LilórienSilme
~ Fanfiction-Autorin ~
Kapitel 5
~ Gilraen und Estel
Der nächste Tag brachte noch ein bisschen mehr Unmut mit sich. Zumindest für die sonst so ausgeglichenen Elben dieses Tals. Während die Zwerge nämlich diesen Ort schamlos für sich ausnutzten und sich zeigten, wie sie wohl am Tage ihrer Geburt ausgesehen haben mochten, berichtete Lindir Herrn Elrond, dass die Vorräte nahezu aufgebraucht waren.
Ich kicherte still in mich hinein, hielt mich ansonsten jedoch im Hintergrund. Was hätte es wohl für einen Eindruck erweckt, hätte man bemerkt, wie ich den Zwergen bei ihrem Bad zugesehen hätte?
So zog ich mich in die Hallen zurück und schritt durch die von Licht durchfluteten Räume. Dabei stieß ich wie zufällig auf den Hobbit. Er schien schon den ganzen Tag auf den Beinen zu sein und jeden Winkel des Tals zu erkundigen, und doch sah er sich immer noch mit wachen Augen und Neugier im Blick um. Besonders das Bildnis von Sauron mit dem Einen Ring schien ihn zu interessieren. Ganz nah trat er heran und betrachtete es genau.
„Habt Ihr etwas gefunden, das Euch interessiert, Herr Hobbit?“, fragte ich leise, erschreckte ihn aber trotzdem etwas.
Schuldbewusst zuckte er zusammen, drehte sich dann zu mir um, erkannte mich und verbeugte sich gleich. „Frau Lilórien“, sagte er sofort, „Ihr habt mich erschreckt.“
Entschuldigend neigte ich meinen Kopf. „Das wollte ich nicht. Es tut mir leid.“
Schnell winkte er jedoch ab. „Oh, das macht doch nichts.“ Er lächelte mich offen an. Dieser Ort hier schien ihm sehr zu gefallen. Er blühte regelrecht auf, seine Wangen wirkten rosiger und im Großen und Ganzen wirkte er viel zufriedener als noch am Abend zuvor.
Seite an Seite schlenderten wir ein Stück von dem düsteren Bildnis weg. Dabei warf er einen Blick auf die Bruchstücke vom Narsil, welche hier aufbewahrt wurden als eine Art Mahnmal für kommende Generationen. Fragend blickte er es an, dann sagte er: „Ich weiß nicht viel über die Geschichte der Elben, da wir uns im Auenland nicht sonderlich dafür interessierten. Trotzdem wüsste ich gerne, was es mit diesem Schwert auf sich hat. Es scheint, als warte es auf jemanden.“
Anerkennend sah ich ihn an. Offenbar hatte er ein Gefühl für solche Dinge. „Das habt Ihr sehr gut beobachtet.“ Wir schritten schließlich ins Freie hinaus und begaben uns in den Garten, wo wir uns auf einer Bank niederließen.
„Erzählt Ihr mir die Geschichte?“
„Natürlich!“, antwortete ich erfreut darüber, jemanden gefunden zu haben, mit dem ich mich unterhalten konnte. „Wenn Ihr sie gerne hören wollt.“
Doch bevor ich weiter etwas sagen konnte, hörte ich hinter uns ein leises Rascheln. Es war kaum wahrnehmbar und vermutlich nur für Elbenohren hörbar. Doch offenbar wurden wir beobachtet. Langsam drehte ich mich um und suchte nach einem weiteren Anzeichen dafür, dass sich jemand in den Büschen hinter uns versteckt hielt.
„Estel!“
Der Ruf ertönte von jenseits der Terrasse, auf der wir saßen und den hinteren Teil des Gartens überblicken konnten. Eine Menschenfrau mit dunkeln Haaren und wachen Augen eilte auf das Astwerk zu, dem ich soeben meine Aufmerksamkeit gewidmet hatte. Ohne Umschweife griff sie in das Grün hinein und zog einen kleinen Jungen hervor, der ihr unglaublich ähnlich sah. Er konnte kaum älter als zehn Jahre alt sein, doch seine Augen wirkten, als wäre er bereits reifer. Blau und stechend beobachteten sie mich, obwohl seine Mutter ihn schon fast grob zurückzog.
Schnell eilte sie zu uns herauf, hielt ihren Jungen dabei fest im Griff und zwang ihn schließlich dazu, sich ebenfalls vor uns zu verneigen, wie sie es gerade tat. Dabei sah sie mir nicht in die Augen, sondern blickte starr auf den Boden zu meinen Füßen. „Entschuldigt bitte, Herrin. Ich wollte nicht Eure Unterhaltung unterbrechen.“ Sie hielt, während sie sprach, den Kopf gesenkt, dann zischte sie an ihren Sohn gewandt: „Und du wirst dich jetzt auch bei der Herrin entschuldigen. Hast du verstanden?“
Beschwichtigend hob ich meine Hände. Die weiten Ärmel des blauen Gewands, das ich trug, rutschen mir dabei über die Arme nach unten und raschelten. Faszinierend beobachtete Estel mich weiter. „Es ist gut“, sagte ich und lächelte. „Es ist doch nichts geschehen.“ Und da sie mir immer noch nicht in die Augen sah, fügte ich hinzu: „Mein Name ist Lilórien aus Caras Galadhon. Und wer seid Ihr?“
Das brachte sie Frau erst dazu, hochzuschauen. Sie hatte dieselben stechend blauen Augen wie ihr Sohn. Ihr Gesicht war ebenmäßig schön für eine Menschenfrau und ihr dunkles Haar wallte ihr in dichten Strähnen über den Rücken. Sie mochte vielleicht dreißig oder vierzig Winter gesehen haben, und doch wirkte sie schon verhärmt wie eine alte Frau. Ein harter Ausdruck lag um ihren Mund, der sie verbittert erschienen ließ. Was hatte sie wohl schon alles durchgemacht?
„Bist du aus Lórien?“, rief Estel begeistert aus, bevor seine Mutter antworten konnte. Mit einem zischenden Laut brachte sie ihn wieder zum Schweigen. „Sei nicht immer so vorlaut!“, schallt sie ihn, dann antwortete sie: „Ich bin Gilraen aus Eriador. Und das hier ist mein Sohn Estel.“
Ich lächelte sie beide an, dann blieb mein Blick auf dem Jungen hängen. Noch immer sah er mich erwartungsvoll an. „Ja“, sagte ich schließlich, „ich komme aus Lórien. Möchtest du meine Geschichte auch hören?“
Sofort begannen seine Augen zu funkeln. „Oh ja, bitte!“, rief er begeistert aus und sah seine Mutter flehend an. Diese gab schließlich nach und so setzte sich der Junge zu meinen Füßen auf den Boden. Ich stellte ihnen den Hobbit vor, dann begann ich vom Ersten Ringkrieg zu berichten. Doch bevor ich zu der Stelle gekommen war, die Herrn Bilbo so interessiert hatte, erhob sich Gilraen plötzlich von der Nachbarbank, auf der sie sich niedergelassen hatte.
„Das ist genug!“ Ihre Stimme schnitt hart zwischen meine Worte und brachte mich zum Verstummen. Ohne sich weiter zu erklären hob sie ihren Sohn wieder auf die Beine. „Kommt, Estel, das waren genug Geschichten für heute.“ Sein Quengeln ignorierend verabschiedete sie sich höflich von uns, dann verschwand sie in Richtung des Haupthauses. Herr Bilbo und ich blieben allein zurück.
„Eine seltsame Frau“, stelle er schließlich fest, als die beiden nicht mehr zu sehen waren.
„Wohl eher eine traurige Frau“, erwiderte ich. „Schwerer Kummer hat sie gezeichnet, das kann ich in ihren Augen lesen. Es muss etwas Schlimmes geschehen sein, weswegen sie ihren Sohn so beschützt.“
Nachdem sich der Hobbit und ich schließlich wieder getrennt hatten, suchte ich Herrn Elrond auf. Wie immer saß er gemeinsam mit Gandalf in seiner Bibliothek und sie schienen in keine freudige Unterredung verwickelt gewesen zu sein, welche ich unterbrochen hatte. Doch der Zauberer wirkte glücklich ob dieser Zerstreuung.
„Wisst Ihr schon, wie lange die Zwerge noch bleiben wollen?“, fragte ich ihn, doch er seufzte nur tief. Das konnte eigentlich schon Antwort genug sein für mich, doch er fügte noch hinzu: „Ich fürchte, dass sie sich bald auf den Weg machen werden, denn Thorin drängt es, den Erebor vor dem Durinstag zu erreichen. Es haben sich Neuigkeiten ergeben.“
„Sie wollen in den Einsamen Berg eindringen?“, fragte ich ehrlich erstaunt. „Doch darin haust noch immer der Drache Smaug. Was könnten sie dort wollen, außer jämmerlich zu Grunde zu gehen?“
Der Zauberer lächelte. „Mir scheint, dass Ihr den Willen der Zwerge genauso unterschätzt wie Herr Elrond. Glaubt nicht, dass sie nichts haben, wofür es sich zu kämpfen lohnt.“
Das Thema wechselnd, sagte Herr Elrond schließlich: „Was führt Euch zu uns? Wolltet Ihr etwas mit uns besprechen?“
Ich atmete einmal tief durch, weil ich nicht recht wusste, wieso mich so sehr die Neugier gepackt hatte, doch etwas an dem Zusammentreffen mit Gilraen und Estel hatte mich aufhorchen lassen. Diese Menschenfrau hatte etwas an sich, das ich eigentlich nur mit dem Auftreten einer Königin vergleichen konnte. Doch ich hatte ihren Namen noch nie gehört. Und Eriador war groß. „Ich bin vorhin Estel und seiner Mutter begegnet. Wieso habt Ihr Menschen unter Eurer Obhut?“
Augenblicklich spürte ich, wie die Temperatur im Raum um ein paar Grad fiel. Eisiges Schweigen breitete sich zwischen uns dreien aus und die beiden schienen meinen Blicken auszuweichen, obwohl ich ihre Augen suchte. Ich hatte mich also doch nicht geirrt, mein Instinkt hatte mich in die richtige Richtung gewiesen.
Eine Weile sagte niemand ein Wort. Als es mir schließlich zu lächerlich wurde, hakte ich nach. „Nun, mir scheint, dass ich ein ungehöriges Thema angesprochen habe. Wollt Ihr mir vielleicht verraten, was daran so ungehörig ist? Oder muss ich es selbst herausfinden?“
Elrond seufzte tief auf. Er drehte mir halb den Rücken zu, doch dann endlich sah er mich an. „Es ist etwas“, sagte er, „worüber nicht öffentlich gesprochen werden darf. Estel steht unter meinem Schutz, weil sein Leben in Gefahr ist. Seine Mutter brachte ihn hierher, nachdem sein Vater von Orks erschlagen wurde. Mehr müsst Ihr nicht wissen. Ihr werdet mir hoffentlich vergeben, wenn ich diese Angelegenheit nicht weiter ausführe.“ Daraufhin rauschte er aus dem Raum.
Selten hatte ich erlebt, dass ein paar Worte ihn so sehr aus der Ruhe bringen konnten. Doch zum Glück war Gandalf aus anderem Holz geschnitzt. Also setzte ich mich zu ihm, während er seine Pfeife stopfte, und sah ihm dabei zu, wie er den Tabakbeutel erst sorgfältig herausholte, dann etwas davon in den Pfeifenkopf gab und es schließlich anzündete.
Ein süßlicher Duft breitete sich um uns herum aus, der mich vermutlich immer an ihn erinnern würde. Nachdem er ein paar Züge getan und ein paar Ringe in die Luft gepustet hatte, sagte er schließlich: „Mir scheint, dass Ihr es sehr gut versteht, Finger auf frische Wunden zu legen.“ Dabei grinste er mich schamlos an.
Ich hatte jedoch den Anstand zu erröten. „Das ist wirklich keine Absicht gewesen. Sie haben mich nur neugierig gemacht, die beiden.“
„Das kann ich mir vorstellen.“ Er beugte sich ein bisschen vor, um mir besser in die Augen sehen zu können. „Und weil ich weiß, dass Ihr keine Ruhe geben werdet, bis ich Euch gesagt habe, was ich weiß, ich es aber eigentlich nicht tun darf, sage ich nur so viel: Gilraen ist eine der Dúnedain.“
Und damit ließ er mich verwirrt zurück, denn seine Information hatte mir nicht mehr Klarheit verschafft, wie ich eigentlich gehofft hatte. Mir war nicht bewusst gewesen, dass noch welche der Dúnedain in diesen Landen existierten, hieß es doch, dass sie mit dem Untergang von Arthedain immer mehr in Vergessenheit geraten waren, bis sie schließlich ganz ausstarben. Wie war es möglich, dass noch welche von ihnen am Leben waren?
Und selbst wenn sie am Leben waren, was könnte sie näher an das Nebelgebirge treiben, als nötig? Insbesondere bei einer Frau, deren Mann von Orks erschlagen worden war.
Auch Gilraens überhasteter Aufbruch, als ich Bilbo und Estel von der Geschichte des Ringes erzählen wollte, stimmte mich nachdenklich. Sie schien nicht gewollt zu haben, dass er etwas darüber erfuhr. Doch wieso sollte sie das nicht wollen? Es gehörte zur Geschichte dieses Landes dazu. Wir alle wurden noch immer davon beeinflusst.
Einer plötzlichen Eingebung folgend lenkte ich meine Schritte wieder in den Raum, in welchem das alte Schwert Elendils aufbewahrt wurde. Hatte der Hobbit nicht gesagt, dass es wirkte, als würde das Schwert auf jemanden warten? Und war es nur ein Zufall, dass wir danach dem jungen Estel begegnet waren?
Langsam stieg ich die Stufen hinauf zu dem Podest, auf dem das Schwert lag. Es war in sechs Teile zerborsten und das bereits vor nun beinahe drei Jahrtausenden. Und doch lag kein Hauch von Rost auf seiner Schneide, kein Alter schien es gezeichnet zu haben. Es wirkte, als wäre es erst gestern neu geschmiedet worden. Ich wollte meine Hand danach ausstrecken, doch schließlich ließ ich es bleiben. Es stand mir nicht zu, es anzufassen. Außerdem fühlte es sich nicht richtig an.
Entschlossen drehte ich ihm wieder meinen Rücken zu und verließ die Räumlichkeiten. Ich hatte nun etwas, worüber ich nachdenken und worüber ich mit meiner Mutter sprechen konnte. Doch das würde noch etwas warten müssen, denn mein Gefühl sagte mir, dass Saruman der Weiße nicht mehr fern von Bruchtal war und dass wir bald nach Sonnenuntergang mit seiner Ankunft rechnen konnten.