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~ Ehemalige Gefährten

 

Der Eingang der Großen Halle war durch das Beben völlig eingestürzt. Die goldenen Türen waren so unglücklich heruntergerissen worden, dass es keinen Weg mehr hinaus oder hinein gab. Auch waren sie viel zu schwer, um sie aus dem Weg räumen zu können. Telperion erklärte uns, dass der einzige Weg über das Dach führen würde.

 

Er hatte ein Seil mitgebracht und kletterte nun hinauf. Ithil-dî folgte ihm, ich blieb unten stehen. Oben befestigten die beiden das Seil an einer eingestürzten Säule, die einst das Dach getragen hatte, und ließen es durch ein Loch in der Decke hinunter in die Halle. Jemand griff danach, doch es war zu dunkel, um etwas zu erkennen. „Wickelt es euch um die Hüfte, wir ziehen euch hinauf“, rief der Elb in die Dunkelheit. Es folgte eine Weile nichts, dann wurde zwei Mal kurz an dem Seil gezogen. Das war für die beiden das Zeichen und sie begannen im Einklang das Seil nach oben zu ziehen.

 

Es war nicht leicht für zwei, doch schon bald kam ein Schopf dunkler Haare in Sicht und sie zogen eine zierliche junge Elbe an die frische Luft. Ihr Gesicht war ganz blass und sie wirkte zittrig und erschöpft, war aber in der Lage selbstständig zu mir herunter zu klettern. Ich nahm sie unten in Empfang und fühlte ihre Stirn. „Geht es dir gut?“, fragte ich sie. Sie nickte zögerlich. „Wir werden euch alle versorgen, wenn wir alle befreit haben“, sagte ich und sie nickte ein zweites Mal.

 

Nach einer schieren Ewigkeit endlich hatten wir alle an die Luft gezogen. Es waren mehr, als ich gedacht hatte, beinahe fünfzig waren dort eingeschlossen gewesen. Doch gemessen an der Zahl, die hier einst in der Stadt gewohnt hatte, waren es weniger als ein Zwanzigstel der ehemaligen Bevölkerung. Alle hatten sie Hunger und Durst und wirkten, als wäre eine Bestie hinter ihnen her. Es musste schrecklich für sie gewesen sein, dort im Dunkeln zu verharren, in der hilflosen Hoffnung auf Rettung.

 

Wir verteilten sie auf alle Betten und Lagerstätten, die wir finden oder in aller Eile errichten konnten, und versorgen alle so gut und so schnell es uns möglich war. Es war kein leichtes Unterfangen, da man, sobald der Letzte seinen Hunger gestillt hatte, schon wieder bei dem Ersten beginnen konnte, eine Wunde zu versorgen oder ihm noch etwas Wasser zu holen. Doch endlich, als die Sonne schon längst untergegangen war und die Sterne und der Mond bereits hell am Himmel leuchteten, sanken Ithil-dî, Telperion und ich müde und erschöpft vor einer Feuerstelle zusammen. Meine Cousine hatte ihren Kopf auf den Schoß ihres Mannes gebettet und schlief bereits. Ich jedoch konnte noch nicht schlafen, da ich noch viel zu aufgeregt war. So eine Arbeit war etwas Neues für mich gewesen.

 

Ich sah hinauf zu den Sternen und suchte nach dem Sternbild des großen Kriegers. Als ich ihn gefunden hatte, fragte ich Telperion: „Wie kommt es, dass ihr nicht auch in der Halle eingeschlossen wurdet?“ Ich wusste, dass auch er noch wach war, denn seine Finger spielten leise mit dem Haar seiner Gemahlin.

 

Er seufzte leicht. „Wir haben als einzige nicht an der Versammlung teilgenommen, die Delos einberufen hatte. Wir wollten nicht ein weiteres Mal den Lügen lauschen, die er verbreiten wollte.“

 

„Was sagte er euch in seinem Rat?“ Ich vermutete, dass Delos der schwarze Elb war, von dem die Valar gesprochen hatten. Nun hatte ich wenigstens einen Namen, nach dem ich suchen konnte.

 

„Er wollte uns weismachen, dass die Götter uns nicht verlassen haben“, sagte er und in seiner Stimme lag so viel Verachtung, dass es beinahe schmerzhaft war. „Doch wie du sehen kannst, haben sie uns verlassen. Die Stadt ist zerstört, die Vorräte vernichtet und die Bewohner zu einem großen Teil getötet. Was, wenn nicht das Scheiden der Götter, hat dies bewirkt?“

 

Ich seufzte. Offenbar war diese Meinung weiter verbreitet und tiefer verwurzelt, als ich es angenommen hatte. Doch die Tatsache, dass die meisten Delos’ Worten gefolgt waren, zeigte mir, dass es vielleicht doch noch möglich war, sie zum Zuhören zu bewegen. „Die Götter haben uns nicht verlassen. Sie haben keine Macht mehr, weil wir nicht mehr an sie glauben.“ Obwohl ich sein verdutztes Gesicht nicht sah, konnte ich dennoch seine Verwirrung spüren. Kein Wunder, wenn ich es nicht selbst erlebt hätte, würde ich auch nicht an meine eigenen Worte glauben.

 

Vorsichtig legte er den Kopf meiner Cousine neben sich und drehte sich mit dem Oberkörper in meine Richtung, sodass er mich besser sehen konnte. Seine Augen sahen mich fest an. „Was meinst du damit?“ In seiner Stimme lag Wut. „Willst du damit sagen, dass es unsere eigene Schuld ist, dass unser Volk beinahe vollkommen ausgerottet wurde? Dass wir die Ursache für das Beben waren und dass es keine Nahrung mehr für uns gibt? Ist es etwa unsere Schuld, dass wohl nirgendwo auf dieser Welt einen Platz für uns gibt?“

 

Verwirrt hob ich die Hände. „Nein!“, rief ich aus. „So war das nicht gemeint.“ Ithil-dî regte sich unter meinem Ausruf und ich senkte die Stimme, um sie nicht zu wecken. Telperion sah mich herausfordernd an, also setzte ich tief seufzend zu einer längeren Erklärung an. Ich erzählte ihm von der Begegnung mit Varda und Manwe auf dem Götterberg und von der Aufgabe, die sie mir aufgetragen hatten. Schließlich zeigte ich ihm den Ring, den ich erhalten hatte.

 

„Also hatte Delos am Ende doch Recht“, flüsterte er und Schuldgefühle regten sich in ihm. Ich konnte sehen, wie es in ihm arbeitete, doch mir fiel kein Wort des Trostes ein, welches ich ihm hätte spenden könne. Was geschehen war, war geschehen und konnte nicht wieder rückgängig gemacht werden. Niemand wusste das besser als ich. „Was sollen wir tun?“, frage er und sah mich mit traurigen Augen an.

 

Mein Blick wanderte dorthin, wo ich den Taniquetil in der Dunkelheit vermutete und ich seufzte erneut auf. „Ich weiß es nicht genau“, sagte ich und dies entsprach der Wahrheit. Erschöpft ließ ich mich zurücksinken und blickte in die Sterne.

 

Weit außerhalb der Stadt hatten sich die Pferde, aufgescheucht durch das Erdbeben, zu einer großen Herde zusammen gefunden und grasten nun friedlich in der Nähe eines kleinen Baches. Unter den Rochelin hatte es in den letzten Jahren wieder Nachwuchs gegeben, sodass sogar zwei Fohlen zwischen den ausgewachsenen Tieren standen.

 

Zwei Gestalten, in der Nacht schwer zu erkennen, hockten versteckt hinter einem Gebüsch und beobachteten die friedliche Szene. Es war ein Wunder, dass keines der edlen Tiere bei der Flucht durch die Trümmer ernsthaft verletzt worden war. Nur eines von ihnen, eine elegante Fuchsstute, lahmte ein wenig.

 

„Du willst doch wohl nicht näher rangehen“, flüsterte die raue Stimme der kleineren, gedrungenen Gestalt der hoch Gewachsenen zu. Der Große legte einen Finger an die Lippen und bedeutete seinem Gefährten damit, ruhig zu sein. Sollte die Herde Wind von ihnen bekommen, würden sie erschreckt davon stürmen und das würde die Verletzung der Stute vermutlich noch schlimmer machen.

 

Auf Zehenspitzen schlich der Größere nun um den Busch herum. Der Wind stand günstig für ihn, doch er durfte die Pferde nicht durch sein plötzliches Auftreten verschrecken. Also stimmte er ganz leise, kaum hörbar, eine Melodie an, die ihm gerade durch den Kopf ging. Erst summte er nur ein wenig, doch als die Tiere begannen ihre Köpfe zu heben und in seine Richtung zu blicken, formte er beruhigende Worte mit den Lippen. Langsam und bedächtig schritt er auf die Stute zu, die ihn bisher beharrlich ignorierte, bis er nur noch wenige Fuß weit von ihr entfernt war.

 

Als sie ihn ansah, blieb er stehen. In ihren braunen Augen brach sich das Licht der Sterne, als hätte man sie vom Himmel geholt und sie der Stute zum Geschenk gemacht. Fasziniert betrachtete er sie eine Weile, dann trottete sie schließlich auf ihn zu und rieb ihre Nase an seiner Schulter. Zärtlich kraulte er sie unter dem Schopf feuerroter Haare. „Du bist ja eine richtige Schönheit“, flüsterte er ihr zu. „Ich werde dich von nun an Êlhen nennen.“ Die Stute schnaubte zustimmend und stieß ihn an.

 

Ganz sanft tastete er nun ihre Beine ab und fand schließlich in einem der Hufen einen kleinen Splitter. Er entfernte ihn und sie bedankte sich bei ihm, in dem sie ihm erlaubte, auf ihr zu reiten. Geschickt schwang er sich auf den muskulösen Rücken und trabte an.

 

Sein Gefährte kam nun hinter dem Gebüsch hervor, als er sah, dass der Andere ihn hier mit diesen Monstern alleine lassen wollte, und rief: „He, Spitzohr!“ Doch der Angesprochene reagierte nicht, sondern ließ sein Reittier angaloppieren und ritt davon. Fassungslos starrte er seinem Freund hinterher, rechnete fast damit, dass dieser einen Scherz machen und augenblicklich wieder umdrehen würde, doch es geschah nichts. Bald hatte die Dunkelheit ihn verschluckt und er blieb alleine zurück.

 

Mittlerweile hatten sich alle Augenpaare der Tiere auf ihn gerichtet und er kam sich richtig unbehaglich vor. Er räusperte sich kurz und tat so, als wäre er gar nicht da, doch das Gefühl beobachtet zu werden, blieb. Also beschloss er kurzerhand wieder zurück zur Stadt zu gehen. Sein Freund würde sich schon nicht verlaufen.

 

Auf dem Weg zurück allerdings musste er feststellen, dass die Pferde ihn schneller in ihr Herz geschlossen hatten, als ihm lieb war. Denn kaum war er zehn Schritte gegangen, folgte das erste Tier ihm. Und als seine Artgenossen sahen, dass es wieder in Richtung Heimat ging, folgten sie ihm. Darüber war er so erstaunt, dass er wieder stehen blieb und das Tier anstarrte, welches ihm als erstes gefolgt war. Der kleine, stämmige Hengst jedoch kam weiter auf ihn zu, blieb direkt neben ihm stehen und legte sich nieder. Verblüfft bestieg er dessen Rücken und ließ von ihm zurück in die Stadt tragen.

 

Als am Morgen die Sonne aufging, fühlte er jeden Knochen im Leib und sein Hinterteil fühlte sich an, als hätte er auf einem Vulkan gesessen. So eine Reise zu Pferd konnte anstrengend sein, dachte er müde und stieß einen kleinen Freudenschrei aus, als er endlich die Dächer der Stadt vor sich sah.

 

Trotzdem machte sich ein beklemmendes Gefühl in seiner Brust breit. Bevor sie zu der tagelangen Suche nach den Pferden aufgebrochen waren, wozu er sich nur schwer hatte überreden lassen können, hatten auch sie den Ausführungen von Delos gelauscht. Doch genau wie alle anderen hatten auch sie ihm kein Wort geglaubt. Als sie damals in dieses Land gekommen waren, nachdem König Elessar gestorben war, hatte er gespannt den Geschichten seines Freundes gelauscht und war mit freudigen Erwartungen hierher gekommen. Doch als sie die Stadt gesehen hatten und in was für einen Zustand sie sich befand, hatte er sich gewünscht, nie aus seiner Heimat fortgegangen zu sein.

 

Wie war es möglich, hatte er sich gefragt, dass ein Land so verlassen von allem sein konnte. Mittelerde war sicherlich kein schöner Ort gewesen nach all dem Krieg und den Schatten, die dort geherrscht hatten, doch zumindest hatte es dort noch Freude gegeben, wohingegen es hier nur noch Trauer und Verzweiflung gab. Und nach dem Erdbeben kam ihm alles nur noch trostloser vor. Alles wirkte noch zerfallener als bei seiner Abreise und über allem lastete eine Stille, die man förmlich anfassen konnte.

 

Doch trotz diesem schlechten Gefühl glaubte er, dass sich etwas verändert hatte. Er wusste nicht genau was es war, aber er wusste, dass es etwas geben musste. Dessen war er sich so sicher, als könne er diesen leichten Hoffnungsschimmer, den Silberstreifen am Horizont berühren.

 

Mit einem beschwingteren Gefühl als zuvor ritt er in die Stadt ein. Als sie vor ein paar Tagen aufgebrochen waren, hätte er niemals geglaubt, dass er alleine die Herde zurückbringen würde. Erfreut klopfte er dem Hengst den Hals und streichelte ihm durch die Mähne. „Du bist ein Held, mein kleiner Naugcyll“, sagte er und das Tier wieherte erfreut, als es den gewohnten Geruch in der Nase hatte. Zielsicher fand es die alten Ställe, die ihm so lange ein zu Hause gewesen waren, und ließ seinen neuen Freund endlich absteigen.

 

Er selbst rieb sich Hintern und Beine, die nach der Nacht auf dem Pferderücken gefährlich wund waren, und stiefelte breitbeinig zur Mitte der Stadt. Er hoffte dort auf ein paar Elben zu treffen, die ihm helfen würden, die Pferde zu versorgen. Rochanu wäre sicher überglücklich, seine Tiere wieder bei sich zu haben. Und Lalwen würde ihm bestimmt etwas zu Essen geben. Sie freute sich immer, wenn er zu Besuch war.

 

Doch als er das Haus der beiden betrat, musste er feststellen, dass niemand dort war. Die ganze Gegend wirkte wie ausgestorben. Nicht einmal Ratten konnte er in der Speisekammer finden, geschweige denn etwas Essbares. Instinktiv griff er sich an den Gürtel, doch dieser war leer. Seine Waffen hatte er nicht mitgenommen und bereute es jetzt. Wer wusste schon, ob sie noch dort waren, wo er sie zurückgelassen hatte.

 

Aber dann schollt er sich einen Narren. Wer könnte sie hier schon ausrauben wollen. Es gab niemanden mehr in diesem großen weiten Land, außer den Bewohnern dieser Stadt. Und die wenigen Zwerge, die mittlerweile in den Gebirgen weit außerhalb hausten, hatten in ihren Hallen genug Edelsteine, dass sie nichts von Wert stehlen mussten. Was, in Balíns Namen also, war hier geschehen?

 

Gimli, Glóins Sohn, straffte die Schultern. Da musste er wohl oder übel alleine durch. Sein spitzohriger Freund hatte ihn im Stich gelassen und so wie es aussah, musste er dem Geheimnis der verschwundenen Bürger selbst auf die Spur kommen. Entschlossen packte er ein Stück Holz, welches sich hervorragend als Knüppel eignete, und machte sich auf die Suche.

 

 

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Namensbedeutung:

 

Rochelin – Elbenpferde, eine Rasse, die es nur in Aman gibt

Êlhen – Sternenauge

Naugcyll – Zwergenträger

Rochanu – Pferdeelb

Lalwen – Ulme

 

Kapitel 5

© by LilórienSilme 2015

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