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Kapitel 46

~ Rückkehr nach Valmar

 

Der Morgen unserer Rückkehr war anders, als ich es erwartet hatte. Die Sonne hatte ganze Arbeit geleistet und den Boden wieder soweit getrocknet, dass man nicht mehr bis über die Knöchel im Schlamm zu versinken drohte. Die Wolkendecke war aufgerissen und es wehte ein warmer Wind, der die Blüten der Apfelbäume davon trug und Straßen und Häuser in helles Rosa kleidete. Ein süßer Duft lag in der Luft, der eine bessere Zeit anzukündigen schien. Und ich war bereit, ihm zu glauben.

 

Als die Stadt vor uns am Horizont auftauchte, hielten es viele der Kämpfer nicht mehr beim Tross. Sie gaben ihren Pferden die Fersen oder liefen einfach los und stürmten voller Vorfreude auf die Häuser zu, in der Hoffnung, ihre Frauen und Kinder in die Arme schließen zu können. Und bald blieben nur noch die Wagen zurück, begleitet von Oranor, Legolas, Gimli, Thalion, Nella, Nefertirî und Sahîrim.

 

Carim war noch immer nicht erwacht und so verschob ich mein Gespräch mit ihm auf später. Erst würde sich Ithil-dî um ihn kümmern müssen. Seine Gesundheit war wichtiger als die Frage, was in dem Dorf auf den Klippen geschehen war.

 

„Freust du dich auf zu Hause?“, fragte Legolas mich und lächelte mich an. Ich konnte ihm die Erschöpfung der letzten Tage ansehen, die vermutlich nicht einmal annähernd ein Spiegelbild von dem war, wie ich zur Zeit aussah. Ich wollte es auch lieber gar nicht wissen. Der Blutverlust musste mich sehr blass gemacht haben und der körperliche und geistige Kampf hatte mich sehr schwach werden lassen. Ich war froh, wenn ich wieder in meinem eigenen Bett liegen konnte, einem Bett, was nicht hin und her schaukelte.

 

Ich nahm seine ausgestreckte Hand und drückte sie schwach. „Ja, besonders freue ich mich jedoch auf Silme. Ich hoffe, dass es ihr gut geht.“

 

„Aber sicher! Díhena wird sich gut um sie gekümmert haben. Da mache ich mir keine Sorgen. Immerhin scheint sie schon Sahîrim und seinen Bruder großgezogen zu haben.“

 

Ich lächelte müde und betrachtete die Berge im Hintergrund in der Hoffnung, dass die Entfernung nicht so groß war, wie sie mir in diesem Moment vorkam. Leider erreichten wir die ersten Häuser jedoch erst am Nachmittag. Was mich allerdings aufmunterte, war das Leben, was bereits in der Stadt herrschte. Die Stimmung schien so ausgelassen, wie sie schon lange nicht mehr gewesen war, und es ließ mir das Herz leichter werden.

 

An unserem Haus angekommen standen bereits Ithil-dî, Telperion und Díhena bereit, die meine Kleinste auf dem Arm trug. Sie kam auf den Wagen zu und legte sie mir in die Arme. Sofort traten Tränen in meine Augen, ich küsste den samtigen Flaum und drückte sie fest an mich. Und auch sie schien froh, mich wieder bei sich zu haben, denn sie gluckste begeistert.

 

Schnell wurde nun Carim ins Haus gebracht. Díhena und Mîram wichen nicht von seine Seite, während Ithil-dî alles für die Versorgung seiner Wunden bereit legte. Zu unserem großen Glück hatte Telperion, der vorgeritten war, ihr bereits die Situation geschildert, sodass sie sogleich beginnen konnte die Wunde zu säubern und zu verbinden. Sie bestätigte nach einer Stunde unseren Verdacht, dass es nicht lebensbedrohlich für ihn war, der Schock ihn sicher nur schwer erwischt hatte. Wenn er gut gepflegt wurde und man auf ihn achtete, würde er bald auf die Beine kommen. Selbstverständlich durfte er solange in unserem Haus bleiben. Und solange er bei uns war, war auch Mîram bei ihm. Immer hielt sie seine Hand und sorgte so dafür, dass er wusste, dass er nicht alleine war.

 

Hier endlich ließ sich auch Sahîrim, auf Drängen Nefertirîs, versorgen, als man die Leiche seines Vaters zunächst in einem Lagerhaus untergebracht hatte. Wenn ich ehrlich war, wusste ich noch nicht so recht, was mit ihm geschehen sollte. Konnten wir ihn tatsächlich den Göttern überantworten?

 

Meine Cousine kam schließlich auf mich zu. Sie wischte sich gerade die Hände an ihrer Schürze ab. „Jetzt bist du an der Reihe“, sagte sie und ließ ihren Worten Taten folgen. Legolas nahm mir das Kind ab und so konnte sie auch meine Wunde auswaschen und verbinden. Am nächsten Tag konnte ich bereits wieder sitzen. Daher ließ ich Oranor rufen. Ich bat den Rest der Familie, den Raum zu verlassen, da ich mit ihm alleine sprechen wollte.

 

Unsere Unterhaltung dauerte nicht besonders lange, doch es wühlte ihn sehr auf. Besonders besorgt war er um die Sicherheit seiner Tochter und ich versicherte ihm erneut, dass ihr nichts geschehen würde. „Es gibt genügend leer stehende Häuser in Valmar, die man nur wieder bewohnbar machen muss“, sagte ich. „Wenn ihr bereit seid, von den Klippen zu uns zu kommen, dann werden wir euch Platz schaffen. Es sei euch jedoch auch gestattet, auf den Klippen wohnen zu bleiben. Ich möchte niemanden zwingen, hierher zu kommen, wenn er dort noch ein zu Hause hat.“

 

„Ich fürchte nur, dass es das Dorf auf den Klippen bald nicht mehr geben wird.“ Auf meine Frage hin, wieso er das befürchte, fuhr er fort: „Wir haben schon einmal ein schweres Erdbeben erlebt, bei dem viel von den Klippen weggebrochen ist. Sollte so etwas noch einmal geschehen, wird vermutlich ein weiterer Teil des Dorfes ins Meer stürzen.“

 

Ich seufzte tief. Das hatte ich bereits befürchtet. „Ja“, sagte ich daher, „da der Schutz der Valar nicht mehr auf Aman weilt, scheint es zu verfallen. Die natürlichen Grenzen verschieben sich. Es ist schon soweit gekommen, dass wir nun schon nicht mehr auf einem Kontinent leben, sondern nur noch auf einer Insel. Varda nannte sie Avalóna - die äußere Insel. Nebel umgibt die Ostküste bereits sehr lange, alle Häfen sind entweder außer Sicht für Schiffe, oder bereits vom Meer zurück erobert worden. Auch die Spitzen der Pelóri liegen im Nebel. Der Taniquetil und Ilmarin sind nicht mehr zu erreichen. Ich fürchte, dass es keinen Weg mehr zur Insel hin und von der Insel herunter gibt.“ Traurig sah ich ihn an und ich konnte das Entsetzen in seinem Blick erkennen. Davon hatte er scheinbar nichts geahnt.

 

„Dann“, setzte er nach einer Weile des Schweigens an, in der er vermutlich über seine nächsten Worte nachgedacht hatte, „müssen wir uns besonders inbrünstig um den Frieden bemühen. Immerhin sind wir dann wohl die letzten Quendi auf Arda.“ Wieder schwieg er eine Weile, bis ich ihm meine Hand auf den Unterarm legte und damit wieder seine Aufmerksamkeit auf mich lenkte. „Wie wirst du dich daher entscheiden?“

 

Nun war es an ihm, zu seufzen. „Ich werde den Îfhrim berichten, was wir besprochen haben, und hoffen, dass sie mir Glauben schenken. Allerdings haben auch wir bereits beobachten können, dass die Küsten immer kleiner werden und immer öfter und länger im Nebel verhüllt sind. Sie können sich nicht vor den Zeichen verschließen. Und doch bleibt nur zu hoffen, dass sie alle in Eintracht miteinander leben wollen.“

 

Mit diesen Worten trennten wir uns schließlich wieder und Oranor kehrte zu den Klippen zurück. Er war alleine mit uns gekommen und ritt daher auch alleine wieder zurück. Nur Nella blieb hier in Valmar zurück und wohnte bald mit im Haus meiner Cousine.

 

Zwei Tage nach unserer Rückkehr - den einunddreißigsten Geburtstag von Mîram hatten wir sehr still begangen - erwachte Carim schließlich. Ich trug meiner zweiten Tochter auf, ihm eine Suppe und kräftigenden Tee zuzubereiten und ihm das Essen zu bringen. Erst schien sie nicht sonderlich angetan von der Idee zu sein, doch dann folgte sie meiner Bitte. Als sie mit dem leeren Teller zurück kam, berichtete sie mir, dass Carim bereit war, mit mir zu sprechen. Er hätte mir etwas Wichtiges anzuvertrauen.

 

Von Legolas gestützt machte ich mich also auf, zwei Zimmer weiter das Gespräch mit dem Jungen zu suchen. Er sah noch reichlich blass aus, als mein Gemahl uns beide alleine ließ, doch er wirkte entschlossen. Nun schien er seinem Bruder noch mehr zu gleichen. Dass sie am selben Tag geboren worden waren, sah man aber nur auf den zweiten Blick. Sie waren sich nicht so ähnlich wie Ailin und Ilin. Und doch schienen sich Carim und Sahîrim mit jedem Tag ähnlicher zu werden.

 

Vorsichtig setzte ich mich auf das Bettende und sah den Jungen an. Er hatte tiefe Ringe unter den Augen, war dünn und wirkte erschöpft. Vermutlich hatte er viel durchgemacht in den letzten Tagen und Wochen. Und damit meinte ich nicht nur die Konfrontation mit seinem Vater. Davor musste er auch schon viel erlebt haben.

 

Allerdings brannte eine andere Frage auf meiner Zunge: „Wieso hast du dich zwischen meine Tochter und deinen Vater geworfen?“ Sie war mir herausgerutscht, bevor ich richtig darüber nachdenken konnte, und ich bereute es ein wenig. Doch Carim antwortete mir bereitwillig. „Ich konnte Mîram nicht sterben lassen, weil ich ihr geschworen hatte, dass mein Vater ihr nichts antun würde. Hätte er sie getötet, wäre ich vermutlich meines Lebens nicht mehr froh geworden, weil ich ihr gegenüber mein Wort nicht hätte halten können.“

 

Ich nickte zufrieden. So ganz verstand ich es noch nicht, doch das würde ich sicher. Ich fragte ihn nach den Ereignissen auf den Klippen, wie es dazu kam, dass er Mîram in die Hände bekommen hatte, was sein Vater dabei für eine Rolle gespielt hatte und wieso er sich von seinem Bruder verraten gefühlt hatte, und er berichtete mir alles, so gut er es noch wusste. Manches wurde mir jetzt klarer, wie Sahîrim zu uns kam oder wieso er damals nichts über seine Familie hatte preisgeben wollen. Ich verstand, wieso Carim sich Mîram gegenüber verpflichtet fühlte und konnte aus seinen Worten heraushören, dass er mehr für sie empfand, als nur sein Versprechen erfüllen zu wollen. Er wollte sie nicht nur vor äußeren Einflüssen beschützen und auch nicht nur mehr vor seinem Vater. Er wollte sie vor allem beschützen und das sein ganzes restliches Leben lang. Ich verriet nicht, dass ich es wusste, sondern behielt dieses Wissen für mich. Meine Tochter sollte selbst herausfinden, wie der junge Elb für sie empfand.

 

Bevor ich ihn wieder alleine lassen wollte, damit er sich noch ein bisschen ausruhen konnte, hielt er mich jedoch zurück. Ich war der Meinung, dass er mir nun alles berichtet hatte, denn zumindest für mich ergab sich ein schlüssiges Bild von den Ereignissen, die vor zweiundvierzig Jahren ins Rollen geraten waren. Doch scheinbar war das noch nicht alles.

 

Ich setzte mich wieder, denn der Junge machte ein sehr ernstes und schulbewusstes Gesicht, und ich fürchtete Schlimmes. Hatte er etwas vergessen zu berichten? Gab es noch etwas, was den Frieden gefährden konnte?

 

„Ich fürchte, das gibt es, Herrin“, sagte er. „Denn ich hatte Hilfe, als ich Mîram entführte. Eine Zeit lang habe ich hier in Valmar gelebt, unerkannt und ungesehen, denn ich musste in der Nähe sein und schnell handeln können, falls sich mir eine günstige Gelegenheit bieten sollte. Natürlich hatte ich keine Ahnung, dass es Euer Ring war, den mein Vater begehrte. Durch missliche Umstände war ich der Meinung, dass es Eure Tochter war, die Euch das Liebste ist.“

 

„Solltest du irgendwann einmal Kinder haben, wirst du sicherlich verstehen, wieso das so ist, Carim. Für eine Mutter sind die Kinder immer das Liebste. Manchmal vergessen wir so etwas aber auch und dann ist es gut, dass es jemanden gibt, der uns daran erinnert.“ Ich lächelte ihn an und drückte seine Hand, die er auf seinem Bein ruhen hatte. „Doch wie konntest du hier unter uns leben, ohne gesehen zu werden? Wer hat dir dabei geholfen, dich zu verstecken?“

 

„Kennt Ihr die Elbe Delia?“

 

Mein Herz setzte für einen Moment aus, als ich diesen Namen hörte. Wie oft hatte ich ihr damals meine Kinder anvertraut? Wie oft hatte ich sie mit Nefertirî und Mîram alleine gelassen, als die beiden noch klein waren?

 

Und plötzlich ergab für mich alles einen Sinn: ihre Abwesenheit nach der Nacht, in der die Kinder verschwunden waren; ihr seltsames Verhalten in der Zeit danach. Ich hatte gedacht, dass es wohlmöglich daran lag, dass ich so angespannt war. Doch jetzt wusste ich, dass das nicht alleine der Grund war.

 

Ohne weiter etwas zu sagen erhob ich mich und rief nach Legolas. Er stürzte sofort in das Zimmer, sah mein bleiches Gesicht und packte mich bei den Schultern, damit ich nicht das Gleichgewicht verlor. In kurzen Sätzen berichtete ich ihm, was Carim mir soeben erzählt hatte. Dann setzte er mich vorsichtig wieder auf der Bettkante ab und rannte hinaus.

 

Es dauerte eine Weile, bis er wieder zurückkehrte. In der Zeit hatte ich mich bereits wieder zurück in mein Zimmer gezogen und Silme zu mir ins Bett genommen. Ich wiegte sie zärtlich, strich ihr über den kleinen Kopf und küsste sie immer wieder. Was wäre mein Leben nur ohne meine Familie noch wert?

 

Legolas kam zu mir, setzte sich direkt neben mich und küsste unsere Kleinste ebenfalls. Ich sah ihn flehend an, in der Hoffnung, dass er mir sagen würde, dass er Delia gefunden und sie zur Rede gestellt hatte. Doch er konnte nur müde mit dem Kopf schütteln. „Als wir zu ihrer Hütte kamen, war sie bereits weg. Die Nachricht über Delos‘ Niederlage muss schon bis zu ihr vorgedrungen sein. Sie hat alles mitgenommen, was von Wert sein könnte, und das Feuer im Kamin ist nur noch kalte Asche. Ich bezweifle, dass wir sie noch finden werden. Ihr Vorsprung ist zu groß.“

 

„Aber was machen wir denn nun?“ Ängstlich barg ich Silme in meinen Armen. Doch mein Gemahl legte mir beruhigend einen Arm auf. „Mach dir keine Sorgen, Liebste. Ich glaube nicht, dass sie zurückkehren wird. Ihre Schuld ist zu groß, als dass sie uns noch in die Augen sehen könnte.“

 

Doch seit diesem Tag lebte ich ständig in der Angst, sie könnte eines Tages auftauchen und das beenden, was Delos begonnen hatte.

© by LilórienSilme 2015

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