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Kapitel 4

 

~ Ghost of a Chance

 

Heftiger Wind zerrte an den Tauen und Segeln der El Rubi Segundo, als der Himmel sich schwarz und drohend tief über sie beugte. Blitze flogen durch die Wolken, erhellten sie von innen und brachten bizarre Figuren zum Vorschein, die mit der erneuten Dunkelheit sofort wieder verschwanden. Das Meer stampfte und rollte, schickte sein Wasser über das Deck, löste Verankerungen und Ladung und zog alles in die Tiefe.

 

Angst zerfraß die Mannschaft von Capitán de la Torre. Viele hatten schon heftigen Seegang erlebt, doch das hier war ein ausgewachsener Hurrikan. Der Wind erreichte dabei Geschwindigkeiten, die einen Großmast durchbrechen lassen konnten, wie ein billiges Zündholz.

 

Von den anderen siebzehn Schiffen hatten sie schon lange nichts mehr gesehen. Die Wellen waren zu hoch um ins Krähennest hinauf zu klettern. Und der Regen zu stark, als dass ein Mann hätte weiter als fünfzig Meter sehen können. Das Meer hatte sie völlig in ihrer Gewalt und nur Gott hätte sie noch aus dieser auswegslosen Situation erretten können.

 

Und so hörte de la Torre, wie seine Männer beteten, den Herrn in Seiner Gnade anflehten, dass Er sie erretten möge. Doch Er blieb stumm, im Gegensatz zu der See, die weiter brüllte und tobte, als hätte sie jemand im äußersten Maße erzürnt.

 

De la Torre verfluchte General de Torres, als ein großer Brecher ihn erneut durch seine Kajüte warf. Er hatte gewusst, dass die Hurrikan-Saison bereits begonnen hatte. Wieso um alles in der Welt hatte er sie trotzdem ablegen lassen? Die El Infante, welches die Vorhut zur Flotte gebildet hatte, als sie La Habana verlassen hatten, war seit einer Stunde nicht mehr zu sehen, obwohl sie keine zweihundert Meter vor ihnen gesegelt war. So konnte de la Torre nur hoffen, dass dem Schiff von Don Domingo de Lanz nichts zugestoßen war.

 

Beide Schiffe und die El Gallo Indiano waren Kriegsgaleonen aus der spanischen Silberflotte, Rey Felipes V. ganzer Stolz. Sie hatten schon Jahre lang Güter von der Neuen in die Alte Welt gebracht, doch bisher war ihm noch kein solcher Sturm untergekommen. Beinahe kam es ihm vor, als hätte der Teufel persönlich sich gegen sie verschworen. Oder waren es vielleicht die heidnischen Götter, die sie erzürnt hatten?

 

Ein spitzer Schrei ertönte aus der winzigen Kajüte neben seiner. Normalerweise war sie dem Schiffsjungen vorbehalten, doch den hatte er aufgrund des hohen Besuches in die Küche verband, was Montoya gar nicht gefallen hatte. Doch er hatte es zähneknirschend hingenommen, schon allein, weil der hohe Gast ihm irgendwie Angst zu machen schien. Es würde de la Torre wundern, wenn der Junge, sollten sie sicher in Spanien ankommen, seine eigene Kajüte noch mal betrat.

 

Die Frau, die sie jetzt bewohnte, war etwa Ende Zwanzig, hatte schwarzes Haar, olivfarbene Haut und dunkelbraune Augen. Zweifellos war sie eine Schönheit. Und doch jagte es ihm jedes Mal einen Schauer über den Rücken, wenn er sie ansah, als läge etwas hinter diesen Augen, was er nicht ergründen konnte. Ganz zu schweigen von der riesigen Totenkopfmedaille, die sie um den Hals trug. Er hörte sie fluchen, als sie, wie er ebenfalls, durch den Raum geworfen wurde, und wunderte sich, dass sie solch schmutzige Wörter überhaupt kannte. Jeder Seemann hätte mit den Ohren geschlackert, hätte er gehört, als was sie den Wind und die Wellen bezeichnete.

 

Doch seltsamerweise schien das den Sturm ein wenig zu beruhigen, denn kaum hatte sie mit ihrer beeindruckenden Schimpftriade geendet, lag das Schiff auf einmal ruhig. Beinahe wäre er durch die plötzliche Ereignislosigkeit vorn über gekippt und auf seinem Schreibtisch gelandet, wenn er sich nicht in letzter Sekunden abgefangen hätte.

 

Staunend warf er einen Blick durch das große Heckfenster, doch der Himmel dahinter war noch genauso schwarz und bedrohlich wie fünf Sekunden zuvor. Waren sie nun im Auge des Sturms?

 

De la Torre nutzte die Ruhe und begab sich an Deck. Hier oben herrschte heilloses Durcheinander. Mindestens die Hälfte der sechzig Kanonen hatte sich gelöst und war ins Meer gefallen. Wenn sie jetzt von Piraten angegriffen wurden, konnten sie kaum darauf hoffen, die Handelsschiffe zu verteidigen, denn den beiden anderen Galeonen ging es sicherlich kaum besser.

 

Als er sich den Schaden genauer angesehen hatte, spürte er, wie der Wind nun gänzlich abflaute. Noch immer waren die Wellen ungewöhnlich hoch, doch sie schlugen nicht mehr so heftig gegen den Rumpf. Langsam kroch die Mannschaft auf ihren Löchern und Montoya war als erster bei ihm um seine Befehle zu hören. Doch dazu kam es nie.

 

Fasziniert starrten beide den Mast entlang in den Himmel. Rund um sie herum hatte es aufgehört zu regnen. Die Wolken türmten sich zu einer Wand auf und umschloss sie in einem perfekten Kreis, sodass sie über sich in ganz weiter Ferne und ziemlich verschleiert ein Stück blauen Himmels erkennen konnten. Das zerrissene Großsegel, welches sie nicht mehr hatten einholen können, hing schlapp herunter, genauso wie alle Taue und Seile. Die meisten Wanten waren gekappt und der vordere Mast wankte bereits gefährlich.

 

Bevor er jedoch den Befehl dazu geben konnte, den Mast zu sichern oder sich selbst gegebenenfalls in Sicherheit zu bringen, frischte der Wind plötzlich wieder auf. Die gespenstische Stille, die vorher geherrscht hatte, wurde vom Heulen der verbliebenen Taue durchbrochen. Eine Gänsehaut kroch Montoya die Arme hoch, als er das hörte. „Espíritus“, flüsterte er und schlang die Arme um seine schmale Brust.

 

Sie waren ganz alleine in dieser kleinen Welt zwischen den zermalmenden Armen des Sturmes gefangen, alle anderen Schiffe waren entweder bereits gesunken oder gingen gerade unter. Eine andere Chance sah er nicht.

 

Noch immer starrten Kapitän und Mannschaft in den Himmel und beobachteten das einmalige Naturschauspiel, das sich ihnen hier bot, auch wenn sie dabei in Lebensgefahr schwebten, als General de Torres das Deck betrat. Er war grün um die Nase und sein sonst so würdevolles Auftreten wurde ins Unermessliche geschmälert durch einen Fleck Erbrochenes, der vorne auf seinem Hemd prangte. Wackelig auf den Beinen kam er neben de la Torre zum Stecken, hielt sich dabei an Montoya fest, der vor dem unangenehmen Atem des Generals zurückwich, aber nicht wagte, ihm seine Schulter zu entziehen. „Was geht hier vor sich, Capitán?“

 

Doch de la Torre antwortete nicht. Seine Augen blickten unverwandt in den Himmel, saugten sich an dem leichten Blau über ihnen fest, während sein Mund sich immer weiter öffnete, ohne dass er es zu merken schien.

 

Er hatte mit dem General diskutiert, hatte eine Umkehr erfleht, doch er war hart geblieben. Nachdem sie zwei Tage auf See waren hatte de Torres jedoch einsehen müssen, dass das Wetter bereits zu schlecht war und hatte die Rückkehr befohlen. Beim Beidrehen jedoch waren sie geradewegs in den Sturm hinein geraten, hatten sich hilflos darin verfahren und waren nicht wieder heraus gekommen. Seit nun mehr vierundzwanzig Stunden schon hatte der Seegang so schlimm gewütet, dass jeder dachte, sein letztes Stündlein hätte geschlagen. Doch bis dahin hatte niemand geahnt, dass sie sich bereits mitten im Hurrikan selbst befunden hatten.

 

Jegliche Farbe wich aus de la Torres Gesicht und beinahe sah er so schlimm aus wie der General. Dann hörten sie alle einen Ruf, der von sehr weit weg zu kommen schien. Wie ein Mann fuhren alle herum. Keine hundert Meter hinter ihnen dümpelte die El Gallo Indiano vor sich hin. Auch sie hatte es schwer getroffen, denn sie sah beinahe noch schlimmer aus als die Rubi. Ein Loch klaffte oberhalb des Kiels in der Bordwand, wo eigentlich ein Kanonenschacht hätte sein müssen. Vermutlich hatte der Wellengang die Verankerung gelöst und das schwere Kriegsgerät mit voller Wucht durch das Holz nach draußen geschossen. Ein Wunder, dass das Schiff noch nicht gesunken war.

 

Ein paar Sekunden lag starrten sie alle das Schiff an, welches wie von Geisterhand neben ihnen aufgetaucht war. Der Bootsmann ließ seine Peitsche fallen, als er mit offenem Mund dorthin sah; Montoya verlor fast den Halt, als der General sich noch schwerer auf ihn stürzte; und de la Torre machte wie in Trance ein paar Schritte Richtung Reling.

 

Seine Hände legten sich um das rissige Holz und ein Splitter bohrte sich in die Haut, doch er beachtete es nicht. Er starrte nur völlig apathisch auf das Deck der Gallo, wo er Capitán de Maturana sehen konnte, wie er wild mit den Armen ruderte. Neben ihm konnte er den Bootsmann erkennen, der ebenfalls etwas rief und winkte, als wolle er seine Arme herausreißen. Angestrengt blickte de la Torre zu ihnen herüber, versuchte zu verstehen, was sie sagten, doch es gelang ihm nicht. Das Heulen der Seile verschluckte jegliche Buchstaben und ließ nur einen merkwürdigen Laut an seine Ohren dringen, der irgendwie vertraut klang.

 

Er durchforstete sein Gehirn in der Hoffnung auf ein Indiz, doch alles, was er fand, war die Erinnerung aus einem Traum. Es kam ihm vor, als habe er diese Situation schon einmal erlebt und dann wusste er wieder, wieso. Er hatte als kleiner Junge von seinem Tod geträumt, hatte sich immer gewünscht auf See zu sterben wie sein Vater. War es jetzt vielleicht soweit?

 

Ein gellender Schrei zerriss die Stille an Deck. Alle Männer zuckten wie unter einem heftigen Hieb zusammen, zogen den Kopf zwischen die Schultern und folgten dem seltsamen Geräusch.

 

Als Montoyas Augen die Ursache fanden, rutsche ihm das Herz in die Hose. Die Frau, die sie an Bord hatten, stand auf der Treppe zu den Mannschaftsunterkünften. Der Wind hatte ihre Kapuze, die sie normalerweise zu tragen pflegte, nach hinten gewirbelt und gab den Blick auf ihr entsetztes Gesicht frei. Sie hatte die braunen Augen weit aufgerissen, sodass das Weiße darin zu sehen war. Ihr Mund stand offen, wie zu einem stummen Schrei, und ihre rechte Hand zeigte auf die Steuerbordseite des Schiffes, der sie in diesem Moment den Rücken zugekehrt hatten.

 

In Zeitlupe wandte Montoya sich um, ängstlich vor dem, was er wohl zu sehen bekommen würde, und wünschte sich sofort, er hätte nicht hingesehen. Bevor er jedoch die Augen zusammenkeifen konnte, begriff er, was Capitán Don Bernadino de Maturana gerufen hatte. Dann kehrte der Wind zurück.

 

Mit einer Wucht wie von einem Felsbrocken schlug der wirbelnde Sturm gegen den Rumpf des Schiffes. Zwei der Männer an Deck hatten keine Chance. Ihre Körper wurden wie Puppen durch die Luft gewirbelt und von Bord geworfen. Doch bevor jemand „Mann über Bord“ rufen konnte, schlugen die Wellen über ihnen zusammen. Montoya sackte in die Knie, krallte sich in Todesangst mit den bloßen Händen an die Bretter des Oberdecks, merkte, dass die Welle ihn jedoch davon zu tragen drohte. In wilder Panik ließ er seine Hände nach allem greifen, was in der Nähe war, und zu seinem großen Glück bekam er eines der Taue zu fassen, die vom Hauptmast über ihm herunterhingen.

 

Er spürte, wie seine Handflächen aufgerissen wurden, als die Welle an ihm riss, er sich aber mit all seiner Kraft an das rettende Seil klammerte. Das Salzwasser brannte in der Wunde, doch er schenkte dem keine Beachtung. Als er keine Luft mehr bekam, merkte er, dass er geschrien, den Mund geöffnet und Meer geschluckt hatte. Er spuckte aus und presste die Lippen so fest aufeinander, dass sie weiß wurden.

 

Immer weiter peitschte der Wind das Schiff weg vom Auge des Sturms. Die Gallo war mittlerweile wieder verschwunden und nun waren sie wieder alleine.

 

Dann spürte er, wie das Schiff sich zur Seite neigte. Der Sturm krachte mit seiner vollen Kraft gegen die Backbordseite und rollte das Schiff auf Steuerbord herum. Er hörte das Ächzen und Stöhnen, das von einem riesigen verwundeten Tier zu kommen schien, und schickte ein Stoßgebet zum Himmel, auf dass der Herr ihn erhören möge.

 

Die Zeit begann sich zu verlangsamen. Er nahm jedes Detail wahr, als er sah, wie der Capitán und der General sich ebenfalls an eines der Taue geklammert hatten. Auf der Treppe konnte er gerade noch so einen Teil des Mantels erkennen, der die Frau verbarg. Sie hatte sich ganz tief unten am Fuß der Treppe zusammen gekauert und gegen die Tür gepresst. Auch ihre Lippen schienen zu beten.

 

Dann schlugen sie auf der Sandbank auf. Aus dem Augenwinkel sah er, wie weiterer Mann über Bord ging und konnte beinahe spüren, wie er zwischen Sand und Schiff zerquetscht wurde. Als er spürte, wie das Schiff schließlich zur Ruhe kam, wurde alles um ihn herum schwarz und er versank in tiefer, samtener Dunkelheit.

© by LilórienSilme 2015

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