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Kapitel 5

 

~ Bad News

 

You just gon' keep it like you never knew

Cause I just heard some real bad news


Joes kleines gemütliches Haus stand am Rande eines Wohngebietes im südöstlichen Teil von Wellington, auf der Halbinsel Miramar, die den Wellington Harbour und die Fritzroy Bay voneinander trennt. Sie mochte es hier, weil es hier so normal war. Die Nachbarn waren zwar höflich und nett, doch sie waren auch nicht zu neugierig, fragten keine unangenehmen Dinge oder lungerten auf der Straße herum, um den neusten Klatsch auszutauschen. Es gab neutrales Gegrüße, wenn man sich begegnete, doch niemand zwängte einem ein Gespräch auf, wenn man es nicht wollte. Und eigentlich wollte Joe nie ein Gespräch.

Die Rollläden waren noch fest geschlossen, als ihr Wecker wieder klingelte. Sie blinzelte verwirrt mit einem Auge auf die Uhrzeit, schaltete das nervige Getöne aus und schob ihren Kopf wieder unter ihr Kissen. Leider blieb dieser Zustand nur wenige Sekunden erhalten, denn sobald ihre Stubentiger hörten, dass ein neuer Tag begann, waren auch sie auf den Beinen. Sie spürte, wie ihre Matratze unter dem Gewicht von Kaiser ein wenig nachgab, dann legte sich das kleine Gesicht an ihren Oberarm, der das Kissen auf ihrem Kopf festhielt. „Miau“, raunzte er direkt in ihr Ohr und ließ sie ihr Gesicht verziehen.

Ohne Vorwarnung hob sie das Kissen an, zog den verdutzten Kater zu sich heran und vergrub ihn unter ihrer Bettdecke. Nach einem kurzen Schreckmoment protestierte er plötzlich lautstark, bis er bald aufgegeben hatte und sich genüsslich streicheln ließ.

Das kleine Gekabbel hatte auch den zweiten Kater auf den Plan gerufen, der bereits vor der Schlafzimmertür gewartet hatte. Seine drahtigen Beine huschten elegant über die kühlen Fliesen und Joe registrierte kaum, dass er da war, bis er direkt vor ihr stand. Sein rostroter, zierlicher Körper blieb angespannt.

Rooney war ein furchtbar nervöses Tier. Sobald er ein Geräusch vernahm, was ihm nicht bekannt war, legte er die Ohren an und verkroch sich irgendwo, bis er die neue Situation einschätzen konnte. Bisher war es nur Joe gelungen, etwas mehr aus diesem Kater herauszuholen. Deswegen hatte sie ihn auch ausgewählt aus dem Wurf winziger Straßenkatzenkinder, die die Nachbarn irgendwann mal in einer Garage gefunden hatten. Jeden hatte er gekratzt oder gebissen, bis auf Joe. Die hatte gleich entdeckt, dass dieser Kater etwas Besonderes war. Und das nicht nur, weil er aus dem sonst schwarz-weißen Wurf herausstach, wie eine Rose in der Wüste.

Sein Bruder Kaiser war der typische Hauskater. Er war größer als sein roter Bruder, hatte einen dicken Kopf und hauptsächlich schwarzes Fell. Nur seine Brust und seine Pfoten waren weiß. Außerdem seine Nase und seine Schwanzspitze. Und er war das genaue Gegenteil von Rooney: zutraulich, treudoof und das Verschmusteste, was sie jemals erlebt hatte.

Nachdem sie ihm also die tägliche Dosis Liebe geschenkt hatte, ließ sie sich von den beiden endlich erweichen. Sie stand auf, tapste in die Küche und stellte den beiden ihr Futter hin. Danach füllte sie den Trinkbrunnen auf. Kurz warf sie einen Blick nach draußen in ihren Garten, konnte allerdings noch nicht viel erkennen, weil die Sonne noch nicht aufgegangen war. Sie konnte also nur hoffen, dass ihre Schildkröte noch an Ort und Stelle war.

Als sie noch ein Kind gewesen war, hatte sie unbedingt eine Ratte als Haustier haben wollen, doch ihre Mutter hatte sich stark dagegen gewehrt. Als Ersatz hatte sie ihr stattdessen eine Dose mit Wasser und Wasserpflanzen zu Weihnachten geschenkt. Erst, als Joe genauer hingesehen hatte, hatte sie die zwei Tiere entdeckt, die darin herum geschwommen waren. Damals waren sie nicht größer als eine Zwei-Dollar-Münze gewesen. Mittlerweile war eine von ihnen aus unerfindlichen Gründen gestorben und die andere hatte eine stolze Länge Panzerlänge von 21 cm erreicht. Dadurch war sie mittlerweile auch zu groß für ihr Terrarium geworden, was sie nun nur noch im Winter bewohnte. Im Sommer konnte sie sich im Gartenteich austoben, den sie auch gelegentlich schon mal verlassen hatte. Ihr direkter Nachbar George Miller hatte sie schließlich irgendwann in seinem heißgeliebten Rosenbeet gefunden, wo sie sich gerade hatte eingraben wollen.

Da Joe normalerweise kaum ein soziales Leben hatte, bedeuteten ihre Tiere ihr die Welt. Es war nicht leicht für sie gewesen, in der neuen Stadt Fuß zu fassen, doch sie hatten sich alle vier aneinander festgehalten und diese Eingewöhnungsphase überstanden, wobei ihre Schildkröte vermutlich am Besten mit dem Umzug klargekommen war.

Es fiel ihr selbst jeden Morgen schwer, das Haus zu verlassen, in dem Wissen, sie würde erst am späten Abend wiederkommen. Das wussten auch ihre Kater, wobei Kaiser mehr Trennungsängste zu haben schien, als irgendjemand sonst. Jeden Morgen, wenn sie ihre Tasche und die Schlüssel nahm, stellte er sich vor die Haustür und versuchte ihr den Weg zu versperren. Und jeden Morgen nahm sie ihn noch einmal auf den Arm, kraulte ihn ausgiebig und setzte ihn dann im Flur wieder ab, wo sein Bruder gelangweilt zuschaute, wie sie die Haustür von außen schloss. Zum Glück hatte sie eine Katzenklappe, sodass die beiden nicht den ganzen Tag im Haus eingesperrt sein mussten. Allerdings hatte auch das schon für böse Überraschungen gesorgt. Nur intensives Training und ausführliche Gespräche hatten Rooney dazu bewegen können, seine Beutetiere auf der Terrasse zu lassen und nicht mit rein zu bringen.

Im Workshop angekommen herrschte noch vollkommene Stille. Gestern war der Hauptdarsteller Martin Freeman am Set eingetroffen, während die Zwergendarsteller bereits in ihrem Bootcamp waren. Auch Freeman hatte beschlossen, daran teilzunehmen. Er hätte es zwar nicht gemusst, doch er hatte es gewollt.

Für Bilbos Kostüm war Joe allerdings nicht verantwortlich. Sie arbeitete seit ein paar Tagen - nachdem Thorins und Dwalins Kostüme endlich soweit fertig gewesen waren, dass sie sie in die Schmiede hatte geben können - wieder an den Elbenkostümen für Bruchtal. Sie hatte auch bereits ein paar Dinge für die Düsterwaldelben fertig, doch damit durfte sie sich noch etwas Zeit lassen.

Der Drehplan sah vor, dass mit der Rätsel-Szene zwischen Bilbo und Gollum begonnen wurde. Für Andy Serkis, den Gollum-Darsteller, mussten ohnehin keine Kostüme angefertigt werden, da er die gesamte Drehzeit, die er hier verbrachte, in einem grauen Overall steckte, auf dem Markierungen angebracht waren. Diese würden später dann dazu benutzt werden, aus dem Menschen eine computeranimierte Figur zu machen. Dabei war die Technik mittlerweile schon wieder einige Schritte weiter voran gekommen, seitdem man das Motion Capture-Verfahren für Der Herr der Ringe optimiert hatte. Richard hatte ihr verraten, dass Gollum noch echter aussehen würde, als in der Trilogie.

Nachdem Serkis dann mit seinem schauspielerischen Part fertig war, würde er die Regie in der Second Unit übernehmen und parallel zu Peter ebenfalls drehen. Joe hatte bei einer Besprechung mal gehört, dass Peter ihn völlig unvorbereitet gefragt hatte und Andy erst einmal heftig schlucken musste, bevor er überhaupt in der Lage war, dazu etwas zu sagen.

Sie hatte mit ihm mitfühlen können. Als man ihr diesen Job hier angeboten hatte, hatte sie genauso reagiert. Wobei er vermutlich viel mehr zu sagen hatte, nachdem er den ersten Schreck verdaut hatte, als sie.

Nachdem Joe also bereits eine halbe Stunde an dem Kostüm für Lindir gearbeitet hatte, klopfte es plötzlich an ihre Ateliertür. Emily, eine Kostümbildnerin und ihre einzige Freundin mit Ausnahme von der älteren Beverley, die auch bereits schon bei Die Chroniken von Narnia mitgearbeitet hatte, steckte ihren Kopf herein. „Guten Morgen, Sonnenschein!“

Ihre Stimmung war meist zu gut, um sie überhaupt länger als fünf Minuten ertragen zu können, doch sie war die einzige in der gesamten Crew, die Joe überhaupt jeden Tag einen guten Morgen wünschte. Am Anfang hatte Joe gedacht, das mache sie nur, weil sie das bei jedem tat. Doch mittlerweile schien Emily sie wirklich gern zu haben.

Sie waren in etwa im selben Alter, doch das war auch schon alles, was sie gemeinsam hatten. Während Joe blond und klein war, war Emily groß und dunkelhaarig, aufgeweckt, immer fröhlich und hatte stets den passenden Spruch auf den vollen Lippen. Sie hatten sich kennen gelernt, als Joe ihr Arbeit aufgetragen hatte. Oder zumindest hatte sie es damals versucht. Sie hatte ihr einen Mantel der Elben hingelegt und eine Zeichnung, dann war sie wieder verschwunden.

Zuerst hatte Emily es persönlich genommen und hatte sie zur Rede stellen wollen. Doch als sie gemerkt hatte, das Joe keineswegs arrogant, sondern einfach nur schüchtern war, hatte sie die Kleinere in Schutz genommen vor den anderen und versucht, sie in den Mittagspausen irgendwie zu integrieren, was auch Beverley bereits versucht hatte. Doch auch der Jüngeren war das bisher nicht wirklich gelungen. Wenn Joe außerhalb des Workshops Pause machte, dann höchstens mit Emily, aber nicht mit anderen. Sie fühlte sich einfach nicht wohl unter vielen Menschen.

Etwas kleinlaut wie jeden Morgen sagte sie daher: „Morgen, Em“, und lächelte scheu. Dabei sah sie kaum von ihrer Arbeit auf.

Ungefragt trat Emily ein, schmiss sich ungeniert auf den einzigen Stuhl, den es in diesem Raum gab, begrub dabei Joes Tasche und Jacke unter ihrem grazilen Hinterteil und legte die Füße auf den Arbeitstisch. „Kommst du heute auch zu der Drehbuchlesung? Soll ganz interessant werden. Eigentlich dürfen wir nicht dabei sein, hat Richard gesagt. Aber er meinte, wenn wir leise sind, dürfen wir von draußen aus zuhören. Es geht etwa in einer Stunde los.“

Verdutzt sah Joe hoch. Nicht, dass es sie nicht interessiert hätte, doch es verwunderte sie, dass Richard gesagt haben sollte, dass sie zuhören dürften. Das sah ihm gar nicht ähnlich. Er erlaubte ihnen viel, doch das war sicher nur eine Sache zwischen Peter, Fran und den Darstellern. Skeptisch zog sie daher eine ihrer Augenbrauen hoch und sah Emily an.

Die knickte sofort ein. Es wäre auch zu schön gewesen, wenn ihr Plan, Joe etwas aus ihrem Schneckenhaus herauszuholen, so einfach gewesen wäre. Sie in einen Club zu bekommen war nahezu unmöglich. Daher hatte sie gehofft, sie so wenigstens unter Leute zu bringen. Und es gab da ein paar Schauspieler, die wirklich gut aussahen. Vielleicht war ja sogar einer für Joe dabei. „Na gut“, gab sie daher zu und warf die Hände in die Luft. „Du hast mich erwischt. Richard hat es uns sogar verboten. Aber ich dachte, wir könnten uns reinschleichen, die Profis bei der Arbeit beobachten, sie anschmachten, du weißt schon - Dinge eben.“

„Dinge eben?“ Nun endlich legte Joe ihre Nadeln weg und sah Emily an. Sie würde sie als die engste Freundin bezeichnen, die sie im Moment hatte. Deswegen war es ihr auch mittlerweile ein Leichtes, mit ihr zu sprechen. Auch, wenn das seine Zeit gedauert und Emily viel Mühe und Schweiß gekostet hatte. „Das soll nicht zufällig wieder ein Versuch sein, mich zu verkuppeln?“

Emily war bereits seit ein paar Jahren mit ihrem Freund Mike zusammen, den sie über alles liebte, auch wenn Joe fand, dass er ein ziemlicher Großkotz war. Nicht selten versuchte sie daher ihre kleine Freundin auch irgendwie an den Mann zu bringen. Doch bisher waren alle Versuche schon im Keim erstickt worden. Und spätestens, wenn der Kerl Joe ansprach und sie nach ihrer Meinung fragte, zogen sie meistens nach einer Weile entnervt ab, weil Joe einfach kein Wort heraus bekam.

Die Brünette erhob sich schwungvoll von ihrem Stuhl. Sie ging auf Joe zu und legte ihr von hinten die Hände auf die schmalen Schultern. „Aber wie kommst du denn darauf?“ Sie drückte ihr von der Seite einen Kuss auf die Wange. „Aber hast du dir diesen Aidan mal angesehen?! Dieses zauberhafte Lächeln, diese Augen...“ Sie seufzte tief.

Joe allerdings konnte sie nur fragend ansehen, während Emily sich wieder auf dem Bürostuhl herumwälzte. „Wer?“

„Sag bloß, er ist dir noch nicht aufgefallen?“ Und als ihre Freundin nicht antwortete, sagte sie: „In etwa so groß wie ich, lange dunkle Locken, braune Augen, spitzes Kinn, ziemlich jung und ziemlich sexy. Den solltest du dir wirklich mal ansehen!“

Etwas genervt nahm Joe ihre Arbeit wieder auf und versuchte dabei nicht an den Kerl zu denken, der ihr bei seinem ersten Auftreten schon negativ aufgefallen war. Denn vermutlich meine Emily genau den Mann, der sie vor knapp zwei Wochen an ihrem Auto so blöd von der Seite angesprochen hatte und der mit Graham aus dem Taxi gestiegen war. Sie machte nur Pfffft. Auf so einen konnte sie wirklich gut und gerne verzichten!

Irgendwann endlich verschwand Emily wieder und ging an ihre Arbeit. Später erfuhr Joe, als sie sich einen Kaffee in der Küche holte, dass sich ihre Freundin tatsächlich in die Lesung gestohlen hatte, und quittierte das nur mit einem müden Kopfschütteln.

Abends im Bett dachte sie noch eine Weile an das Angebot, was sie ihr gemacht hatte, doch als wieder dieses dämlich grinsende Gesicht von diesem Aidan vor ihrem inneren Auge auftauchte, verwarf sie den Gedanken sofort wieder. Er war sicher nicht jemand, der ihre Art leichtfertig hinnahm. Dazu war er viel zu aufgeweckt.

Mit Graham kam sie hervorragend zurecht. Seine Kostüme waren bereits alle fertig, denn direkt nach der zweiten Anprobe hatte sie alles in die Schmiede geben können. Sie war schon ganz gespannt darauf, wie er später mit vollem Make-up aussehen würde. Die Konzeptzeichnung zeigte ihn mit Vollbart, kahl rasiertem Schädel und Tätowierungen auf dem Kopf.

Auch dieser Richard, der den Thorin spielen würde, würde vollkommen verändert aussehen. Auch für ihn würde es einen Vollbart geben, der allerdings nicht so lang und zottelig werden würde, wie der von Dwalin. Dafür würde er die Haare wesentlich länger tragen, durchzogen von grauen Strähnen. Sie hatte bereits die Perücke für ihn gesehen. Besonders interessant fand sie jedoch die Gesichtsprothesen, die ein paar der Darsteller tragen würden. Meistens vergrößerte man ihre Nasen damit.

Emily hatte Witze darüber gemacht, dass Frauen damit leicht in die Irre zu führen wären. Immerhin sollte man angeblich an der Nase eines Mannes ein anderes, für Emily unglaublich wichtiges, Körperteil erkennen können. Joe hatte dazu nicht viel zu sagen. Nicht, dass sie noch nie mit einem Mann zusammen gewesen wäre, doch es hatte bisher nur einen einzigen in ihrem Leben gegeben und über ihn wollte sie lieber nicht weiter nachdenken.

Der nächste Tag verlief ähnlich wie der vorangegangene. Außer, dass Emily nicht müde wurde, von den Schauspielern zu schwärmen und was manche doch für eine energische Stimme hatten. Besonders Thorin schien es ihr angetan zu haben, denn über ihn sprach sie am meisten. Leider war sie zu ihrem großen Missfallen noch nicht näher als zwei Meter an ihn herangekommen. Als Joe sie fragte, was sie wohl getan hätte, wenn sie direkt neben ihm gestanden hätte, zwinkerte sie ihrer prüderen Freundin nur verschwörerisch zu und Joe zog es vor, nicht weiter nachzufragen.

Sie versuchte daher, sich mehr und mehr auf ihre Arbeit zu konzentrieren, was ihr auch immer besser gelang, je öfter ihre Freundin sich wiederholte mit ihren Schwärmereien. Joe wollte lieber gar nicht wissen, was Mike dazu sagen würde. Doch vermutlich war dem das ohnehin egal.

Später am Abend machte sie es sich dann schließlich mit ihren beiden Katern auf dem Sofa gemütlich, denn sie hatte es geschafft, endlich einmal relativ pünktlich Feierabend zu machen. Und sie genoss die paar Stunden, die sie sich hatte frei machen können. So konnte sie endlich einmal wieder ein bisschen aufräumen und putzen. Ihre Fenster hätten auch mal wieder eine Wäsche nötig gehabt, doch die Mühe würde sie sich vermutlich erst wieder im Frühjahr machen, so wie sie sich selbst kannte.

Ihr nächster Arbeitstag begann wieder sehr zeitig. Ihr Wecker holte sie vor Sonnenaufgang aus den Federn und als die ersten Strahlen der immer kürzer werdenden Tage den Himmel erleuchteten, hockte Joe bereits in ihrem Atelier.

Kurz vor acht Uhr klopfte es. Joe befürchtete schon, sich erneut wieder Emilys Schwärmereien ausgesetzt zu sehen, doch sie war positiv überrascht, als ihr Chef Richard den Kopf herein steckte und ihr einen halbwegs netten Morgen wünschte. Sie konnte an seiner zerfurchten Stirn sehen, dass etwas nicht in Ordnung war. Hatte sie vielleicht Mist bei einem der Kostüme gebaut und musste nun noch mal von vorne anfangen? Oder hatte man gar ein komplettes Kostüm vergessen und der Dreh würde sich verzögern?

Besorgt musterte sie ihn eine Weile, bis sie genug Mut zusammen hatte, um ihn etwas zu fragen. „Alles okay?“ Für mehr hatte es nicht gereicht, dann verschloss sich ihr Mund wieder und sie verfiel in ihr typisches Schweigen.

Es war, als hätte sie ihn plötzlich aus einem sehr tiefen Gedanken gerissen, denn er schüttelte den Kopf und seine Augen kehrten von einem weit entfernten Punkt zurück. „Was?“ Verwirrt sah er sie an. Offenbar wusste er nicht mehr, was er gerade hatte sagen wollen. „Oh ja, entschuldige. Ich habe eine Besprechung angesetzt. Es gibt da etwas, worüber wir reden müssen. Kommst du?“

Er wartete nicht darauf, dass sie ihm folgte, sondern nahm seine Brille ab und putzte sie abwesend im Weggehen an seinem Hemd. Joe blieb noch eine Weile an Ort und Stelle, dann bewegten sich ihre Beine sehr zögerlich. Etwas sagte ihr, dass dieser Tag ganz und gar nicht gut verlaufen würde. Angst kroch in ihr hoch, etwas falsch gemacht zu haben. Was, wenn es ihre Schuld war, dass nun alle zu dieser Besprechung gerufen wurden? Sie glaubte auch bereits die bösen Blicke der anderen auf sich zu spüren, als sie mit ihnen gemeinsam aus dem Großraumatelier ging.

Es war Emily, die sie mit ihrem Arm abschirmte und ein Stück bei Seite zog. „Weißt du etwas Genaueres, wieso wir jetzt zusammenkommen müssen?“

Doch Joe schüttelte nur den Kopf, unfähig zu sprechen. Am liebsten hätte sie sich direkt wieder verkrochen, doch leider würde Richard es sicher bemerken, wenn sie jetzt verschwand. Sicher wollte er sie vor allen anderen dafür verantwortlich machen, dass alles schief lief. Sie wusste zwar noch nicht genau, was schief gelaufen war, doch irgendwas musste es ja sein. Sonst hätte er sie sicher nicht zu dieser Besprechung zitiert.

Der Raum, wo sie alle zusammen kamen, war die Kantine im Weta-Gebäude. Die meisten Tische waren bereits voll besetzt und es herrschte die typische Lautstärke. Unbemerkt schlüpfte Joe auf einen Stuhl in der hintersten Ecke, rutschte auf der Sitzfläche so tief wie möglich und verschränkte zum Schutz die Arme vor der Brust.

Eine Weile mussten sie noch warten, doch dann sorgte jemand endlich für Ruhe und Richard erhob sich in der Mitte. Die Falten in seinem sonst so weich gezeichneten Gesicht waren noch tiefer geworden und Joe meinte, dicke Augenringe hinter der Brille sehen zu können. Was hatte ihm nur letzte Nacht den Schlaf geraubt? Hatte sie wirklich so großen Mist gebaut?

Beinahe wäre sie in Tränen ausgebrochen, weil sie so ein schlechtes Gewissen hatte, dass sie ihm das angetan hatte. Sie hätte sich auch gern bei ihm dafür entschuldigt, doch sie konnte sich kaum noch bewegen, so gelähmt war sie vor Angst. Jetzt würde er jeden Moment verkünden, dass die Arbeit, die sie alle seit Monaten geleistet hatten, völlig umsonst gewesen war.

Nervös beobachtete sie jede seiner Bewegungen, während sie sich auf die Lippe biss, bis die Tränen, die in ihr aufsteigen wollten, wieder zurückgedrängt wurden. Der Schmerz holte sie ein bisschen wieder auf den Boden zurück, doch der wurde ihr sogleich wieder unter den Füßen weggerissen.

Erst ganz leise, dann immer deutlicher, sprach Richard, bis schließlich alle im Raum so still waren, dass man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Niemand wagte auch nur zu atmen und Joe konnte es gar nicht fassen. Einerseits war sie unglaublich erleichtert, dass es nicht ihre Schuld zu sein schien. Doch der wahre Grund machte es für sie nicht einfacher. Sie fühlte sich plötzlich in ihre Vergangenheit zurück versetzt, als ihre Mutter das letzte Mal ins Krankenhaus gekommen war, und eine alte Wunde begann tief in ihr drin wieder aufzureißen. Eigentlich hatte sie gehofft, diese Narbe hinter sich gelassen zu haben, doch offenbar war dem nicht so.

„Es tut mir wirklich leid“, sagte Richard. Dabei rang er die Hände, als könnte er persönlich etwas an der Situation ändern. „Es gibt im Leben ein paar Dinge, die man immer für absolut verlässlich hält. Es ist wie bei einem kleinen Kind: man kann sich nie vorstellen, dass der Vater mal krank wird oder vor etwas Angst hat.“

„Wann ist es denn passiert?“, fragte jemand am anderen Ende des Raumes. Viele nickten zustimmend, als wollten sie damit sagen, dass sie das auch interessierte. Doch anstatt von Richard antwortete Carolynne Cunningham, die strenge First Director Assistentin: „Gestern, nach der Drehbuchlesung.“

Joe warf Emily einen fragenden Blick zu, doch die schüttelte nur den Kopf. Sie hatte davon nichts gewusst. Sie war nur zu der ersten Lesung vorgestern geschlichen. Gestern war sie ganz normal an ihrem Arbeitsplatz gewesen – zumindest mehr oder weniger.

Als Emily sah, wie sehr Joe die Nachricht mitgenommen hatte, drückte sie sie fest an sich. Sofort spürte sie heiße Tränen auf ihrer Bluse, die den zarten Stoff durchnässten, und sie wusste, dass Joe weinte. Niemand wusste etwas Genaueres über ihre Vergangenheit, wieso sie seit Jahren keinen Freund mehr gehabt hatte, wieso sie niemals über ihre Familie sprach oder wieso sie nur zwei Katzen als Mitbewohner hatte. Und es fragte auch niemand. Denn immer, wenn das Thema auch nur ansatzweise in diese Richtung zu gehen drohte, hatte Joe abgeblockt oder war einfach davon gelaufen, weil sie es nicht ertragen konnte. Deswegen konnte Emily nicht wissen, was in ihrer Freundin vorging, doch sie ahnte, dass es nichts Gutes bedeuten konnte.

Es dauerte eine Weile, bis sich die Versammlung auflöste und alle wieder an die Arbeit gingen, weil Carolynne ihnen allen versicherte, dass alles in bester Ordnung war und sich alles nur etwas nach hinten verschieben würde. Doch die Tatsache, dass der große Peter Jackson, der Fels, der jedem Sturm standhält, mit einem durchgebrochenen Magengeschwür im Krankenhaus lag, hing wie eine Todesdrohung über allem.


***


Für einen Montagmorgen herrscht wenig Betrieb auf dem Schulhof. Nur die Hälfte scheint schon hier zu sein. Du stehst, wie üblich, in einer Ecke und beobachtest deine Klassenkameraden beim Spielen. Meist lassen sie dich nicht mitmachen, doch noch öfter fragst du erst gar nicht.

Im Klassenzimmer sitzt du alleine in der ersten Bank, weil sich niemand zu dir setzen wollte. Du bist ein Einzelgänger. Und so fühlst du dich auch am wohlsten. Niemand fragt dich, was du gestern gemacht hast, denn es gab nichts, was du hättest tun können; niemand lästert über deine Zeichnungen, die du während der Stunden anfertigst; niemand kümmert sich um dich.

Es ist kurz vor der ersten großen Pause, als es plötzlich an der Klassentüre klopft und die Frau aus dem Sekretariat eintritt. Sie ruft deinen Namen aus und alle Augen richten sich auf dich. Sofort schrumpfst du auf deinem Stuhl zu einem Häufchen Elend zusammen, möchtest dich am liebsten in ein Mauseloch verkriechen und nie wieder herauskommen, doch die strenge Frau mit dem festen Knoten roter Haare im Nacken und der Nickelbrille auf der Nase ist unerbittlich. Sie winkt dich zu sich.

Nur langsam stehst du auf, kriegst deine Füße dazu, sich auf sie zuzubewegen, denn Angst lähmt dich. Nicht etwa die Angst, dass du etwas angestellt haben könntest, denn das tust du niemals. Es gibt keinen Schüler auf der ganzen Schule der unauffälliger wäre als du. Es ist die Angst, dass alle darauf warten, dass du stolperst, während du zur Türe gehst.

Doch wider erwarten geht alles gut. Sicher bist du an der Türe angekommen. Man sagt dir, dass du deine Tasche mitnehmen sollst, was du auch getan hast. Dann führt dich die strenge Frau vor das Gebäude. Draußen bleibt sie plötzlich stehen und dreht sich zu dir um. Sie geht in die Hocke, um dir besser in die Augen sehen zu können, denn für dein Alter von elf Jahren bist du sehr klein. Sie legt dir ihre Hände auf die Schultern, seufzt einmal tief, dann sagt sie: „Deine Mutter wurde heute ins Krankenhaus eingeliefert.“

Ein riesengroßer Stein befindet sich mit einem Mal in deinem Magen. Er nimmt dir die Luft zum Atmen, lässt deine Knie unter diesem schweren Gewicht weich werden und einknicken. Du gehst zu Boden, ohne dass sie dich auffängt oder dir aufhilft. Sie lässt dich einfach dort sitzen, während du auf den Boden starrst und versuchst, das alles zu begreifen. Aber dein kindlicher Verstand kann das alles nicht verstehen.

Das einzige, was du weißt, ist, dass es etwas Schlimmes sein muss. Denn nur, wenn etwas Schlimmes passiert, müssen Erwachsene ins Krankenhaus. Und aus irgendeinem Grund weißt du in diesem Moment, dass dein Leben sich ändern wird.

© by LilórienSilme 2015

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