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Kapitel 5

 

~ Flying Dutchman

 

Maria kämpfte sich durch die vielen Schichten ihrer Kleidung nach oben. Ihre Lunge hatte seit einer gefühlten Ewigkeit keine frische Luft mehr geatmet und sie begann bereits zu krampfen. Ihre Finger tasteten sich durch den Stoff, bis sie endlich das Holz des Schiffes fühlte. Sie schob die Lagen bei Seite und steckte den Kopf durch das Loch, das sie sich freigeschaufelt hatte. Sie tat einen tiefen Atemzug.

 

Das Meer spülte noch immer über das Oberdeck der Rubi hinweg, durchtränkte ihre Kleidung und hatte sie bis auf die Knochen durchnässt. Der schwere Stoff, den sie am Körper trug, erdrückte sie beinahe und raubte ihr dem Atem. Einmal mehr verfluchte sie die Tatsache, eine Frau zu sein.

 

Die Kriegsgaleone hatte sich gefährlich auf ihre Steuerbordseite gelegt, sodass sie aus der Vertiefung unter die Treppe gerutscht war. Nun versuchte sie auf dem glitschigen Holz vorwärts zu kommen, doch ihre glatten Ledersohlen glitten immer wieder aus. Schließlich gab sie es auf und kroch auf Händen und Füßen voran.

 

Sie erreichte den Kapitän, der sich am General festklammerte und wie ein kleines Kind wimmerte, wohingegen der General ohnmächtig geworden zu sein schien. Wütend packte sie ihn bei der Schulter und schüttelte ihn. Doch sein Kopf flog nur von der einen zur anderen Seite, als wäre er bereits für immer eingeschlafen.

 

Nun sah sie sich weiter um. Überall lagen Männer an Deck, manche hielten noch ihren Lebensretter umschlungen, andere kämpften sich bereits wieder auf die Beine um zu sehen, was von dem Schiff noch übrig war.

 

Sie spürte, dass der Wind langsam schwächer wurde. Nicht viel, doch es war ein Zeichen von Hoffnung, dass sie vielleicht doch überleben würden. Natürlich hatte sie über die Risiken einer Seereise Bescheid gewusst. Doch wie hätte sie sonst den Altantik überqueren sollen? Fliegen vielleicht?

 

Vorsichtig tastete sie sich zur Reling voran, immer darauf bedacht nicht in einem unaufmerksamen Moment auszurutschen und ihr Schicksal zu besiegeln. Sie hatte gewusst, dass das alles eine ziemlich dumme Idee war. Wieso auch hatte sie Louisiana verlassen müssen?

 

Erst in derselben Nacht, in der die Silberflotte abgelegt hatte, hatte sie La Habana erreicht. Eine kleine Handelsgaleere hatte sie mitgenommen – für einen völlig überhöhten Preis nebenbei bemerkt. Doch eigentlich hatte sie gar nicht fortgehen wollen. Aber vermutlich hatte man gegen das Schicksal keine Chance. Genauso wenig wie gegen einen ausgewachsenen Hurrikan.

 

Wütend stieß sie einen Fluch gegen das Meer aus, doch der Ozean antwortete nicht. Eigentlich hatte sie das auch nicht erwartet, aber irgendeine Reaktion hatte sie sich schon erhofft.

 

Ganz langsam schob sie sich nun über die Reling rüber, damit sie sehen konnte, worauf sie gelandet waren. Das erste, was ihr jedoch auffiel, war ein Körper, der am Schiffsrumpf klebte. Offenbar war er zermalmt worden, als die Rubi sich auf die Seite gelegt hatte. Doch wogegen waren sie geschlagen?

 

Die hohen Wellen hatten sie immer weiter nach Osten getrieben, hatten der Flotte keine Chance gelassen, gegen zu steuern. Sie hatten nur noch die Möglichkeit gehabt, sich zu ergeben und zuzulassen, dass der Wind und die See mit den Booten spielten, als wären sie nicht größer als Spielzeuge. Wie ein zorniges Kind hatte Mutter Natur um sich geschlagen und sie vom Kurs abgebracht. Es erschien ihr nun fast wie eine Bestrafung, wie ein Zeichen dafür, dass sie Spanien nie erreichen sollte. Doch wieso hatte man sie dann erst losgeschickt?

 

Maria schüttelte den Kopf, um diese unliebsamen Gedanken zu vertreiben. Sie wollte nicht weiter darüber nachdenken, wollte eigentlich nur noch zurück nach Hause. Doch leider saßen sie hier erst einmal fest, mitten im Sturm, der mittlerweile jedoch begann abzuflauen. Allerdings würde es noch eine Weile dauern, bis man vielleicht nach Hilfe schicken konnte.

 

Als eine besonders große Welle wieder verschwunden war, sah sie endlich, was ihre Schlingerfahrt schließlich gestoppt hatte. Und nun begriff sie auch, was der Capitán der El Gallo Indiano gerufen hatte: Sirte. Sie waren auf einer Sandbank aufgelaufen. Doch soweit sie das beurteilen konnte, war das ihr großes Glück. Wäre die Rubi weiter gekippt, hätten sie alle irgendwann kopfüber im Wasser getrieben, wie ein Korken, der ein Loch hatte und unweigerlich sinken würde. Die Sandbank und das Riff darunter hatte sie vor dem Ertrinken bewahrt.

 

„Señora!“, hörte sie plötzlich einen Ruf von hinten und drehte sich um. Der Schiffsjunge und persönliche Leibeigene von General de Torres schlitterte hinter ihr auf dem Deck herum und kam ihr gefährlich nahe. Der junge Mann hatte kaum mit ihr gesprochen, seit sie auf dem Schiff angekommen war. Es kam ihr beinahe so vor, als habe er Angst vor ihr. Dabei fand sie ihn eigentlich ganz nett – für einen kleinen Bruder. „Señora, ist Ihnen etwas passiert? Geht es Ihnen gut?”

 

Besorgt sah er sie an. Offenbar hatte er seine Angst bei dem Unglück, welches sie gerade durchleben mussten, verloren, denn er streckte eine Hand aus und wollte ihr Gesicht berühren. Sofort zuckte sie zurück, doch er ließ sich davon nicht beirren und kam immer näher. „Ihr blutet“, sagte er nur.

 

Wie von einer Tarantel gestochen prallte sie nach hinten und mit voller Wucht mit dem Rücken gegen die Reling. Erst jetzt merkte sie, dass die Flüssigkeit, die ihr Gesicht herunter lief, nicht kalt war wie das Meer, sondern warm und dicker als Wasser. Zum ihrem großen Pech jedoch fing die Reling ihren Sturz nicht auf. Da das Schiff sich immer noch gefährlich zur Seite neigte, wurde sie durch ihre eigene Schuld über das Holz hinweg geschleudert. Dabei stieß sie einen spitzen Schrei aus, sah noch, wie Montoya ihr zur Hilfe eilen wollte, sie aber nicht mehr zu fassen bekam. Dann drehte sie sich ein paar Mal um die eigene Achse und landete mit einem lauten Platschen im knietiefen Wasser unter dem Rumpf der El Rubi Segundo.

 

Prustend und Wasser spuckend kam sie wieder hoch. Dabei spürte sie jetzt, wie das Salz des Ozeans in ihre Kopfwunde biss. Aber es machte ihr nichts aus. Bald würde es nicht mehr brennen, wenn die Verletzung ausgewaschen war.

 

Wackelig kam sie schließlich auf ihre Beine zurück. Das Wasser hatte ihren Sturz abgefangen und so konnte sie Montoya beruhigen, der völlig entsetzt nach unten starrte und sich entschuldigte, dass er ihr so nahe gekommen war. Seine Worte gingen beinahe in dem immer noch tosenden Sturm unter, doch sie konnte ihn trotzdem verstehen, nickte ihm zu und deutete ihm, er solle den Capitán zu Verstand bringen, damit der seine Männer auf die Sandbank retten konnte. Sie wollte nicht wissen, was geschehen würde, sollte sich das Meer doch noch entscheiden, die große Galeone verschlucken zu wollen.

 

Einerseits konnte sie das nur fröhlich stimmen, denn dann lag der Schatz von Felipe V. auf dem Grund des Meeres und war sicher. Doch andererseits hatte sie so keine Kontrolle mehr darüber, was damit geschah – und somit auch mit ihr. Wurde der Schatz zu weit auseinander getragen, konnte das schlimme Folgen haben. Schon jetzt konnte sie spüren, dass sie schwächer wurde.

 

Automatisch wanderte ihre rechte Hand zu dem Medaillon um ihren Hals. Sie merkte, wie der Griff um das Metall ihren Puls beruhigte und sie wieder ein wenig auf den Boden der Tatsachen holte. Sie musste sich keine Sorgen machen. Ihr Leben war nicht in Gefahr. Noch nicht jedenfalls. Solange sie das aztekische Stück bei sich hatte, war alles gut.

 

Eine Weile stand sie im Regen, merkte, wie der Wind das Süß- und das Salzwasser gegen ihr Gesicht schleuderte, und duckte sich ein bisschen hinter den schiefen Rumpf, der vor ihr aufragte. Dann endlich erschien der Kopf von de la Torre über ihr. Er warf ihr eine Leiter zu, die sie packte und stramm hielt, dann begann die Crew mit dem Abstieg.

 

Als letztes kam de la Torre selbst. Er war noch immer blass um die Nase, doch seine Augen sprühten wieder Funken. An dem Blick des Generals konnte sie erkennen, dass el Capitán ihm ziemlich zugesetzt haben musste, denn er duckte sich immer wieder, sobald de la Torre einen Befehl brüllte. Offenbar hatte er ihn persönlich für diese Katastrophe verantwortlich gemacht, was allerdings auch nicht besonders weit hergeholt war. Immerhin hatte de Torres darauf bestanden, zur Sturmsaison auszulaufen. Allerdings wollte sie auch nicht wissen, was geschehen wäre, hätte er sich einem königlichen Befehl widersetzt. Felipe V. konnte ziemlich überzeugend sein, wenn er wollte, das wusste sie.

 

Als alle versammelt waren, zählte de la Torre seine Leute durch. Es fehlten nur drei Männer. Zwei waren noch während sie auf See waren von Bord gegangen, als sie aus dem Auge des Sturms herausgeschleudert worden waren. Der Dritte war über die Reling geflogen, als sie die Standbank getroffen hatten. Und sein zerquetschter Körper lag nun keine zehn Meter von ihnen entfernt, eingeklemmt zwischen Holz und Strand.

 

„Was werden wir jetzt tun?“, fragte de Torres ängstlich und blickte sich um. Von dem stolzen General war kaum noch etwas übrig. Das offensichtliche schlechte Gewissen zerfraß ihn von innen und Maria konnte dem nur etwas Gutes abgewinnen. Es war seine Schuld, wenn sie Spanien nun nicht mehr rechtzeitig erreichen würden.

 

De la Torre funkelte ihn jedoch nur an, anstatt ihm eine Antwort zu geben. Dafür bellte er Montoya an, er möge ihm aus der Kajüte seine Unterlagen bringen, falls das Schiff doch noch sinken würde. Der Schiffsjunge nickte ergeben, warf Maria jedoch einen hilflosen Blick zu. Sie sah die Angst in seinen Augen und hoffte, er würde sicher wieder von Bord gelangen können.

 

Als Montoya zurückkehrte, hatte er nicht nur eine Ledertasche mit den Papieren bei sich, sondern auch einen trockenen Mantel für sie. Dieser war allerdings nach weiteren fünf Minuten im Regen schon wieder völlig durchnässt und nützte ihr dadurch wenig. Sie warf ihm trotzdem einen dankbaren Blick zu, verzichtete auf überflüssige Worte, die ohnehin in dem Unwetter nur untergegangen wären. Stattdessen ließ sie ihren Blick über die Sandbank schweifen, in der Hoffnung, noch weitere Schiffe der Flotte entdecken zu können. Doch der Regen fiel noch immer zu dicht.

 

Irgendwann, als sie bereits mehrere Stunden hier festgesessen hatten und zweimal um die Rubi gefürchtet hatten, ließ der Niederschlag endlich nach. Von trocken konnte noch keine Rede sein, doch zumindest konnten sie sich nun alle wieder weiter voneinander entfernen, denn sie hatten sich alle dicht an die Galeone herangequetscht, um sich ein bisschen schützen zu können. Es hatte nicht viel genützt, doch so hatten sie sich gegenseitig ein bisschen Halt und Sicherheit geben können und es hatte vermutlich so manchen Verstand der Mannschaft gerettet. Nur der knochenharte Bootsmann, ein alter Neger mit einer sternförmigen Narbe im Gesicht, hatte sich abseits von ihnen auf Posten gestellt und stur am Schiffsrumpf vorbei Ausschau nach dem Rest der Flotte gehalten.

 

Niedergeschlagen ging Maria zu ihm herüber. Durch eine Körpergröße von beinahe zwei Metern, den breiten Schultern und den düsteren Augen hatte Pierre Noir alleine schon eine ziemlich unheimliche Ausstrahlung an sich, die es den meisten Leuten eiskalt den Rücken hinunter laufen ließ. Dass sein Rücken von Narbengewebe übersäht und sein Gesicht durch seinen ehemaligen Herren entstellt war, tat sein Übriges dazu. Maria jedoch hatte ihn als sehr zuvorkommend kennen gelernt. Zwar konnte er grausam und hart sein bei seinen Bestrafungen, war jedoch auch immer gerecht.

 

„Hast du schon etwas sehen können?“, rief sie gegen den Wind an. Als Antwort erhielt sie nur ein müdes Kopfschütteln. Hätte er etwas gesehen, hätte er es ihnen längst gesagt.

 

Gerade, als sie sich wieder abwenden und in den Schutz des gestrandeten Schiffes zurückkehren wollte, vernahm sie seine tiefe, raue Stimme. Sie musste sich anstrengen, um ihn verstehen zu können, und sie war sich auch nicht ganz sicher, ob sie ihn richtig verstanden hatte, als er sagte: „Etwas kommt auf uns zu.“ Doch dann spürte sie es auch. Die Wellen schienen sich plötzlich höher aufzubäumen als noch einen Augenblick zuvor. Stattdessen nahm der Wind an Stärke ab und trieb den Regen nicht mehr so vor sich her, sodass sie nun weiter aufs Meer hinaus sehen konnten. Doch von der Flotte war weit und breit nichts zu sehen.

 

Dann zerplatzte eine Welle zweihundert Meter vom Strand entfernt und explodierte in einer Wolke aus Weißwasser. Etwas brach daraus hervor, schnellte beinahe senkrecht in die Höhe, dann blieb es auf den Wellen liegen. Angestrengt blickten die Augen der jungen Spanierin gleichzeitig mit denen des ehemaligen Sklaven in die Richtung, doch bevor auch nur einer etwas sagen, die anderen warnen konnte, was da gerade passierte, wuchs plötzlich ein Mann vor ihnen aus der Gischt.

 

Seine Füße standen noch im Wasser, während er schon einen Säbel zog und ihn Pierre unter das Kinn hielt. Der Hüne hatte gar keine Gelegenheit zu reagieren, so schnell war alles gegangen. Sie selbst wurde auf einmal von hinten an den Oberarmen gepackt, wollte sich zu ihrem Greifer umdrehen, doch auch ihr wurde ein Messer an die Kehle gehalten, während sie von hinten die entsetzten Schreie der Mannschaft vernahm. Offenbar waren auch sie überrascht worden.

 

Der Mann, der Pierre mit seinem Säbel in Schach hielt, war älter. Er trug ein Kopftuch aus schwarzem dickem Stoff, aus dem das Meer heraus tropfte, dazu einen bodenlangen Mantel und ein weißes leicht aufgeknüpftes Hemd. Sein Gesicht wirkte bleich und wächsern, als hätte seine Leiche zu lange im Wasser gelegen. Doch war er unzweifelhaft am Leben. Als er den Mund öffnete zum Sprechen drang ein Schwall Salzwasser heraus.

 

„Fürchtest du den Tod?“

© by LilórienSilme 2015

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