LilórienSilme
~ Fanfiction-Autorin ~
Kapitel 6
~ Legolas' Klage
Der Sommer im Waldlandreich war angenehm kühl unter den Bäumen des Großen Grünwaldes. Die weit verzweigten Höhlen unter der Erde waren für die Elben in diesem nördlichen Königreich eine Wohltat an heißen Tagen. Auch der König selbst zog sich dann gern in seine privaten Gemächer zurück, um ein wenig Abstand von seinem täglichen Geschäft nehmen zu können.
An diesem Tag jedoch war es ihm nicht vergönnt, lange in Erinnerungen an längst vergangene Tage zu schwelgen, denn sein Sohn betrat den Raum, den Thranduil normalerweise nur für sich allein beanspruchte.
Vor langer Zeit einmal hatte er hier mit seiner Gemahlin gelebt, doch das war bereits viele Menschenleben her. Manchmal tat er so, als habe es diesen Abschnitt in seinem Leben gar nicht gegeben, denn dann konnte er verdrängen, was damals passiert war. Doch sobald Legolas vor ihm stand wurde er wieder schmerzlich an seinen Verlust erinnert. Er sah ihr so ähnlich, dass es an gewissen Tagen kaum zu ertragen war. Ganz besonders sah er Calanar, seine geliebte Frau, in den Augen seines Sohnes, die dieselbe Farbe und denselben Ausdruck trugen.
Heute war jedoch nicht so ein Tag, an dem er den bitteren Nachgeschmack früherer Tage auf der Zunge hatte. Heute war er nur müde von all den Jahren, die er bereits auf dem Thron hier verbracht und geherrscht hatte. Und zu gern hätte er Legolas einfach wieder weggeschickt, doch die Nachrichten, die er brachte, schien überaus wichtig zu sein. Sonst wäre er niemals hier gestört worden.
„Adar!“, sagte Legolas, legte eine Hand auf sein Herz und neigte respektvoll das Haupt. Dabei fielen ihm seine langen goldenen Haare nach vorne auf die Brust. Seine Waffen, die er auf dem Rücken trug, klirrten leise bei der Bewegung.
Thranduil drehte den Kopf langsam in die Richtung, aus der die Stimme kam, doch er blieb weiterhin am Fenster stehen. „Was gibt es?“ Seine Worte klangen gelangweilt, wie so oft in letzter Zeit, doch es kümmerte ihn nicht. Wenig war in der jüngeren Vergangenheit geschehen, das ihn kümmerte oder überhaupt sein Temperament reizte, das ihm früher oft zum Verhängnis geworden war, als er noch jung gewesen war wie die Bäume, unter denen er nun Herrscher war.
„Es gibt neue Berichte aus dem Süden“, antwortete Legolas und kam näher heran. Als einziger hier bei Hofe durfte er sich die Freiheit herausnehmen und seinem Vater unaufgefordert unter die Augen treten. Das war das Privileg eines Prinzen. „Die Netze breiten sich weiter aus, sie kommen mit jedem Tag näher an unsere Grenzen heran.“
„Netze?“ Eine dunkle Augenbraue wanderte überrascht nach oben. Bisher hatte man ihm nicht berichtet, dass es eine neue Bedrohung gab. Natürlich hatte er selbst etwas gespürt, doch sein erkaltetes Herz zog es vor, solche Veränderungen zu ignorieren, bis sie sich irgendwann von alleine in Wohlgefallen auflösten. Er konnte nur hoffen, dass dies wieder eine dieser Unannehmlichkeiten war, die sich selbst entknoteten. Doch wenn er ehrlich zu sich selbst war, interessierte es ihn kaum.
Legolas kam noch einen Schritt näher. Eindringlich musterte er seinen Vater, der ihm noch immer den Rücken zuwandte und ihm nur seine halbe Aufmerksamkeit widmete. Die andere Hälfte seiner Gedanken schien auf etwas anderes gerichtet zu sein, was jenseits dieser Gemächer lag. Vielleicht lag es sogar jenseits dieses Waldes und dieses Zeitalters. Das konnte er nicht mit Bestimmtheit sagen. Er wusste nur so viel: Sein Vater sprach kaum über das, was vor seiner, Legolas‘, Geburt geschehen war.
„Es gibt etwas in unseren Wäldern, das dort nicht hingehört“, sagte er bedeutsam. „Spinnen tauchen hier und da auf, weben ihre klebrigen Gefängnisse und blockieren unsere Handelsrouten, wenn es so weitergeht. Wir müssen sie von unseren Grenzen fernhalten, sonst werden sie uns bald überrennen.“
„Spinnen?“ Es klang ungläubig, als wäre sein Sohn noch der kleine Elbling von vor über tausend Jahren. Doch endlich sah Thranduil Legolas direkt in die Augen. Seine hellblonden Haare wurden nur von einem zarten Stirnreif aus seiner Stirn gehalten und er trug seinen roten Lieblingsmantel, der seine Gestalt völlig verhüllte. Der kühle Stoff raschelte, als der König sich umwandte. „Was denn für Spinnen? Derartige Monster sind seit der Zeit Ungoliants nicht mehr gesichtet worden.“
„Sie sind so groß wie Pferde und so düster wie die Nacht ohne Sterne. Ihre Beine sind lang und ihre Kiefer kräftig. Der Kampf gegen sie hat uns viel an Stärke gekostet und wir konnten ihnen nur mit knapper Not entkommen. Wir waren nicht auf sie vorbereitet, doch das wird uns kein zweites Mal passieren.“
Nun fiel dem König auf, dass sein Sohn nicht so tadellos wie sonst gekleidet war. Er trug sein übliches Lederwams, das jedoch von weißen Fäden geschmückt war, die an dem Stoff klebten, als wäre er mitten hinein in eines dieser Netze gelaufen. Feine Schnitte zeigten sich an den Armen, wo ihn zweifellos eine dieser Untiere erwischt haben musste. Doch sie waren nicht so tief, dass sie durch das Leder gegangen und in die Haut darunter geschnitten hätten. Trotzdem strecke er ungläubig eine feingliedrige Hand danach aus und strich über den Arm seines Sohnes.
Der verstand, was seinen Vater derart aus der Fassung brachte, war er doch normalerweise ein überaus guter Krieger. Es gab hier niemanden mehr, der ihn in den letzten Jahren in einem Kampf geschlagen hätte. Außer einer vielleicht.
„Sie haben uns überrascht“, führte Legolas weiter aus, „doch diesen Angriff hat keiner dieser Ungeheuer überlebt.“
Thranduil ließ wieder von seinem Sohn ab, sah ihm einen Moment in die Augen, dann wandte er ihm wieder den Rücken zu. „Gab es Verluste?“ Diese Frage klang jedoch so uninteressiert wie zuvor. Nachdem er nun wusste, dass nichts Ernstes geschehen war, musste er sich auch keine Sorgen mehr machen.
„Nein“, bestätigte sein Sohn die Vermutung.
„Gut“, erwiderte er nur. „Verstärkt die Wachen an den Grenzen und sorgt dafür, dass die Dunkelheit sich von uns fernhält. Und nun möchte ich nicht weiter gestört werden.“ Er gab dem Prinzen einen Wink, ihn nun allein zu lassen, und Legolas gehorchte, verneigte sich noch einmal, obwohl sein Vater es gar nicht mehr sah, und verließ die privaten Gemächer wieder.
Es störte ihn wie ein kleiner Dorn im Finger, dass sein Vater so wenig Interesse am Schutz des Königreiches zu haben schien. Am liebsten wäre ihm wohl gewesen, er hätte die Tore des Palastes verschlossen und sie nie wieder geöffnet.
Wutentbrannt ob dieser Gleichgültigkeit stürmte er durch die Gänge, bis er im Thronsaal ankam, wo noch der Hauptmann der Wachen auf ihn wartete.
Grüßend nickte er mit dem Kopf in ihre Richtung, tat, als wäre es ihm gleichgültig, dass sie hier war und eine Unterredung mit ihm forderte. „Tauriel“, sagte er und blieb stehen. Sofort glättete sich seine in Falten gelegte Stirn wieder und seine Wut machte einer seltsamen Fröhlichkeit Platz. Der Ärger, den sein Vater in seinem Herzen hinterlassen hatte, verflog, als er ihr in die grünen Augen sah, die ihn so sehr an die Kronen der Bäume erinnerten.
Sie stellte sich augenblicklich kerzengerade hin, die Füße parallel, neigte den Kopf in seine Richtung und sagte: „Hir-nîn. Hat der König weitere Befehle gegeben, gegen die Eindringlinge vorzugehen?“ Ihre roten Haare wallten ihr über den Rücken.
Selbst unter den Waldelben in diesen Gefilden war es einen Seltenheit, jemanden mit solch einer Haarpracht zu sehen, rot wie die junge Sonne am Morgen. Am liebsten hätte er die Hände danach ausgestreckt und sie mit seinen Fingern durchwoben. Sie mussten sich seidig und glatt anfühlen, geschmeidig wie ihre Herrin selbst, und doch stark und kräftig.
Er musste sich räuspern, bevor er weitersprach. „Nein“, sagte er und seine Stimme hörte sich falsch und belegt in seinen eigenen Ohren an. Würde sie wohl bemerken, woran er gedacht hatte? „Der König scheint sich nicht sonderlich dafür zu interessieren, was außerhalb seiner Grenzen geschieht. Solange sie dort draußen bleiben, wird er nichts unternehmen lassen.“
Tauriels Blick verdüsterte sich plötzlich. Schon zu oft war ihr aufgefallen, dass sich der König immer weiter zurückzog, kaum noch Beziehungen nach außen unterhielt, außer vielleicht zu den Menschen der Seestadt, die noch als einzige Handel mit ihnen trieben. Selbst seine eigenen Verwandten aus Lothlórien hatte der König nicht mehr besucht seit dem Zweiten Zeitalter. Und auch Celeborn war nicht mehr hier gewesen, seitdem seine Nichte Thranduils Frau geworden war. Nicht einmal die Tatsache, dass sie einen grausamen Tod gefunden hatte, hatte den Herrn von Caras Galadhon dazu bewegt, hierher zu kommen. Vermutlich war auch sein Herz ein Stück weit gebrochen, als ein Mitglied seiner Familie auf so unschöne Weise das Leben verlor.
Legolas bemerkte, dass sie mit ihren Gedanken ganz woanders war. Beruhigend legte er ihr eine Hand auf die Schulter und drückte leicht zu. „Mach dir keine Gedanken, Tauriel“, sagte er. „Ich werde meinen Vater davon überzeugen, sich der Außenpolitik wieder etwas mehr zu widmen.“
Dann schien sich auch auf sein Gesicht ein Schatten zu legen. Er ließ wieder von ihr ab, drehte ihr den Rücken zu und verschränkte nachdenklich die Arme vor der Brust. „Selbst ich kann spüren, dass etwas vor sich geht. Die Dunkelheit zieht immer weiter aus dem Süden zu uns herauf. Mein Vater kann sich dem nicht verschließen, auch wenn er es nur zu gern tun würde.“
Entsetzt machte die Anführerin der Grenzwachen einen Schritt auf ihren Prinzen zu. „Glaubt Ihr, es könnte zu einem Krieg kommen?“ Ihre Stimme zitterte leicht und er hätte nichts lieber getan als sie in den Arm zu nehmen und sie zu beruhigen. Doch er wusste, dass er hier niemals unbeobachtet war. Daher drehte er sich wieder zu ihr um und versuchte sich an einem unverfänglichen Lächeln.
„Mach dir keine Sorgen“, sagte er. „Die Verstärkung der Grenzwachen ist eine reine Vorsichtsmaßnahme. Ich möchte nur nicht riskieren, dass wir in einem unachtsamen Moment überfallen werden. Doch sollte mein Vater es erlauben, werde ich Boten zu unseren Verwandten im Süden schicken. Vielleicht haben sie neue Informationen für uns. Es muss einen Grund dafür geben, warum diese Spinnen gerade jetzt so weit in den Norden vordringen.“
Später in seinen eigenen Gemächern ließ er sich erschöpft auf sein Bett fallen. Dieser Tag hatte ihn viele seiner Kräfte gekostet, so sehr, dass es ihn fast erschreckte. Doch es war auch kein Leichtes gewesen, diese Spinnen zu erschlagen. Es hätte ihn auch nicht gewundert, hätte er einer seiner Männer verloren. Doch zum Glück war es soweit nicht gekommen.
Dazu musste er sich eingestehen, dass sich Tauriel wirklich hervorragend geschlagen hatte. Sie war noch nicht lange die Anführerin der Grenzwachen, doch in seinen Augen hatte sie sich bereits als sehr fähig erwiesen. Die Wahl seines Vaters musste er ausnahmsweise einmal als sehr weise anerkennen.
Und doch war ihm nicht immer ganz wohl in ihrer Gegenwart. Oft genug klopfte sein Herz schneller, wenn er sie ansah, und er fragte sich, wie es wohl wäre, wenn sie mehr als nur Freundschaft miteinander verbinden würde. Doch was würde sein Vater wohl dazu sagen, wenn er derartige Gedanken ihm gegenüber äußern würde? Würde Thranduil einer Verbindung dieser Art zustimmen?
Doch war es überhaupt klug von ihm, über Derartiges nachzudenken, bevor er mit Tauriel selbst über solche Dinge gesprochen hatte? Er wusste ja noch nicht einmal, ob sie ihn tatsächlich mochte oder sie ihn nicht vielleicht nur so freundlich behandelte, weil es nun einmal ihre Pflicht gegenüber ihrem Prinzen war. Wie konnte er sich sicher sein, dass seine Gefühle, die er für sie hegte, auch erwidert wurden?
Gedankenverloren legte er Waffen und Kleidung ab und wusch sich den Dreck und den Staub des Tages von der Haut. Heute würde er keine Antworten mehr auf die Fragen finden. Deswegen beschloss er, sich wie immer zu verhalten, keine Veränderung zu zeigen und zu hoffen, dass sich eines Tages doch noch die Gelegenheit ergeben würde, diesen bohrenden Empfindungen auf den Grund zu gehen.