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Kapitel 6

 

~ Eternal Shame

 

In London unterdessen hatte sich Vittorias beste Freundin Meg bei ihr im Haus eingenistet und genoss die Ruhe dort. Sie lebte noch bei ihren Eltern, da sie durch das Studium keine Zeit hatte, in einem lukrativen Nebenjob zu arbeiten, um sich eine eigene Wohnung leisten zu können. Und gerade standen ihre Klausurphasen an. Leider spannte ihre Mutter sie immerzu in irgendwelche Dinge mit ein, sodass sie kaum mehr Zeit gehabt hatte, um richtig zu lernen. Nicht, dass sie es gerne getan hätte, aber sie würde bald ihren Abschluss machen. Und wenn eine renommierte Universität sie haben wollte, musste sie gut sein.

 

Vittorias Haushälterin Chiyo schien es auch zu gefallen, dass sie doch nicht alleine in dem großen Haus war. Und so entspann sich bald ein enges Verhältnis zwischen den beiden Frauen. Chiyo war jünger, als Meg angenommen hatte, gerade Ende zwanzig, und teilte mit ihr die Vorliebe für ausgedehnte Shoppingtouren, so wie beinahe jede Frau. Leider hatte Meg in letzter Zeit dafür nicht mehr genügend Freiraum gehabt und ihren Bruder geschickt, Chiyos Tüten zu tragen, der seiner kleinen Schwester beinahe jeden Wunsch, ohne mit der Wimper zu zucken, erfüllte. Abgesehen davon schien er Chiyo sehr interessant zu finden und verbrachte gerne Zeit mit der Asiatin.

 

Nun saß Meg an dem Schreibtisch ihrer besten Freundin und beugte sich über ihre Bücher. Ihre Abschlussarbeit würde sie über die Hexenprozesse in Salem schreiben und den Vortrag wollte sie über das Malleus maleficarum halten. Allerdings hatte sie bisher noch keine Bibliothek gefunden, die es ihr hätte mit nach Hause geben können. Die Abschriften waren äußerst wertvoll und Originale gab es, wenn überhaupt, nur noch in Museen. Leider stand sie nicht besonders auf die Variante, es sich aus dem Internet zu besorgen und sich das alles am Bildschirm durchzulesen. Sie zog es vor, auf die altmodische Art zu recherchieren.

 

Also packte sie ihren Notizblock und ihre Bücherliste ein und machte sich auf den Weg in die Innenstadt. Zum Glück hatte Vicky ihr auch erlaubt, ihr Auto zu nutzen. Hoffentlich würde sie sich bald einen eigenen Wagen leisten können. Dieser Mini war das Letzte. Viel zu klein für ihre langen Beine und der Kofferraum war absolut nicht dafür geeignet, groß einkaufen zu gehen. Allerdings gefielen ihr die Schalensitze recht gut. Solche würde sie sich auch anschaffen.

 

In der Stadtbibliothek herrschte beinahe vollkommene Stille. Nur das Rascheln von Bücherseiten, das Kratzen von Stiften auf Papier und das leise Klimpern von Laptoptastaturen waren zu hören. Ein leicht muffiger Duft nach altem Leder lag in der Luft. Meg sog alles genüsslich in sich auf. Sie stellte ihren weißen To-go-Kaffeebecher mit der grünen Aufschrift auf einen freien Platz und legte ihre Sachen ab. Da der Bibliothekar alles mit Argusaugen bewachte, hatte sie auch keine Angst, ihre Tasche unbeaufsichtigt zu lassen. Deswegen machte sie sich gleich daran, ihre Bücherliste zu durchsuchen und sich die gewünschten Exemplare aus den Regalen zu holen.

 

Vor dem Regal, welches eigentlich den Hexenhammer enthalten sollte, blieb sie stehen. Eine Lücke klaffte dort, wo drei hätten sein müssen. Sie fluchte leise. Musste es wirklich jedes Mal weg sein, wenn sie es brauchte? So würde sie niemals rechtzeitig mit ihrem Vortrag fertig. Sie war ohnehin schon im Verzug. Angeschlagen nahm sie alle anderen Bücher, die Gott sei Dank auch da waren, aus den Regalen und kehrte an ihren Platz zurück. Genervt nippte sie an ihrem Kaffee Latte.

 

Sie starrte eine Weile vor sich hin, genoss die Ruhe und dachte über ihre Zukunft nach. Gerade war sie zu der Erkenntnis gelangt, dass sie bald wieder genügend Zeit hatte, eine lange Reise zu unternehmen, als jemand sie von der Seite ansprach. „Verzeihen Sie, Miss“, sagte eine dunkle Stimme. Sie drehte sich um. „Es schien mir, als hätten Sie das hier gesucht.“ Sie blickte auf und versank in seinen blauen Augen. Durch das Licht, welches durch die hohen Fenster hereindrang, schimmerten sie, wenn er sich bewegte, grünlich. Es dauerte ein paar Augenblicke, bis sie sich von diesem Anblick losreißen und auf das sehen konnte, was er ihr hinhielt.

 

Zögerlich griff sie nach dem Hexenhammer. „Brauchen Sie ihn denn nicht?“, fragte sie und legte das Buch zur Seite. Er lächelte sie an und entblößte zwei Reihen perfekter weißer Zähne. Hätte sie nicht schon gesessen, wären ihr die Beine weggesackt. Er sah wirklich unglaublich gut aus. „Sonst würde ich es Ihnen nicht geben. Nachdem Sie so geschimpft hatten, dass es nicht da war, dachte ich mir, dass ich auch warten kann, es zu lesen.“

 

Neugierig drehte sie sich auf ihrem Stuhl um, sodass sie ihn besser ansehen konnte. „Sie interessieren sich für Hexen?“ Ihre Augen leuchteten auf. Wenn er jetzt auch noch kochen konnte, wäre er der perfekte Mann.

 

Er lächelte sie erneut an und zwinkerte ihr zu. „Ich bin selber eine.“ Sie lachte auf, bekam allerdings eine herbe Rüge von allen Seiten, da sich die übrigen Besucher in ihrer Arbeit gestört fühlten und ihr zuzischten. Sie entschuldigte sich darauf hin.

 

„So wie es aussieht“, sagte er, „kann man sich hier nicht unterhalten. Wie wäre es, wenn ich Sie auf einen Kaffee einlade?“ Megs Herz machte einen Sprung. Dieser Kerl war einfach zum Anbeißen lecker. Er schien ausgesprochen höflich, hatte gute Manieren, gab ihr das Buch, was sie so dringend brauchte, und lud sie auch noch auf einen Kaffee ein. Aufgeregt wollte sie sofort Ja rufen, doch dann fiel ihr ein, dass ihr Abgabetermin in nur fünf Wochen war und sie noch nicht mal mit der ersten Seite fertig war.

 

Ihr Lächeln verwandelte sich in eine traurige Miene und sie ließ die Schultern hängen. „Es tut mir wirklich leid“, sagte sie und das Herz blutete ihr, „aber ich fürchte, ich habe noch eine Menge Arbeit vor mir. Wir müssen das wohl verschieben.“ Sie bedankte sich noch artig für das Buch und wandte sich dann ihrer Arbeit zu, so schwer es ihr auch fiel. Wenn er enttäuscht war, so zeigte er es nicht und das gab ihr das Gefühl, dass er seine Einladung sowieso nicht ernst gemeint hatte. Während sie ihre Quellen notierte, versuchte sie sich einzureden, dass es sowieso nicht geklappt hätte.

 

Nach mehreren Stunden, als sich die Bibliothek langsam zu leeren begann, spürte auch Meg die Erschöpfung. Die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen und eine bleierne Müdigkeit breitete sich in ihr aus. Sie gähnte herzhaft. Die Bücher, die sie mitnehmen durfte, ließ sie sich eintragen, den Hexenhammer stellte sie wieder zurück. Danach machte sie sich auf den Heimweg.

 

Als sie kurz vor dem Parkhaus war, leuchtete ihr plötzlich ein wohl bekanntes grünes Schild entgegen und sie konnte einfach nicht widerstehen. Sie betrat den Laden und ging zur Kasse. Der junge Mann hinter der Theke stemmte die Hände in die Hüften, als er sie erkannte. „Meg“, rief er aus. Bevor er jedoch etwas sagen konnte, lehnte sie sich lasziv über den Tresen und klimperte ihn mit ihren langen Wimpern an. „Trevor“, hauchte sie, „bitte, gib mir noch einen.“

 

Im hinteren Teil des Ladens saß ein Mann hinter seiner Zeitung verborgen. Er erkannte die Stimme der jungen Dame und blickte auf. Er staunte nicht schlecht, als er sie als die eifrige Studentin aus der Bibliothek erkannte. Und offensichtlich brauchte sie wieder etwas sehr dringend. Ob ihr das öfter so ging? Er musste sich ein Lachen verkneifen, als er sich den armen Jungen besah, der ihr nun ausgeliefert war.

 

„Aber du hattest schon drei heute“, sagte Trevor und tat unheimlich beschäftigt, indem er die schon sauberen Tassen noch einmal spülte. Der Rest des Ladens war bereits leer, bis auf den Mann hinter der Zeitung. Meg richtete sich wieder auf und seufzte genervt. „Dann gibst du mir eben noch einen Vierten! Bitte, ich brauche ihn! Ich habe den ganzen Tag über Büchern gehangen. Ich brauche jetzt etwas Süßes.“ Sie zwinkerte ihm zu.

 

Trevor legte das Handtuch bei Seite und sah sie eindringlich an. „Du weißt schon, dass das nicht gut für dich ist?“ Sie griff nach seiner Hand und drückte diese an ihre Brust. Verdutzt starrte er auf ihren Ausschnitt. „Und wenn es mich umbringt, ich kann nicht mehr ohne leben. Bitte!“

 

Hinter ihr erklang plötzlich ein Lachen. Sie drehte sich um, um zu gucken, wer sich da über ihren theatralischen Auftritt lustig machte, und erstarrte, als sie ihn erkannte. Das konnte doch kein Zufall sein, dachte sie und ließ Trevors Hand los. Dann setzte sie ein, wie sie hoffte, unwiderstehliches Lächeln auf. „Verfolgen Sie mich?“

 

Der junge Mann aus der Bibliothek faltete langsam und sorgfältig seine Zeitung zusammen und kam auf sie zu. Er nahm Geld aus seiner Tasche, legte es auf den Tresen und sagte: „Die Lady möchte einen Kaffee.“ Dann drehte er sich zu Meg um. „Ich bekomme immer das, was ich will.“

 

Meg lachte auf. „Soll das heißen, Sie haben den ganzen Tag hier gesessen und gehofft, dass ich vorbeikomme, nur weil Sie unbedingt einen Kaffee mit mir trinken wollten? Und ich dachte, Sie hätten die Einladung gar nicht ernst gemeint.“ Langsam beugte er sich zu ihr herunter, denn er war einen guten Kopf größer als sie, und sagte leise: „Ich meine alles ernst, was ich sage, Meg.“ Als er ihren Namen sagte, bekam sie eine Gänsehaut.

 

Gemeinsam tranken sie noch einen Kaffee, dann wurden sie rausgeworfen. Sie liefen noch ein wenig durch die Straßen, bis sie, irgendwann spät in der Nacht, auf ihre Uhr sehen musste. „Ich denke, es wird langsam Zeit, nach Hause zu gehen“, sagte sie. „Ich habe morgen und die kommenden fünf Wochen noch einiges vor.“ Sie drehte sich verlegen zu ihm um, wusste nicht recht, wie sie nun reagieren sollte. Doch er nahm ihr die Entscheidung ab. Zärtlich strich er ihr über die Wange. Ihre Haut kribbelte, wo er sie berührt hatte, und ließ alle Vorsicht verschwinden.

 

Schon oft hatte sie einen Mann in der ersten Nacht mit nach Hause genommen. Deswegen war es nichts Neues für sie, ihn einzuladen. Neu war nur, dass sie ihn dieses Mal zu Vittorias Haus lotste. Sie hatte ihren Wagen im Parkhaus stehen gelassen und er hatte ihr versprochen, ihn mit ihr am nächsten Tag abzuholen. Das setzte zumindest schon mal voraus, dass er am nächsten Morgen nicht einfach so abhauen würde. Die Frage war nur, ob er sein Versprechen auch hielt. Doch für heute Nacht wollte sie daran glauben.

 

Als sie bei Vittoria waren, zeigte sich, wie galant er wirklich war. Er war um das Auto herumgelaufen, bevor sie sich überhaupt abgeschnallt hatte, öffnete ihr die Türe und half ihr beim Aussteigen. An der Haustür angekommen ließ er ihr den Vortritt und nahm ihr den Mantel ab. Meg sah ihn an. „Ich hab dich gar nicht nach deinem Namen gefragt“, sagte sie in das Halbdunkel herein. Er tastete vorsichtig nach ihrer Hand, hob sie zu seinem Mund und hauchte einen Kuss darauf. „Ich heiße Thomas McGillian.“ Sie schmolz förmlich dahin, als er das sagte, und konnte sich nur mit Mühe beherrschen, nicht gleich über ihn herzufallen. Vermutlich würde ihn das verschrecken.

 

Thomas hingegen machte kein Geheimnis daraus, dass er sie wollte. Irgendwie schien es ihm, als würde sie Vittorias Platz einnehmen für diesen Moment. Der Duft ihres Parfums umwehte ihn und beinahe kam es ihm so vor, als wäre Meg seine Angebetete. Er schalt sich immer noch dafür, dass er ihr viel zu früh den Antrag gemacht und sie gefragt hatte, ob sie bei ihm einziehen wollte. Doch damals konnte er einfach nicht anders. Er hatte sie über alles geliebt, tat es wohl immer noch, und es wäre ihm nicht richtig erschienen, ihr seine Gefühle vorzuenthalten. Im Nachhinein betrachtet erschien es ihm dumm, es getan zu haben. Doch vielleicht würde sie es eines Tages einsehen und zu ihm zurückkehren. Und wenn sie das vorhatte, würde er da sein.

 

Natürlich konnte er bis dahin nicht enthaltsam leben, dachte er sich, als er Meg die Treppe hoch zum Schlafzimmer trug. Eine Beziehung würde er in keinem Fall mit diesem Mädchen eingehen. Dafür hing sein Herz noch zu sehr an seiner alten Liebe. Doch was sprach dagegen, sich ein wenig zu zerstreuen?

 

Er bettete Megs Kopf auf die Kissen und betrachtete ihr Gesicht im Schein der Straßenlaternen, die ihr orangenes Licht durch die hohen Fenster schickten. Sie war wunderschön und sah so unschuldig aus. Er vergrub das Gesicht an ihrem Hals und sog ihren Duft ein. Für einen Moment drehte sich ihm alles, denn der Geruch, den er nun in der Nase hatte, war ohne Zweifel der von Vittoria. Völlig berauscht von dem, was sein Gehirn ihm nun vorgaukelte, er hätte sie und nicht Meg unter sich, küsste er die Frau, die ihre Hände in seinem Nacken hatte, leidenschaftlich.

 

Die ganze Nacht über sah er Vittorias Gesicht vor sich, während Meg es genoss, wie eine echte Lady behandelt zu werden. Für sie beide erschien es als die Erfüllung und sie wünschten sich, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, dass diese Nacht niemals zu Ende gehen möge.

 

Doch der Morgen kam erbarmungslos und hell. Das Licht der aufgehenden Sonne kitzelte seine Nase und er musste herzhaft gähnen. Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, als er das geringe Gewicht auf seinem Arm spürte und er schlug die Augen auf. Doch anstatt Vittoria neben sich zu sehen, wie er eigentlich erwartet hatte, denn noch immer hing ihr Duft im Raum, sah er das Mädchen von gestern Abend. Er seufzte enttäuscht auf, hatte er sich doch erfolgreich selber etwas vorgespielt. Aber dann sagte er sich, dass es wunderschön gewesen war und er keine Sekunde zu bereuen hatte. Auch wenn er keinesfalls intensive Zuneigung für sie verspürte.

 

Vorsichtig zog er seinen Arm unter ihrem Kopf hervor, sodass sie nicht wach wurde. Leise zog er sich an und ging hinunter. Er schnappte sich den Autoschlüssel von ihrem Wagen und seinem und verließ auf leisen Sohlen das Haus. Er parkte seinen Wagen vor dem Parkhaus, in welchem noch Vittorias Auto stand, holte schnell ein paar Leckerbissen, die er Meg zum Frühstück vor die Haustür legen wollte, und fuhr mit dem Mini zurück zu ihr. Den Schlüssel ließ er in den Briefkasten fallen. Er fühlte sich ein wenig schlecht bei dem Gedanken, sie einfach so zurückzulassen, doch er wurde in der Kanzlei erwartet. Außerdem hatte er ihre Nummer und konnte sie anrufen, wann immer er wollte.

 

Doch Meg kam im zuvor. Sie rief ihn am Nachmittag auf der Arbeit an und bedankte sich für alles. Gleichzeitig entschuldigte sie sich bei ihm dafür, dass sie in den nächsten Wochen nicht mehr viel Zeit haben würde, sich mit ihm zu treffen. Und obwohl keiner es zugeben wollte, kam es ihnen beiden gelegen.

 

In der folgenden Zeit verbrachte Meg jede freie Minute in der Bibliothek, um an ihrem Abschluss zu arbeiten. Sie kam recht gut voran, konnte aber trotz des vielen Stoffs nicht verhindern, dass ihre Gedanken immer wieder zu Thomas wanderten. Manchmal ertappte sie sich sogar dabei wie sie hoffnungsvoll auf die Reihen von Tischen starrte, in der Hoffnung, ihn irgendwo zu entdecken. Doch er tauchte nicht auf.

 

Eine Woche, nachdem sie ihre Arbeit abgegeben und ihren Vortrag gehalten hatte, saß sie mit ein paar Kommilitonen in einem Café und unterhielt sich mit ihnen über ihre Spezialthemen. Besonders interessant fand sie auch die Arbeit von Julia, die über das Alte Ägypten geschrieben hatte, und sie begannen eine Diskussion über die verschiedenen Religionen in der Pharaonenzeit. Später verabredete sie sich noch mit ihnen auf einen Drink. Danach fuhr sie nach Hause, um sich fertig zu machen. Vielleicht würde sie ja heute Abend jemanden kennenlernen.

 

Doch zu dem Treffen kam es nicht. Kaum war Meg zu Hause angekommen, klingelte ihr Handy. Da sie sowieso schon spät dran war, achtete sie nicht darauf, was auf dem Display stand, und hob einfach ab. „Hallo!“, rief sie in den Hörer und hoffte, dass sie mit ihrer etwas gehetzten Stimme ausdrücken konnte, dass das Gespräch nicht lange dauern sollte.

 

„Miss Harding?“, ertönte es von der anderen Seite der Leitung. „Hier ist das London Bridge Hospital.“ Beinahe ließ sie das Telefon fallen, als sie das hörte. Sie warf ihren Mantel über eine Stuhllehne und setzte sich, da sie im Gefühl hatte, dass etwas nicht stimmte. Und die Schwester, die sie angerufen hatte, bestätigte diesen Verdacht, als sie sagte: „Ihr Bruder, Lelex Harding, wurde in einen Autounfall verwickelt und liegt nun bei uns auf der Intensivstation. Er wollte, dass wir zuerst Sie anrufen und Sie dann ihren Eltern Bescheid sagen.“

 

Meg nickte mechanisch, merkte dann, dass die Dame am Telefon das nicht sehen konnte und murmelte ihre Zustimmung. Wie in Trance rief sie ihre Eltern an und verabredete sich mit ihnen vor dem Krankenhaus. Während sie dorthin fuhr malte sie sich die schrecklichsten Sachen aus, was mit ihrem großen Bruder hatte passiert sein können. Und als sie endlich da war, fiel sie ihrer Mutter weinend in die Arme. Ihr Vater versuchte beide zu beruhigen, schaffte es aber kaum. Erst als sie bei Lelex im Zimmer waren und sahen, dass er keine ernsthaften Verletzungen davongetragen hatte, schaffte er es, seiner Schwester die Tränen zu trocknen.

 

„Was ist denn passiert, Junge?“, fragte Mr. Harding. Sein Sohn hatte eine Platzwunde auf der Stirn, dadurch eine leichte Gehirnerschütterung und das rechte Bein gebrochen. Er erklärte, dass er mit seinem Fahrrad auf der Tower Bridge unterwegs gewesen und von einem Auto angefahren worden war. Zum Glück hatte er seinen Helm aufgehabt, der das Schlimmste hatte verhindern können.

 

Er setzte sich etwas bequemer hin und sagte: „Aber der Höllenfahrer hat Fahrerflucht begangen. Gott sei Dank hat sich bei mir bereits ein Zeuge gemeldet. Er hat mir seine Karte gegeben und die Nummer von einem guten Anwalt.“

 

Da jedoch weder Meg noch ihre Mutter in der Lage waren, sich um die Formalitäten zu kümmern, blieb alles an Mr. Harding hängen. Er meldete sich bei dem Anwalt und sprach sich mit ihm gemeinsam ab. Während dieser Zeit bangte Meg nicht nur um ihren Bruder, dessen Gesundheitszustand sich mit jedem Tag zu verschlimmern schien, sondern auch noch um ihre Abschlussarbeit. Nach Jahren, wie es ihr schien, erhielt sie endlich ihre Ergebnisse und schloss ihr Studium mit einer Gesamtnote von 2,3 ab.

 

Doch sie konnte sich nicht wirklich darüber freuen, denn es machte ihr Sorgen, dass es Lelex trotz guter Behandlung nicht merklich besser ging. Die Ärzte hatten innere Blutungen festgestellt und der Bruch seines Oberschenkelknochens hatte sich entzündet. Sie verbrachte deswegen fast jeden Tag im Krankenhaus und kümmerte sich um ihn, wie um ein kleines Kind. Ein paar Tage nach Verhandlungsbeginn, denn in der ersten Zeit würde man auch ohne das Opfer auskommen, hatte der Anwalt gesagt, betrat besagter Rechtsvertreter zum ersten Mal das Krankenzimmer.

 

„Miss, ich möchte Sie kurz bitten, draußen zu warten“, sagte er. „Ich muss mit Mr. Harding alleine sprechen.“ Meg blickte sich mit verquollenen Augen um. Eigentlich hatte sie nicht vorgehabt, ihren Bruder alleine zu lassen, aber ihr Vater hatte ihr gesagt, dass der Anwalt heute kommen würde und sie ihn für ein paar Stunden verlassen müsste. Also stand sie gehorsam auf und wollte schon, ohne ein weiteres Wort, das Zimmer verlassen. Doch der Mann packte sie bei den Schultern und drehte sie zu sich um.

 

Verwirrt schlug sie nach ihm. „Lassen Sie mich gefälligst los!“, rief sie und zu ihrer Überraschung hörte er auf sie. Froh wollte sie schon die Flucht ergreifen, als er sie ansprach. „Meg!“, sagte er und sie sah ihn zum ersten Mal richtig an. Durch ihre geschwollenen Lider, die vom Weinen noch ganz gerötet waren, konnte sie ihn nicht richtig sehen, doch jetzt erkannte sie seine Stimme wieder.

 

Seit Wochen, beinahe Monaten hatte sie nichts mehr von ihm gehört und nun war er der Anwalt ihres Bruders. „Thomas“, stieß sie schluchzend hervor und warf sich in seine Arme. Es war ihr egal, wie das auf ihn wirken würde. Sie brauchte jetzt jemanden, der sich um sie kümmerte. Normalerweise übernahm Vittoria das immer, doch die war immer noch am anderen Ende der Welt und konnte ihrer Freundin nicht helfen, auch wenn sie es gerne getan hätte.

 

Thomas blickte auf das Häufchen Elend in seinen Armen hinab und verschob das Gespräch mit seinem Mandanten innerlich auf später. Meg brauchte ihn jetzt. Er wusste noch nicht alle Zusammenhänge, aber eines war ihm klar: so viele Zufälle konnte es nicht ohne Grund geben. Vorsichtig nahm er sie auf den Arm und trug sie zu dem leeren Bett, was mit im Raum stand. Er ließ sich mit ihr auf dem Schoß darauf nieder und hielt sie einfach nur fest, bis sie tief und fest eingeschlafen war. Danach deckte er sie liebevoll zu und begann die Befragung ihres Bruders.

© by LilórienSilme 2015

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