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~ Der Krieg beginnt

 

„Unglaublich!“ Wütend ließ Delos seine Faust auf seinen Schreibtisch krachen. Nachdem sein Sohn und das Mädchen den Raum verlassen hatten, verlor er nun fast völlig die Beherrschung. Hatte er noch eben die Fassung bewahren können, brach es jetzt aus ihm heraus. Dieser Rückschlag war nicht zu entschuldigen und kaum zu verkraften für ihn. Wie sollte er jetzt nur diesen Krieg gewinnen?

 

Wieso nur hatte Carim ihm nicht diesen Ring bringen können? Wieso hatte sein Sohn so viel Schwäche gezeigt und war trotz allem so skrupellos gewesen, ein kleines Mädchen zu entführen? Es passte nicht zusammen. Und eigentlich wollte er darüber auch überhaupt nicht nachdenken. Alles, was jetzt noch zählte, war eine Tugend aus der Not zu machen. Doch wie? Grübelnd ließ er sich in seinen Stuhl sinken, vergrub das Gesicht in den Händen und dachte nach. Wenn er das Mädchen nun bei sich hatte, die zweifellos eine Tochter von mir war, dann musste er daraus seinen Nutzen ziehen. Konnte er sie wohlmöglich als Geisel einsetzen und so eine Abdankung meinerseits erzwingen?

 

Schnell war er zu dem Ergebnis gekommen, dass er Mîram nichts zuleide tun wollte. Solch eine Verzweiflungstat hätte vermutlich nur zu starke Kräfte aus Valmar entfesselt. Immerhin wusste er nicht, mit welcher Magie der Ring Caeya gesegnet war. Vielleicht war es dieses unscheinbare Schmuckstück gewesen, welches damals, vor so vielen Jahren, das Erdbeben entfesselt hatte, was ihn und Milui vertrieben hatte. Doch das konnte er nicht mit Sicherheit sagen, denn es wusste niemand.

 

Eine Weile saß er so da und dachte nach, während draußen der Regen unaufhörlich weiter auf die Erde prasselte. Allzu lange konnte er nicht mehr warten, denn wenn jemand die Entführung bemerkt hatte, würde schnell ein Vergeltungsschlag folgen. Dessen war er sich sicher. Er musste also bald zuschlagen.

 

Doch waren seine Truppen bereits soweit? Er hatte sie schon zusammen gezogen, hatte sie sich bereit machen lassen. Doch jetzt, wo er sich der Unterstützung durch Caeya nicht mehr sicher war, wusste er nicht mit Sicherheit, ob er noch siegen würde.

 

„Bei Mandos!“, rief er plötzlich aus und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Er sprang beinahe aus seinem Stuhl. „Ich werde jetzt nicht zögern und mich verunsichern lassen. Ich werde keine Schwäche zeigen!“ Und dann etwas leiser fügte er hinzu: „Das Mädchen wird mich in die vorderste Schlachtreihe begleiten. Dann werden wir sehen, wie ihre Mutter darauf reagiert, dass ich ihr Leben in der Hand halte.“

 

Entschlossen stürmte er zur Tür und hinaus aus dem Haus in den Regen. Wenn er schnell handelte, konnte er die Elben aus Valmar vielleicht sogar noch überraschen. Oder zumindest unvorbereitet antreffen. Darauf musste er jetzt hoffen. Eine andere Wahl hatte er nicht.

 

Zu lange schon reifte sein Plan und er würde jetzt, da er so kurz vor dem Ziel war, nicht straucheln, weil etwas nicht ganz nach seinem ausgeklügelten Schema verlief. Das konnte er sich nicht leisten. Seine Männer waren immer noch sehr gut ausgebildet und hatten exzellente Waffen. Wenn das für seinen Erstschlag nicht ausreichen würde, dann musste er sich Mîrams bedienen. Und nur allein die Götter wussten, in welche Richtung das führen würde.

 

Als er zur Haustüre hinaus stürmte, trat Nella aus dem Schatten unter der Treppe hervor. Schon lange hatte sie ihren Herrn heimlich beobachtet. Und sie wurde das Gefühl nicht los, dass er etwas sehr Großes, Schlimmes plante. Sie war nicht besonders klug, doch sie hatte eine schnelle Auffassungsgabe und konnte sich bestimmte Dinge gut merken. Noch verstand sie auch nicht, wie die einzelnen Punkte, die sie sich zusammen gereimt hatte, miteinander verknüpft waren, doch sie ahnte, dass es mit dem Krieg zu tun hatte, den Delos austragen wollte.

 

Flink griff sie nach ihrem Mantel, warf ihn sich über und folgte ihrem Herrn widerwillig. Sie konnte ihn immer noch nicht leiden, doch sie hatte stets, aus der Ferne, Gefühle für Sahîrim gehegt. Und sie hatte sich schnell selbst erklären können, dass er hier nicht glücklich gewesen war, unter dem Dach seines Vaters. Dass er fortgelaufen war, war für sie eine logische Konsequenz gewesen, wenn sie darüber auch nicht besonders glücklich war. Und wenn sie alles richtig verstanden hatte in den Unterhaltungen, die Delos und Carim in den letzten Tagen und Wochen geführt hatten, dann hatte Sahîrim beschlossen, sich gegen seinen Vater zu erheben. Und das war für sie möglicherweise ihre Fahrkarte in die Freiheit. Sie musste Sahîrim nur noch finden und sich ihm anschließen. Und das würde sie vielleicht bewerkstelligen können, wenn sie sich heimlich dem Kriegstross anschloss.

 

Delos’ Feldzug würde nicht besonders groß werden. Er rechnete nicht damit, dass es eine große Belagerung von Valmar geben würde. Und selbst, wenn es dazu kommen sollte, würde das Land rund um die Hauptstadt genug abwerfen, um seine Leute eine Zeit lang zu ernähren.

 

Auch rechnete er nicht damit, dass der Kampf lange andauern würde. Sollten sie sich auf halbem Wege treffen, brauchten sie Proviant für zwei Tage, bis sie das Schlachtfeld erreichten mit den Pferden und den Waffen. Und während der Schlacht war an Essen nicht zu denken. Daher hatte er seinen Kriegern aufgetragen, selbst für ihre Verpflegung zu sorgen. So musste er nicht zusätzlich noch Frauen oder Kinder aus dem Dorf entbehren, die auf den Karren mit dem Proviant saßen.

 

Den Zurückbleibenden hatte er nämlich die Aufgabe übertragen, alles zusammen zu packen, was sie finden konnten, damit sie es nach der siegreichen Schlacht direkt nach Valmar schaffen konnten. So musste er nicht zu den Klippen zurückkehren, sondern konnte direkt in die eroberte Stadt einziehen.

 

Alles in allem mussten seinen Krieger somit Essen und Trinken für höchstens eine Woche mitschleppen. Und das war kein besonders großes Zusatzgewicht.

 

Er war sich sicher, dass er an alles gedacht hatte, ging jedoch seine Liste noch einmal durch, bevor er zurück zum Versammlungsplatz der Truppen ging. Denn wenn er dort ankam, wollte er das Zeichen zum Aufbruch geben. Und dann gab es kein Zurück mehr.

 

Doch er wollte auch gar nicht mehr zurück. So viele Jahre hatte er bereits darauf gebrannt, sich an mir zu rächen, dass er es jetzt kaum noch abwarten konnte. Er musste sich zwingen nicht zu rennen, sondern wollte weiterhin vor seinen Leuten gefasst und professionell auftreten. Wenn sie den Respekt vor ihm verloren, war alles dahin.

 

Als er auf dem Versammlungsplatz ankam, warteten alle bereits auf ihn. Sie wussten nicht, dass er den Ring hatte haben wollen, doch es gab Gerüchte, dass er sich hatte einer Waffe bemächtigen wollen, die ihnen zum Sieg verhelfen würde. Und nun, da er endlich auf sein bereitstehendes Pferd stieg nahmen sie an, dass er sie dabei hatte.

 

Tarias warf einen prüfenden Blick auf seinen Anführer, doch er konnte keinerlei Veränderungen feststellen. Er ahnte bereits, dass es etwas mit dem Ring zu tun haben musste. Immerhin war er derjenige gewesen, der Delos davon berichtet hatte, als er zu ihm gestoßen war, damals vor so vielen Jahren. Doch er konnte Caeya nirgends entdecken.

 

„Was glaubst du“, flüsterte er und beugte sich zu Oranor hinüber, „hat er den Ring bei sich?“ Doch der Ältere zuckte nur mit den Schultern. Er hatte sich in Delos‘ Haus überrumpeln lassen, hatte sich von ihm einlullen lassen, sodass ihm freie Hand geblieben war, die anderen Elben für seine Sache zu gewinnen. Er war noch immer gegen den Krieg. Doch er war überstimmt und vor vollendete Tatsachen gestellt worden.

 

Natürlich wollte er in keinem Fall seine süße Tochter in Gefahr bringen, doch er konnte sich genauso wenig gegen Delos stellen. Er wusste genau, wie skrupellos er sein konnte. Merenriel war also nur so lange sicher, solange er sich Delos‘ Wünschen fügte. Wenn der Herr der Îfhrim zufällig bei dieser Schlacht fallen sollte, würde ihn selbst das nicht weiter kümmern. „Und wenn schon“, sagte er.

 

Bevor Tarias jedoch Gelegenheit hatte darauf zu reagieren, ergriff Delos das Wort. Aufrecht saß er auf seinem dunklen Pferd, dessen Fell durch den Regen noch dunkler wirkte, hatte die Zügel fest im Griff und sah nun jeden einzelnen von ihnen genau an. Diejenigen, die ein eigenes Pferd besaßen, schwangen sich nun ebenfalls hinauf. Diejenigen, die zu Fuß würden gehen müssen, überprüften ein letztes Mal ihre Ausrüstung. Dann wandten sie sich ihrem Herrn zu.

 

„Endlich ist es soweit“, sagte Delos und seine Stimme war laut genug, dass sie durch den Regen drang und jeden erreichen konnte, der hier versammelt war. „Lange haben wir - habe ich - auf diesen Tag gewartet und nun ist er endlich gekommen.“ Seine Hände zitterten vor Aufregung. Und mehr Worte konnte er nicht finden. Sein Kopf war voll mit anderen Gedanken und er wollte keinen davon preisgeben, indem er sich wohlmöglich verplapperte.

 

Also winkte er einen Jungen Elb heran, der scheinbar nichts zu tun hatte. „Gwain, komm her!“ Und als er bei ihm war, fügte er leiser hinzu: „Du wirst jetzt in meinen Stall gehen. Dort findest du meinen Sohn und ein Mädchen. Sage deinem Vater, dass er dir helfen soll, die beiden zu mir zu bringen. Ich gebe dir zehn Minuten, dann reiten wir los.“

 

Gwain nickte knapp und lief davon. Und in den zehn Minuten, die noch zu verstreichen hatten, befahl Delos seinen Kriegern zu überprüfen, ob sie alles dabei hatten. Er selbst zog die Riemen seiner Rüstung noch einmal fest, zog probeweise sein Schwert aus der Scheide und stecke es wieder zurück, und setzte schließlich seinen Helm auf, der an seinem Sattel befestigt gewesen war.

 

Sein Mantel hatte sich mittlerweile mit Wasser vollgesogen und hing ihm schwer den Rücken hinunter. Doch er ignorierte das zusätzliche Gewicht und lauschte nur auf das stetige Trommeln des Regens auf dem Metall auf seinem Kopf. Es hatte etwas Beruhigendes, Beschwörendes, sodass es ihm leichter fiel, die negativen Gedanken auszublenden und sich völlig auf sein Vorhaben, den Sieg über Valmar, zu konzentrieren.

 

Endlich kehrten Gwain und sein Vater Iarwain zurück. Carim ging hinter ihnen, freiwillig kam er mit. Doch Mîram musste von den beiden Elben getragen werden. Verbissen wehrte sie sich gegen die Hände, die sie gepackt hatten, trat nach ihren Beinen, doch sie ließen nicht locker. Als sie vor Delos anhielten und er sie von oben heran betrachtete, spuckte sie ihm voller Verachtung ins Gesicht.

 

Ohne zu zögern schlug er zu. Ihr zarter Kopf wurde zur Seite gewirbelt, Blut vermischte sich mit dem Regen auf ihrem Kinn.

 

Sie benötigte einen Moment, um zu begreifen, was soeben passiert war, doch dann fasste sie sich schnell wieder. Sie hatte nicht vor, sich schwach vor ihm zu präsentieren. Diese Seite hatte er schon an ihr gesehen, das weinerliche Kind, was zurück zu seiner Mutter wollte. Doch damit war es jetzt vorbei. Sie war zwar noch jung und ein Mädchen, aber sie war meine Tochter, und das würde sie ihm zeigen. Trotzig sah sie ihn wieder an.

 

„Treib es nicht zu weit, Mädchen“, zischte er ihr zu. Dann bedeutete er Vater und Sohn, sie auf eines der bereitstehenden Pferde zu setzen und wies sie an, sie am Sattel festzubinden. „Carim“, sagte er und sein Sohn eilte pflichtbewusst herbei, „du wirst die Zügel des Pferdes nehmen und hinter mir reiten.“

 

Der Jüngere nickte kurz, dann saß er auf. Man hatte ihm neue Kleidung gegeben und ein Schwert, sodass auch er bereit war für den Krieg.

 

Ein letztes Mal ließ Delos den Blick über seine Siedlung wandern. Dann betrachtete er seine Krieger, sah ihnen prüfend in die Augen, warf einen schnellen Blick auf ihre Ausrüstung, dann ritt er ohne ein weiteres Wort los. Es gab nichts mehr zu reden. Die Zeit für Taten war gekommen.

 

Delos ritt voraus, hinter ihm folgten sogleich Carim und Mîram auf ihren Pferden. Flankiert wurden beide von jeweils einem Dutzend Reitern, die einen engen Kreis um sie schlossen. Dahinter kamen Delos‘ engste Vertraute, unter ihnen Tarias und Oranor, denen ein kleines Bataillon Krieger zu Fuß folgten.

 

Zufrieden warf Delos einen Blick über die Schulter. Beinahe sechshundert Schwerter waren mit ihm. Das war zwar keine Zahl, mit der man in den Altvorderen Tagen den Feind hätte beeindrucken könne, doch dafür, dass es hier in Aman nur noch einen Bruchteil von Elben gab, wie es sie früher gegeben hatte, konnte er eine beachtliche Schlagkraft vorweisen. Wenn er Glück hatte, würden aus Valmar gerade einmal die Hälfte an Kriegern bereit stehen. Immerhin waren sie doch immer ein sehr friedliebendes Volk gewesen, was einem Konflikt, soweit es möglich war, aus dem Weg ging. Es würde viel Überredungskunst benötigen, um sie dazu zu bringen, gegen ihre eigenen Brüder zu kämpfen.

 

Hinter dem Tross der Krieger blieb eine einzige Schlammspur zurück. Die Elben versanken mir ihren Rüstungen und Schwerter bis zu den Waden im Matsch und mussten ihre Stiefel mühsam wieder daraus hervor ziehen. Viele murrten über das Wetter und verfluchten die Götter dafür, dass sie ihnen so viel Regen schickten.

 

Doch manche beteten stumm, flehten Manwe und Varda an, dem ein friedliches Ende zu setzen, bevor sie dem Feind gegenüber standen.

 

Aber die Götter blieben ebenfalls stumm. Weder hörte der Regen auf, noch wurde der Marsch angenehmer. Immer tiefer versank man im Erdboden, bis die Kräfte schon am Ende des ersten Tages beinahe völlig erschöpft waren. An ein Feuer war nicht zu denken und es gab kaum trockene Stellen, um sich einen Schlafplatz zu suchen.

 

Und so trieb Delos sie weiter, ohne große Rast und ohne Schlaf, führte sie Valmar entgegen und zeigte dabei selber keine Anzeichen von Müdigkeit. Denn seine Rache war nah und sein Auge war in den Osten gerichtet. Und so merkte er auch nicht, dass eine zierliche Gestalt in einem grauen Mantel dem Tross folgte. Denn hätte er es geahnt und hätte er gewusst, was diese Gestalt im Sinn hatte, wäre er umgekehrt und hätte sie eigenhändig getötet.

Kapitel 40

© by LilórienSilme 2015

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