LilórienSilme
~ Fanfiction-Autorin ~
Kapitel 45
~ Vorbei
Es dauerte eine Weile, bis ich wieder zu mir kam. Der Blutverlust hatte meinen Körper sehr geschwächt und es fiel mir nicht leicht, mich an die Oberfläche meines Bewusstseins zu kämpfen. Doch als ich Legolas über mir sah, wusste ich, dass es die Welt war, in die ich zurückkehren wollte.
Sanft streichelte er meine Wange und flüsterte meinen Namen. Dann sagte er: „Es ist vorbei, meleth-nîn. Es ist vorbei.“
Zunächst begriff ich nicht, was er damit meinen könnte. Doch dann setzte ich mich abrupt auf. Mein Körper dankte es mir, indem er eine heftige Welle des Schmerzes durch mich hindurch jagte und wieder Sterne vor meinen Augen tanzen ließ. Als ich sie davon geblinzelt hatte, sah ich endlich, was ich so sehr zu sehen gehofft hatte: Sahîrim lag wohlbehalten in Nefertirîs Armen. Sie hatte seinen Kopf in ihren Schoß gelegt und küsste ihn immer wieder, während sie ihm etwas zuflüsterte.
Der Regen hatte endlich aufgehört und im Osten begann bereits der Himmel aufzureißen. Es musste lange nach Mittag sein, und doch war es noch immer kalt, als wäre es Nacht. Legolas’ Arme aber gaben mir die Sicherheit, die ich brauchte.
Nun drangen laute Stimmen an mein Ohr und ich folgte ihrem Klang. Am Ende des Platzes, auf dem der Kampf stattgefunden hatte, herrschte wildes Durcheinander. Elben standen in einer Traube zusammen und schrieen aufeinander ein, während sie stürmisch gestikulierten. Ich verstand kein einziges Wort, und doch sah ich, wer im Zentrum der Aufmerksamkeit stand: es war der ältere Elb, den ich aus meiner Vision kannte.
Entschlossen bat ich Legolas, mir aufzuhelfen. Er gehorchte widerwillig, bestand aber darauf, mich zu stützen. Als ich an ihm vorbei ging, schenkte ich Sahîrim ein aufmunterndes Lächeln und er dankte mir mit einem kurzen Kopfnicken. Dann trat ich in die Reihen der Îfhrim und nach und nach verstummten die wütenden Stimmen, bis sie mich alle erblickt hatten und erst zögerlich, dann immer entschlossener eine Gasse bildeten, an deren Ende der Elb stand, den ich zu sprechen wünschte. Tarias wollte sich mir noch in den Weg stellen, doch Gimli, der sich lebhaft an der Diskussion beteiligt hatte, hielt ihn zurück, indem er ihm seine Axt vor die Beine hielt.
„Wie ist dein Name?“ Ich blickte den Elb lange an, konnte sein Gesicht jedoch nicht zuordnen. Er kam mir zwar bekannt vor, aber das war auch schon alles.
Er senkte kurz sein Haupt, um mir seinen Respekt zu bekunden, dann sah er wieder auf und sagte: „Ich bin Oranor, Herrin. Es war meine Aufgabe, Herrn Delos in der Schlacht zu beraten als sein Ratgeber.“
„Und wieso hast du ihn verraten?“
Ich sprach es aus, wie es war. Meine Stimme war zwar sanft, doch zuckte er trotzdem darunter zusammen. Offenbar war ihm die Tragweite seiner Handlung noch nicht ausführlich bewusst geworden. „Diese Geschichte ist lang, Herrin“, sagte er schließlich, „und ich möchte sie ungern im Beisein aller erzählen. Es wäre mir jedoch ein Anliegen, wenn wir Herrn Delos zunächst ehrenvoll beisetzen würden.“
Dieser Bitte stimmte ich bereitwillig zu. Mir war nicht daran gelegen, ihn auch noch nach seinem Tod zu entehren. „Doch zunächst möchte ich wissen, wer nun für euch spricht. Wirst du es tun, Oranor?“
Unsicher nickte er, nachdem er einen Blick in die Runde der versammelten Îfhrim geworfen hatte. Keiner schien zu widersprechen, mit Ausnahme von Tarias, der allerdings weiterhin von Gimli in Schach gehalten wurde. „Dann frage ich dich jetzt, Oranor: kehrt ihr zurück zu den Klippen oder werdet ihr mit uns nach Valmar kommen?“
Plötzlich wurde es ganz still. Aller Augen richteten sich nun auf Oranor und mich und jeder schien eine Antwort abzuwarten. Ich konnte mir vorstellen, wie schwierig das für ihn in diesem Augenblick sein musste. Wer wollte schon von einem Moment auf den anderen entscheiden müssen, was nun mit einem ganzen Volk passierte? Vermutlich hatte er noch nicht einmal mit diesem Hintergedanken gehandelt.
Unsicher blickte er zu Boden und dann wieder in meine Augen. „Ich möchte diese Entscheidung alleine nicht treffen, Herrin. Ich hoffe, das könnt Ihr verstehen.“
„Das tue ich gewiss. Doch es gibt Dinge, die ich mit dir besprechen muss. Und das sollte bald geschehen. Und ich möchte es ungern hier auf dem Feld der Schlacht tun. Selbst, wenn nur ein Leben genommen wurde, ist dieser Platz für alle Zeiten besudelt mit Blut. Friedensverhandlungen sollten wir hier nicht führen.“ Ich hörte zustimmendes Gemurmel hinter mir.
„Darf ich etwas vorschlagen?“, hörte ich nun Thalion hinter mir sagen. Er sah sehr gut aus in seiner Kampftracht. Und doch hoffte ich, dass ich ihn nie wieder so sehen musste. Ich nickte ihm zustimmend zu, sodass er sprach: „Wir können mit Oranor zunächst nach Valmar zurückkehren und mit ihm über den Frieden verhandeln. Alle anderen sollen selbst entscheiden, ob sie mit uns kommen wollen, oder weiter in ihren eigenen Häusern leben wollen. So muss keiner für jemanden sprechen.“
„Dein Vorschlag ist sehr weise, Thalion. Wenn Oranor dem zustimmt, werden wir es so halten. Außerdem erlege ich ihm die Bitte auf, sich so viele Elben mitzunehmen, wie er für angemessen hält, die ihm als Eskorte dienen“, sagte ich und so geschah es auch. Eine Stunde später kehrten wir nach Valmar zurück. Oranor jedoch begleitete uns alleine. Nur eine junge Elbe folgte uns in der Ferne. Ich wusste nicht, woher sie kam und was sie wollte, doch ich ließ es geschehen. Immerhin hatte ich angeboten, dass jeder nach Valmar kommen sollte, dem es danach verlangte.
Den Rückweg verbrachten Carim und ich hauptsächlich liegend. Der Jungelb hatte, kurz nachdem wir aufgebrochen waren, das Bewusstsein verloren und war nicht mehr zu sich gekommen. Er wurde daher auf einen der Wagen gelegt und seine Wunde wurde so gut es ging versorgt. Meine wurde ebenfalls versorgt, doch ich ließ nicht zu, dass sie sich mehr um mich, als um Carim kümmerten. Er war wichtiger.
Die Wunde war zum Glück nicht lebensbedrohlich. Zumindest, soweit wir es auf den ersten Blick beurteilen konnten. Sobald wir in Valmar waren, würde Ithil-dî sich um ihn kümmern, denn sie war die beste Heilerin unter uns. Doch der Weg war noch weit und mit zwei Verletzten konnten wir nicht so schnell reisen, wie wir es sonst getan hätten.
Am ersten Abend, als wir unser Lager aufgeschlagen hatten, rief ich Thalion herbei. „Was ist?“, fragte er besorgt, doch ich konnte ihn gleich beruhigen. „Es ist nichts mit mir“, sagte ich und legte ihm eine Hand auf den Arm. „Doch ich beobachte schon den ganzen Tag, dass uns eine junge Elbe folgt. Bitte, schau doch einmal nach ihr. Ich möchte nicht, dass sie weit ab vom Lager schläft. Der Regen hat zwar aufgehört, doch es ist noch sehr kalt und der Boden ist nass. Rufe sie zu uns und bringe sie zu uns an ein Feuer.“
Folgsam nickte er und verschwand. Kurz darauf kehrte er mit dem Mädchen zurück. Schüchtern stand sie vor mir, hatte die Hände zusammen gelegt und sah auf ihre Schuhspitzen. Ihr Kleid war fast bis zur Hüfte mit Schlamm bespritzt und ich konnte die Gänsehaut auf ihrem Arm sehen. „Wie ist dein Name, Liebes?“
„Nella, Herrin“, flüsterte sie so leise, dass ich sie beinahe nicht verstanden hätte.
„Nella, das ist Thalion. Er wird sich nun um dich kümmern. Iss etwas und mache es dir am Feuer gemütlich. Bist du alleine?“ Sie nickte. „Dann werden wir in Valmar eine Familie für dich finden, die dir ein Dach über dem Kopf gibt und ein weiches Bett zum Schlafen. Was hältst du davon?“
Mit großen Augen sah sie mich an. „Aber, Herrin, das kann ich nicht annehmen! Ich verdiene es nicht, von Euch so behandelt zu werden.“
Verärgert sagte ich: „Wieso denkst du so etwas? Wieso solltest du keine gute Behandlung verdient haben?“
Sie zögerte sehr mit ihrer Antwort, trat von einem Bein aufs andere und biss sich auf die Unterlippe. Ich musste sie ein paar Mal drängen, bis sie mir endlich eine Antwort gab, eine Antwort, die mich noch sehr erstaunen und mir einen tiefen Einblick in Delos’ Geist verschaffen sollte. Als sie mir nämlich berichtete, dass sie in seinem Haushalt gedient hatte, nachdem Díhena verschwunden war, konnte ich ihr versichern, dass wir sie immer gut behandeln würden, sollte sie bei uns bleiben wollen. Im Gegenzug würde ich von ihr nur verlangen, mir ihre ganze Geschichte zu erzählen. Und das tat sie auch.
Erst, als es schon beinahe Mitternacht war, hatte sie geendet und ich schickte sie zu Bett. Nachdenklich blickte ich in die Sterne, die nun endlich wieder zu sehen waren. Wie lange waren sie verhüllt gewesen?
„Was denkst du jetzt?“ Legolas hatte sich neben mich auf den Karren gesetzt, meine Hand genommen und beruhigend darüber gestreichelt.
Ehrlich antwortete ich: „Ich weiß es nicht. Es ist noch zu viel unklar für mich. Erst, wenn ich mit Carim und Oranor gesprochen habe, kann ich vermutlich alles begreifen. Und auch dann noch wird es blinde Flecken in der Geschichte geben, die wir nicht ausmerzen können. Aber ich fürchte, dass wir damit werden leben müssen.“
Am nächsten Morgen rief ich schließlich Oranor zu mir. Auch ihn bat ich, mir seine Geschichte zu erzählen, was er auf dem weiteren Weg zurück auch tat. Er hatte mich damals in Valmar sprechen hören, war dem Ganzen zwar nicht ganz abgeneigt gewesen, wie er nun sagte, versprach sich jedoch von Tarias’ Sicht der Dinge mehr. Also war er ihm gefolgt, hatte auf den Klippen mit seiner Frau gewohnt, bis sie bei der Geburt ihrer einzigen Tochter, Merenriel, gestorben war. Seitdem war das Mädchen sein Ein und Alles gewesen und er hätte alles getan, um sie zu schützen.
Und nur wegen ihr war er schließlich noch im Dorf geblieben, weil er Angst hatte, Delos könnte ihr wohlmöglich etwas antun, sollte er sich gegen ihn stellen. „Hat er euch angedroht, dem Mädchen etwas zu tun?“, fragte ich.
„Nein“, antwortete er ehrlich, „doch der Wahnsinn in seinen Augen, der von Tag zu Tag mehr wuchs, machte mir Angst. Als Merenriels Freundin Saerdin bei einem Erdrutsch ums Leben kam, nahm er den Tod der ganzen Familie einfach so hin, als wäre es ein Geschenk der Götter. Die Erde hatte schrecklich gebebt und ein Teil der Klippen war ins Meer gestürzt, doch es schien ihn nicht im Geringsten zu kümmern. Da würde mir klar, dass er vor nichts zurückschrecken würde, bis er sein Ziel erreicht hat.“
„Und aus diesem Grund hast du die Bogensehne losgelassen.“ Es war keine Frage und er verstand es auch nicht als solche. Er hoffte, dass ich es verstehen würde. Und das tat ich auch in gewisser Weise. Ich war selbst Mutter von drei wundervollen Kindern. Hätte auch ich nicht alles getan, um sie zu schützen?
Langsam setzte sich ein Bild für mich zusammen. Es war ein tragisches Bild einer verwundeten Seele und insgeheim, auch wenn ich froh war, dass es nun vorbei war, betete ich dafür, dass er Frieden finden würde in Mandos‘ Hallen. Vielleicht war er dort endlich vereint mit seiner geliebten Milui, für die er so viel auf sich genommen hatte.
Doch es stellte mich nun vor eine unlösbare Aufgabe: würden wir nun wirklich diesen Frieden haben, von dem ich immer gehofft hatte, er würde kommen? Und vor allem: konnten wir dafür Sorge tragen, dass er andauerte? Würde es nicht immer wieder zu Unstimmigkeiten zwischen den Elben kommen, die unweigerlich zum Krieg führen mussten? Und falls ja, wie konnte das verhindert werden?
Ich wollte für meine Kinder eine Umgebung schaffen, in der sie endlich glücklich werden konnten. Denn so würde auch ich glücklich sein.
„Herrin?“ Sahîrim kam zu mir geritten, als wir nicht mehr weit von der Stadt entfernt waren. Auch er hatte Verletzungen vom Kampf davon getragen, doch er ließ sie weder versorgen, noch ließ er überhaupt jemanden sich heran. Nicht einmal Nefertirî konnte zu ihm durchdringen. Die ganze Fahrt über war er neben dem Wagen her geritten, auf den wir Delos‘ leblosen Körper gelegt hatten, als würde er ihn bewachen wollen. Nun, trotz allem war er immer noch sein Vater gewesen.
Ich streckte eine Hand nach ihm aus. „Komm zu mir“, sagte ich und er stieg vom Pferd und sprang zu mir auf den fahrenden Karren. „Ich sehe, dass du traurig bist, und ich verstehe, wieso. Doch bitte glaub mir: was geschehen ist, war nicht deine Schuld.“
„Das stimmt nicht!“, rief er aus und war schon wieder dabei, vom Wagen zu springen. Ich konnte aus dem Augenwinkel sehen, wie meine Älteste bei seinen Worten herumfuhr und ihr Pferd zu uns lenken wollte, doch sie unterließ es mit einem traurigen Blick. Es musste sie sehr verletzten, wie Sahîrim sich nun besonders ihr gegenüber benahm.
Bevor er jedoch wieder fliehen konnte, griff ich nach seiner Hand und hielt ihn fest. „Sieh mich an“, sagte ich leise, aber eindringlich, und er gehorchte zögerlich. „Es war nicht deine Schuld. Du hast versucht es zu verhindern, doch es stand nicht in deiner Macht, es zu tun. Niemand hat gewollt, dass dies alles geschah. Vermutlich du am allerwenigstens. Doch du musst dir jetzt vergeben. Ich weiß, dass es nicht leicht ist. Du kennst meine Geschichte. Doch wenn du zulässt, dass es dich zerstört, wirst du auch andere damit verletzten.“ Ich warf einen bedeutungsvollen Blick in Richtung meiner Tochter. Sie ritt an der Seite ihres Vaters.
Es dauerte eine Weile, doch dann nickte er schließlich. „Ja, Ihr habt vermutlich Recht, Herrin.“ Spielerisch wütend stieß ich ihn an. „Dann hör auf, mich so zu nennen. Denn ich erwarte, dass du mein Schwiegersohn wirst.“