anzupassen gedachten. Sie wollte heute an etwas anderes denken. Es war schon schlimm genug, dass sie am Todestag ihrer Mutter immer in eine äußerst depressive Stimmung verfiel. Zwischendurch konnte sie so etwas gar nicht gebrauchen.

Vor allem jetzt nicht, da die Zeit langsam drängte. Die drei Monate Vorbereitung für dieses Mammutprojekt würden sie nun ein bisschen weiter hinziehen, dank Peters Krankheit. Und Joe wusste nicht, ob sie darüber dankbar oder eher erschüttert sein sollte, dass alles scheinbar seinen gewohnten Gang gehen würde.

Als sie im Art Department ankam, herrschte dort erdrückende Stille. Es war ihr bisher gar nicht so sehr bewusst gewesen, wie ruhig es noch war. Doch nun, da sie hier völlig alleine war, überzog plötzlich eine Gänsehaut ihrer Arme. Um sich davon abzulenken, tauchte sie wieder in die Skizze von Galadriels Kleid ein, doch ihre Konzentration hielt nicht lange an.

Später, als es langsam heller wurde, stützte sie ihre Ellbogen ungeduldig auf und kratzte sich am Kopf. Sie warf den Bleistift, mit dem sie ein paar Korrekturen an ihrer Zeichnung gemacht hatte, bei Seite. „Mist! Blöder Mist!“, rief sie aus. Seit zwei Stunden war sie nun schon hier, die ersten anderen Mitarbeiter trafen ein und ihr wollte nichts einfallen.

Um sich abzulenken packte sie sich ihre Jacke, denn es war schon recht kühl geworden draußen, und machte sich auf den Weg in die Stone Street Studios. Ihr Plan sah vor, sich ein paar Inspirationen vor Ort an den Sets zu holen. Bewaffnet mit ihrem Skizzenblock und ein paar Stiften, die schon bessere Tage gesehen hatten, aber immer noch hervorragend malten, begab sie sich an das Set von Beutelsend. Sie musste zwar keine Kostüme mehr für Hobbits entwerfen, doch sie mochte die beiden identischen Sets, die man hier aufgestellt hatte. Sie glichen sich wie ein Ei dem anderen. Nur, dass das eine in normaler Größe erbaut worden war und das andere eben ein paar Nummern kleiner, um Sir Ian McKellen als Zauberer größer wirken zu lassen.

Die Tatsache, dass so viele berühmte Schauspieler wieder hier mitwirken würden, wie auch schon bei Der Herr der Ringe, war für Joe wie eine Art Traum. Schon als Kind hatte sie Cate Blanchett, Hugo Weaving und Ian McKellen in ihren Rollen als Galadriel, Elrond und Gandalf bewundert. Und sie nun live und in Farbe vor sich zu sehen war, als würde sie von ihrem Wohnzimmer aus direkt in den Fernseher selbst fallen.

Zu allererst fiel sie jedoch über eine künstliche Baumwurzel, die sie übersehen hatte, als sie wieder einmal tief in Gedanken versunken das Set beobachtet hatte. Unsanft ging sie zu Boden, verlor dabei Block, Stifte und einen Großteil ihrer Würde, und zog damit die Aufmerksamkeit von ein paar Leuten auf sich.

Die meisten der Darsteller hatten sich schon in den Studios eingefunden, denn auch wenn sie noch nicht filmten, mussten sie zumindest gut vorbereitet werden auf das, was da kommen sollte. Dafür hatte man extra ein Bootcamp auf die Beine gestellt, in welchem man den dreizehn Zwergen und Bilbo alles Nötige beibringen würde. So gab es Kampfunterricht, Gesangsunterricht, Sprachübungen, weitere Kostümanproben; Stunden, in denen sie lernten, wie man sich als Zwerg zu bewegen hatte; Stunden, in denen sie die Drehbücher durchgingen und es gab Reitunterricht. Alles in allem waren sie in den letzten Wochen, seitdem sie hier eingetroffen waren, überaus beschäftigt gewesen. Doch vor allem waren sie in dieser Zeit bereits sehr zu einer Gemeinschaft zusammen gewachsen.

Das zeigte sich besonders, wenn sie morgens zusammen kamen, um sich einen guten Morgen zu wünschen. Jed Brophy war dabei immer besonders enthusiastisch, denn dieser neuseeländische Schauspieler schien einen enormen Kaffeekonsum zu haben, der sich besonders auf seine Stimmung auswirkte. Er zählte nicht zu den besonders großen Leuten, war eher drahtig gebaut und durchtrainiert. Seine braunen Augen strahlten meist ziemlich aufgeweckt und er hatte immer ein Lächeln für jeden übrig.

Als er Joe allerdings zu Boden gehen sah, verschwand sein charakteristisches Lächeln und machte einem äußerst besorgten Ausdruck Platz. Er verlor keine Zeit und stürmte sofort zu ihr, um ihr wieder auf die Beine zu helfen. Seine Hände packten sie unter den Armen, bevor sie überhaupt richtig begriffen hatte, dass sie gerade den Boden geküsst hatte, und er stellte sie wieder auf die Füße. Dann klopfte er ihr den imaginären Staub von den Klamotten. „Hey, alles okay bei dir?“ Immer noch besorgt sah er sie an.

Verwirrt sah Joe zurück. Das Ganze war so schnell gegangen, dass sie gar keine Gelegenheit gehabt hatte, es zu verarbeiten. Sie war sich nicht einmal mehr sicher, ob sie überhaupt den Fußboden berührt hatte. „Ähm“, machte sie daher nur, riss ihre grünen Augen erstaunt auf und sah Jed an, ohne Anstalten zu machen, weiter etwas sagen zu wollen.

Sofort kamen noch mehr von den Darstellern angerannt, die sich schon eingefunden hatten, und umringten die beiden. Beinahe alle redeten gleichzeitig auf sie ein, fragten, ob alles in Ordnung wäre, ob etwas passiert war und man vielleicht einen von den Sanitätern rufen sollte, die hier überall herumsprangen, während der fremde Mann Joe immer noch am Oberarm festhielt, als hätte er Angst, dass sie plötzlich in Ohnmacht fallen könnte.

Ungewollt fand sich die kleine blonde Frau in einer so absurden Situation wieder, dass sie am liebsten sofort im Boden versunken wäre. Diese ganze Aufmerksamkeit, die man ihr auf einmal von allen Seiten schenkte, sorgte dafür, dass ihr Hals auf einmal ganz trocken war, ihre Augen brannten, ihr der Kopf schwirrte und ihr das Blut in den Ohren rauschte, bis sie dachte, unter Wasser zu stehen. Sie klappte auch passend dazu immer wieder den Mund auf und zu, weil sie nicht recht wusste, ob sie tatsächlich im Moment zu schüchtern war, um etwas zu sagen, oder sie einfach nur alle mit einem einzigen lauten Wort zum Schweigen bringen zu wollen.

Eine weitere Hand fasste nach ihr. Dieses Mal jedoch nach ihrem Kopf, berührte sie an den Haaren über ihrem Ohr und befühlte schließlich ihre Stirn. „Sie scheint auf den Kopf gefallen zu sein“, sagte derjenige, dem die fremde Hand gehörte.

Joe zuckte zusammen, als sie die Stimme erkannte. Und ohne, dass sie es wollte, folgten ihre Augen dem Arm, der zu der Hand gehörte, die sie nun beinahe liebevoll streichelte, über die Schulter, den Hals, bis hin zum Kopf. Von dort blickten sie ein paar tiefbraune Augen unruhig an. Seine lange Lockenpracht hatte er am Hinterkopf zu einem festen Zopf gebunden, damit sie ihm während des Bootcamps nicht in die Augen fielen. Sein Bart war länger geworden, seitdem sie ihm das letzte Mal begegnet war, doch noch immer machte er den Eindruck eines Landstreichers auf sie. Unwillkürlich wich sie zurück.

Sofort fing einer der älteren Männer an zu lachen. „Sieh dir das an, Aidan! Jetzt hast du ihr Angst gemacht. Vielleicht solltest du dich doch endlich mal rasieren.“ Die anderen fielen in das Lachen mit ein und der Angesprochene zog seine Finger endlich von ihr zurück. Erleichtert atmete Joe auf, sah den Mann, der diesen Aidan zum Rückzug bewegt hatte, dankbar an.

Er war schätzungsweise Anfang Fünfzig, hatte dunkles, beinahe schwarzes, dichtes Haar, was von ein paar einzelnen grauen Haaren durchzogen war. Auf seiner Oberlippe saß ein dunkler Schnauzbart, an seinem Kinn waren die Barthaare bereits grau. Seine Wangen waren jedoch glatt rasiert. Unter dichten, dunklen Augenbrauen sah er sie an, merkte, dass sie scheinbar völlig verschreckt war von dem ganzen Zwergenaufstand, und streckte die Hand nach ihr aus. „Oh je, Liebes“, sagte er mit seiner melodischen Stimme und streichelte ihr beruhigend über den Oberarm. „Haben wir dich erschreckt?“

Als Joe nicht antwortete, weil sie nicht wusste, was sie sagen sollte, drehte er sich zu den anderen um. „Jungs, wir haben das Mädchen zu Tode erschreckt! Lasst ihr doch ein bisschen Platz zum Atmen.“ Und um seine Worte zu unterstreichen schob er seine Kollegen ein Stück bei Seite. Nur der, der Joe hochgeholfen hatte, war noch immer an ihrer Seite und hielt sie fest. „Geht es dir gut?“, fragte er.

Unfähig zu sprechen, nickte sie nur kurz, doch ihre immer noch weit aufgerissenen Augen, die unruhig zwischen den verschiedenen Männern hin und her huschten, zeigten Jed, dass das wohl alles ein bisschen viel auf einmal war. Schnell ließ er ihren Arm los, als er bemerkte, dass er sie noch immer hielt. Dann streckte er ihr seine rechte Hand hin. „Tut mir leid wegen des ganzen Auflaufs. Ich bin Jed.“

Zögerlich ergriff sie seine dargebotene Hand. „Joe“, hauchte sie.

Jed kniff die Augen zusammen. Sie hatte so leise gesprochen, dass er sich zu ihr herunter beugte. „Nein, Jed“, wiederholte er daher, weil er dachte, sie hätte seinen Namen vielleicht nicht richtig verstanden.

Das brach jedoch bei ihr das Eis. Ein Mundwinkel von ihr wanderte für ein paar Millimeter nach oben. Und weil sie wusste, dass es ihn nun in Verlegenheit bringen könnte, ihn zu korrigieren, wurde sie gleich mit rot. Ihre Wangen brannten gefährlich und ihre Ohren wurden heiß. Doch um Zeit zu schinden ließ sie seine Hand wieder los und strich sich damit eine Haarsträhne hinters Ohr. „Ich bin Joe“, sagte sie nun etwas lauter.

Jed brach in schallendes Gelächter aus. Sie hatte Unrecht damit gehabt, dass es ihm peinlich sein könnte. Stattdessen fand er es richtig lustig. „Ach so“, sagte er daher nur. Dann führte er sie zu den anderen zurück, die sich mittlerweile etwas entfernt von den beiden gesammelt hatten. „Jungs, das ist Joe! Joe, das sind Mark“, er zeigte auf einen kleinen Mann Mitte Fünfzig mit kurzen, weißen Haaren und abstehenden Ohren, „Adam“, ein junger Kerl mit Segelohren, dunklen Haaren und einem schiefen Lächeln, „das ist Peter“, ein glatzköpfiger, kahl rasierter Mann ebenfalls Anfang Fünfzig, „und John“, offenbar der Älteste unter ihnen, „Ken“, ein Mittfünfziger, der sie stark an John Rhys-Davies erinnerte, „und Jimmy“, ein Mittvierziger, der unglaublich britisch auf sie wirkte mit seinen kurzen grauschwarzen Haaren und dem verhaltenen Lächeln. „Das ist Stephen, unser Bombur, und William, der dich vor Aidan bewahrt hat, den du ja schon kennst.“

Alle winkten ihr unisono zu und sagten etwas zur Begrüßung. Sie lächelte schüchtern und nicht ganz ernst gemeint zurück, rührte sich aber sonst nicht. Allerdings war das auch kaum möglich, denn Jed hielt sie in seinem schraubstockartigen Griff so gefangen, dass sie gerade mal die Hände hätte heben können.

Die Namen hatte sie so schnell wieder vergessen, wie sie sie genannt bekommen hatte. Nur Aidan blieb ihr im Gedächtnis, weil er sie immer noch so seltsam musterte. Er hatte die Stirn in Falten gelegt und versuchte sich offenbar an etwas zu erinnern. Dann hellte sich seine Miene plötzlich auf. „Aber dich kenn ich doch!“, sagte er laut, was die Aufmerksamkeit aller anderen auf ihn lenkte. „Du bist das Mädchen von unserem ersten Tag, was ihr Auto vergewaltigt hat.“

Hätte Jed sie losgelassen, wäre Joe augenblicklich aus der Halle gerannt, so unangenehm war ihr das Ganze plötzlich. Auch, wenn die Männer das offenbar ziemlich lustig fanden und Aidan für seine Wortwahl rügten, konnte sie nur daran denken, wie sie schnell von hier weg kam. Doch irgendwie schien jede Fluchtmöglichkeit schon nach zwei Schritten zu enden. So ein verdammter Mist!, dachte sie. Wieso bin ich nur hier her gekommen? Du wärst besser im Art Department geblieben, Joe!

Doch nun war sie hier. Und nun musste sie auch damit klarkommen, dass sie auf einmal von so vielen Leuten umringt war und Aidan ausführlich und völlig übertrieben berichtete, wie sie die Autotüre ihres BMW so zugeworfen hatte, dass die Scheiben geklirrt hatten. „Und dann stürmt sie einfach ohne jedes Wort an uns vorbei, an Graham und mir“, dabei sprach er den Namen seines Kollegen so aus, dass es mehr nach Gra‘am, wie in Ma‘am klang, „und wirbelt dabei ganz schön viel Wind auf.“

„Meinst du nicht, dass du vielleicht ein bisschen übertreibst?“, bemerkte John trocken. Dabei musterte er Joe von oben bis unten ausführlich, als könnte er es nicht glauben, dass ein so zartes und kleines Geschöpf überhaupt Wind verursachen konnte.

Sofort warf sich Mark dazwischen, zog den Kopf zwischen die Schultern und imitierte Aidans Stimme, als er sagte: „Aber nein, John! Aidan übertreibt doch nicht.“

Wieder lachten alle und endlich ließ Jed Joe los. Die trat augenblicklich ein paar Schritte zurück in der Hoffnung, sich unbemerkt davon stehlen zu können. Unglücklicherweise betraten just in diesem Moment drei weitere Zwerge die Halle, die die Zahl Dreizehn nun komplett machten. Graham und Richard erkannten Joe sofort von den Anproben, nahmen sie zwischen sich und umarmten sie herzlich, bevor sie irgendetwas dagegen tun konnte.

Nicht, dass es nicht angebracht gewesen wäre. Immerhin hatten sie viele Stunden zusammen in ihrem Atelier verbracht. Doch das war das erste Mal, dass die beiden eindrucksvollen Männer einen derart engen Körperkontakt mit ihr pflegten. Und es machte Joe ein bisschen Angst, dass sie sich so tief in ihren persönlichen Tanzbereich hinein wagten. Doch trotz allem fühlte es sich seltsam gut an, musste sie sich eingestehen, als Graham sie wieder los ließ.

Der Dritte im Bunde, der mit den beiden herein gekommen war, war ein blonder Kerl Ende Zwanzig. Auch auf seinem Gesicht zeigte sich der Schatten eines Bartes und Joe wurde den Eindruck nicht los, dass das gerade wahnsinnig angesagt zu sein schien unter Zwergen. Vielleicht hielten aber auch so die künstlichen Bärte besser, das konnte sie nicht beurteilen. Er stellte sich kurz als Robert, „auch genannt Rob“, vor, dann reihte er sich bei den anderen Zwergen ein.

Richard übernahm wie selbstverständlich die Führerrolle und erklärte den Übrigen, dass sie Joe bereits aus den Anproben kannten, weil natürlich von allen Seiten gefragt worden war, warum sie das fremde Mädchen mit einer Umarmung begrüßten. Dann fragte er an Joe gewandt: „Was machst du denn hier? Wolltest du uns beim Trainieren zuschauen?“

Sie wirkte ein wenig wie vor den Kopf geschlagen, als er so unerwartet das Wort wieder an sie richtete, nachdem er so ausführlich berichtet hatte. Deswegen schüttelte sie nur schnell den Kopf und suchte hektisch mit den Augen den Boden nach ihrem Zeichenblock ab. Als sie ihn gefunden hatte, sammelte sie noch zusätzlich die ihr herunter gefallenen Stifte ein. „Ach so“, sagte Richard schließlich, „du suchst Inspiration.“

Niemand schien wirklich zu merken, dass sie sich unglaublich unwohl in ihrer Rolle fühlte, denn Richard und Graham lenkten das Thema nun wieder von ihr ab und sprachen darüber, was sie wohl heute lernen würden. Auch sie hatte die Nachricht erreicht, dass Pete im Krankenhaus lag und sich so ihr Bootcamp noch verlängern würde, bis der Regisseur wieder auf den Beinen war. Sie hofften daher, ihre Fertigkeiten mit dem Schwert noch verfeinern zu können.

Und wie aufs Stichwort rief plötzlich jemand nach den Zwergen und winkte sie zu der Turnhalle herüber, mit der Joe ja bereits schon Bekanntschaft geschlossen hatte, als der Anführer der Scale-Doubles, Kiran Shah, sie für eine der seinen gehalten hatte. Daher zog sie es vor, sich nur schnell zu verabschieden, indem sie den Schauspielern ein letztes Mal zuwinkte, und dann endlich, endlich verschwinden konnte.

Erleichtert trat sie aus der Halle in das nun scheinende Sonnenlicht und atmete tief ein und aus, bis sich ihr Puls wieder einigermaßen beruhigt hatte. Dann stahl sich ganz unerwartet ein Lächeln auf ihr Gesicht. War das gerade wirklich passiert? Ungläubig schüttelte sie den Kopf. Das konnte doch eigentlich nur ein Traum gewesen sein, so unwirklich war ihr diese ganze Situation erschienen. Doch der Dreck an ihren Handflächen, mit denen sie ihren Sturm abgefangen hatte, sagte ihr, dass das wirklich und wahrhaftig passiert war.

Wenn ihr jemand gesagt hätte, dass das nicht ihre einzige Begegnung mit dem gesamten Zwergencast bleiben würde, wäre sie vermutlich einfach nur schreiend davon gelaufen und hätte Richard noch in der nächsten Minute ihre Kündigung überreicht, denn diese Männer schienen weder ein Nein zu akzeptieren, noch die Tatsache, dass sie unter einer Sozialen Phobie litt. Woher hätten sie es auch wissen sollen? Es hatte ihnen ja niemand gesagt, dass eine der Designerinnen von Weta geistig nicht ganz richtig im Kopf war. Und vermutlich wäre das für sie nur einer neuen Herausforderung gleichgekommen, aus der introvertierten jungen Frau eine gesellschaftsfähige Dame zu machen, die sich kultiviert unterhalten konnte.

Noch immer grinsend kehrte Joe an ihren Arbeitsplatz zurück, legte den leeren Block bei Seite und griff nach den noch unfertigen Entwürfen für ein paar der Elbenkostüme. Und ganz plötzlich kam ihr eine Idee, wie sie Galadriel den Auftritt ihres Lebens verschaffen konnte.

© by LilórienSilme 2015

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