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Kapitel 4

~ Italian Rhapsody

 

Der Flug nach Neuseeland war eine einzige Katastrophe. Vittoria hatte das Gefühl, dass es ihr noch nie so schlecht gegangen war. Sie hatte zwar einen Fensterplatz in der ersten Klasse bekommen, aber das war auch schon alles Positive, was die ganze Sache mit sich brachte. Der Flug nach Singapur zu ihrem ersten Zwischenstopp verlange ihr schon alles ab. Nach nur zehn Minuten in der Luft war ihr bereits schlecht. Sobald die Anschnallzeichen erloschen waren, hatte sie sich auf der Toilette verbarrikadiert und war nicht mehr herausgekommen. Irgendwann hatte sich schließlich eine Stewardesse Zugang zu ihrer Privatkabine verschafft und sie gebeten, wieder Platz zu nehmen, da sie sich bereits im Landeanflug befinden würden.

 

Sie lugte vorsichtig auf ihre Uhr, darauf bedacht, sich nicht allzu viel zu bewegen. Dabei spürte sie, wie ihr Nackten schmerzte. Sie musste wohl in dieser äußerst unbequemen Stellung eingeschlafen sein vor lauter Erschöpfung.

 

Der Aufenthalt am Boden verhalf ihr zwar wieder zu etwas Stabilität, aber trotzdem musste sie jedes Mal würgen, wenn sie etwas Essbares roch. Mit einem flauen Gefühl im Magen bestieg sie zwei Stunden später erneut das Flugzeug. Dieses Mal würde es nach Sydney gehen. Der Flug war nicht ganz so lang, für ihren Geschmack allerdings noch nicht kurz genug. Hätte sie die Wahl gehabt, sie wäre lieber mit dem Schiff gefahren oder sogar geschwommen, als sich diese Tortur noch einmal anzutun. Aber das Ticket war bezahlt und man erwartete sie in Wellington bereits.

 

Bis sie allerdings da war, starb sie tausend Tode. Als sie nach knapp dreißig Stunden endgültig wieder festen Boden unter den Füßen hatte, musste sie sehr der Versuchung widerstehen, nicht einfach auf die Knie zu fallen und den Asphalt zu küssen. Sich an ihrem Koffer festhaltend wankte sie auf den Ausgang zu. Zum Glück hatte sie ihr Gepäck sehr früh bekommen. So konnte sie schnell aus dieser Hölle, die sich Flughafen schimpfte, verschwinden.

 

Vor dem Gebäude atmete sie die kühle Luft eines Frühlingstages ein. Es verwirrte sie erst ein wenig, da es zu Hause noch viel wärmer gewesen war, doch dann rief sie sich in Erinnerung, dass sie sich gerade am anderen Ende der Welt befand. Sie ließ sich ein Taxi kommen und zu der Adresse fahren, die man ihr ebenfalls in dem Brief mit dem Ticket geschickt hatte.

 

Als Kind hatte sie im Auto immer wunderbar schlafen können. Dies kam ihr jetzt zugute und sie konnte sich ein bisschen erholen von dem schlimmsten aller Tage, den sie je in ihrem jungen Leben erlebt hatte.

 

Es kam ihr vor, als hätte sie gerade erst die Augen geschlossen, da hielt der Wagen auch schon an. Sie bezahlte den Fahrer und verabschiedete sich. Dann stolperte sie, ihre beiden Koffer hinter sich herziehend, die Auffahrt zu dem kleinen Bungalow hoch, welchen Mr Adamson gemietet hatte. Sie klingelte, doch es machte keiner auf. Vermutlich war er noch am Set, denn es war erst früher Nachmittag. So beschloss sie, es sich auf der Veranda gemütlich zu machen. Sie legte ihren kleinen Koffer so auf die Bank vor dem Haus, dass sie bequem darauf liegen konnte. Und es dauerte nicht lange, da war sie auch schon eingeschlafen.

 

Nur ein paar Sekunden später rüttelte jemand unsanft an ihrer Schulter. Sie öffnete verschlafen die Augen und stellte fest, dass es bereits dunkel geworden war. Sie hatte länger geschlafen, als sie dachte. Als sie sich bewegte und dabei die Kälte bemerkte, die sich unter ihren dicken Mantel geschoben hatte, fragte sie sich, wieso sie nicht schon eher wach geworden war. Doch die Erschöpfung des Fluges musste ihren Körper ziemlich ausgelaugt haben.

 

Sie musste ein paar Mal blinzeln, bis sie denjenigen erkannte, der vor ihr stand. „Mr Adamson?“, fragte sie und gähnte herzhaft.

 

Der Mann vor ihr lächelte sie an. Er war Mitte dreißig, hatte blonde lange Haare und blaue Augen. Und sein Lächeln war so warm und offenherzig, dass sie ihn gleich ins Herz schloss. „Bitte“, sagte er und hielt ihr eine helfende Hand hin. „Nennen Sie mich Andrew. Aber bringen wir erst einmal Ihre Koffer ins Haus, Miss Marconi.“ Ohne eine Antwort abzuwarten packte er sich ihren großen Koffer und lief voran. Drinnen umfing sie gleich eine kuschelige Wärme. Erst jetzt merkte sie richtig, wie kalt ihr war.

 

Zunächst bezog sie ein kleines Gästezimmer im hinteren Teil des Hauses. Später, sagte er ihr, würde sie in ein Hotel übersiedeln. Aber für ein paar Nächte sollte es genügen. Danach nahm sie erst einmal eine ausgiebige Dusche und setzte sich anschließend an den gedeckten Abendtisch. Es gab Pizza und Bier.

 

„Und, wie war dein Flug?“, fragte er, während er den Käse von seiner Pizza herunter aß. Sie waren bereits über die förmliche Anrede hinweg gekommen, als sie festgestellt hatten, dass sie denselben Filmgeschmack besaßen. Augenblicklich wurde Vittoria grün um die Nase und schob die restlichen Stücke von sich. „Frag besser nicht“, sagte sie. „Hast du einen Schnaps?“ Er grinste sie an, stand auf und kam kurz darauf mit einer Flasche Whiskey zurück. Nachdem sie zwei Kurze getrunken hatte, erzählte sie ihm, was sie erlebt hatte und dass sie sich vermutlich hier auf der Insel ein zweites zu Hause einrichten müsse, weil sie nie wieder zurückkommen würde.

 

„Und wie willst du dann nach Auckland kommen? Laufen? Das sind gute sechshundert Kilometer bis dorthin.“ Genüsslich schluckte er seinen letzten Bissen hinunter und goss sich ebenfalls etwas von dem Alkohol ein.

 

„Da miete ich mir lieber ein Auto und fahr rüber“, sagte sie. Allein der Gedanke an einen Flug ließ ihren Magen wieder grummeln. Wie sollte sie nur jemals wieder aus Neuseeland verschwinden?

 

Nach dem Essen rief sie zu Hause an und erzählte allen, dass es ihr gut ging. Meg war besonders aufgeregt. Sie hatte ihre Freundin darum gebeten, alles fotografisch festzuhalten und ihr auch bloß jede Einzelheit zu erzählen. Doch als Vittoria ihr sagte, wie sie den Flug verbracht hatte, wollte Meg es nicht mehr so genau wissen.

 

Am nächsten Tag erwachte sie erst um die Mittagszeit. Der Jetlag lag ihr noch ziemlich in den Knochen, doch da Andrew schon in die Studios zum Arbeiten gefahren war, hatte sie das Haus für sich und konnte sich in Ruhe Kaffee machen. Es erstaunte sie ein bisschen, dass er ihr so ein großes Vertrauen entgegen brachte. Doch irgendwie schienen sie auf derselben Wellenlänge zu sein. Der Abend gestern war sogar recht lustig gewesen, dafür, dass sie sich erst ein paar Stunden gekannt hatten. Das Arbeiten mit ihm würde hoffentlich genauso entspannt sein.

 

Abends stand sie mit Andrew vor seinem Filmeregal. Sie wollten sich einen aussuchen, um ihn sich anzugucken, als er sagte: „Das mit dem Mietwagen ist eigentlich keine so schlechte Idee. Den wirst du ohnehin brauchen, wenn wir dort sind.“ Sie sah in fragend an. Es fiel ihr auf, dass sie noch gar nicht über das Geschäftliche geredet hatten. „Wie meinst du das?“, fragte sie. Sie setzten sich jeweils mit einem Bier auf die Couch.

 

„Also“, begann er und legte Marlon Brando zur Seite. „Wie du sicher weißt, ist die Arbeit des Autors mit dem Abschluss des Drehbuches beendet. Damit bin ich auch bisher ganz gut zu recht gekommen. Aber dein Drehbuch“, er zeigte mit dem Finger auf sie, „hat mich so fasziniert, dass ich möchte, dass du die Drehorte aussuchst.“

 

Ihr fiel die Kinnlade herunter. Dieser Job nahm völlig andere Ausmaße an, als sie gedacht hatte. Sie hatte sich vorstellen können, während der Dreharbeiten noch Tipps zu den einzelnen Szenen geben zu können oder vielleicht auch noch Zeilen zu streichen oder hinzuzufügen. Aber damit hatte sie bei Weitem nicht gerechnet.

 

Bevor sie allerdings etwas sagen konnte, fuhr Andrew fort. „Ich weiß, dass das jetzt eine ziemliche Überraschung für dich sein muss. Aber ich konnte der Versuchung nicht widerstehen. Du scheinst eine so klare Vorstellung von allem zu haben, dass es für mich völlig logisch erschien, dir auch die Auswahl für die Außenaufnahmen zu überlassen. Ich habe dir bereits einen Zeitplan erstellt und ein paar Vorschläge gemacht.“ Er überreichte ihr einen Umschlag mit einer Tabelle für die Drehtage und einem ganzen Haufen Polaroidbilder. „Triff deine Entscheidung in Ruhe und dann sagst du mir Bescheid. Ich muss sowieso übermorgen nach England zurückfliegen, weil wir bald mit den Castings beginnen. In der Zwischenzeit habe ich dir ein Hotel in Auckland gebucht. Die Adresse findest du ebenfalls im Umschlag.“

 

Sie lugte in das braune Couvert hinein. Dann sah sie ihn wieder an. Er konnte sich nicht helfen, aber wie sie ihn gerade mit großen Augen anstarrte, erinnerte sie ihn unheimlich an einen Lemuren. Wenn er in die Hände geklatscht hätte, wäre sie wahrscheinlich aufgeschreckt davongelaufen.

 

Sie schluckte ein paar Mal heftig, versuchte ihren trockenen Mund zu befeuchten. Wenn sie es nicht besser wusste, hätte sie gedacht, sie wäre auf dem Flug hierher gestorben und nun im Himmel. Aber dann wäre sie nicht bei einem für sie zu alten, nicht ganz ihrem Typ entsprechenden Mann, sondern bei einem Unterwäschemodell im Haus. Und sie würde sich sicherlich nicht mit ihm unterhalten oder Filme angucken und Bier trinken. Da würden ihr ganz andere Sachen einfallen.

 

Also musste das hier echt sein, schloss sie aus ihren Überlegungen. Doch wieso zum Teufel sollte er das alles wollen? Sicher, sie waren auf derselben Wellenlänge, verstanden sich prima, hatten den gleichen Filmgeschmack und tranken gerne ein Bier. Aber das hatte er alles vorher nicht gewusst. War ihr Drehbuch so gut?

 

Andrew grinste, als er das Minenspiel in ihrem Gesicht beobachtete. Sie wäre ganz sicher keine gute Schauspielerin geworden. Man konnte ihr von der Stirn ablesen, was sie dachte. Daher brauchte sie ihre Frage auch gar nicht offen auszusprechen. „Hör mal“, sagte er. Er stellte die Bierflasche auf dem Tisch ab und beugte sich zu ihr vor. „Dein Drehbuch ist zwar nicht eins zu eins an der Buchvorlage und vielleicht auch keine Oscar-Nominierung wert, aber alleine deine Darstellung der Figuren gefällt mir so unglaublich gut. Sie passen einfach zusammen, wie die Zahnräder in einer Uhr. Die Dialoge sind schlagfertig, komisch und tragisch. Und ich glaube einfach, dass alles noch besser zusammen passt, wenn du dir die Drehorte vorher einmal anguckst. Immerhin ist der Film in deinem Kopf schon komplett.“

 

„Du willst gar nicht wissen, was in meinem Kopf vorgeht“, murmelte sie. Dann begriff sie, was das alles für Konsequenzen für sie hatte, und sie schlug die Hände vor den Mund. Dabei verpasste sie sich selbst eine mit dem großen Umschlag. Umständlich setzte sie sich bequemer hin, starrte dann ins Leere. „Du meinst das ernst, oder?“ Ungläubig sah sie ihn an, hoffte vielleicht auf ein Lächeln oder ein anderes Zeichen dafür, dass er nur rumgesponnen hatte. Doch er blickte völlig ernsthaft zurück.

 

Der Umschlag flog auf den Couchtisch. Sie stand auf, ging hinüber zum Wohnzimmerschrank und öffnete die Bar. Sie nahm die Flasche Whiskey heraus, schraubte sie auf und nahm fünf kräftige Schlücke daraus. Als sie das brennende Zeug hinuntergewürgt hatte, sah sie ihn mit verzerrtem Gesicht an. „Scheiße!“, rief sie. Sie war sich bewusst, dass es vermutlich lange dauern würde, bis sie endlich wieder zu Hause war. Aber, verdammt, so eine Chance kam bestimmt nie wieder. Vielleicht konnte sie dadurch sogar mehr erreichen, als wenn sie eine einfache Autorin blieb.

 

Mit einem Knall stellte sie die Flasche ab. „Scheiße, verdammt, auch auf die Gefahr hin, dass dieser ganze Mist nach hinten losgeht, ich sage Ja!“ Feierlich, und in ihren Augen leicht überzogen, stand er auf und reichte ihr die rechte Hand. „Schlag ein“, sagte er und sie tat es.

 

Damit besiegelte sie einen vierzehnmonatigen Vertrag. Nur zwei Tage später saß sie mit all ihrem Gepäck in einem gemieteten Ford und war auf dem Weg nach Auckland. Andrew saß unterdessen im Flugzeug nach England, wo er ein paar neue Schauspieler casten wollte. Die Hauptrollen waren ja bereits vergeben, doch eine wichtige Rolle fehlte noch.

 

Auch Vittoria hatte in den folgenden Wochen so einiges zu tun. Sie nahm sich erneut ihr Drehbuch vor und ging es Seite für Seite durch. Viele Aufnahmen würden in den Studios vor Ort stattfinden. Doch es gab auch ein paar Szenen, die man unter freiem Himmel drehen musste. Folglich verbrachte sie die meiste Zeit im Auto und suchte Drehorte auf. Dabei verpasste sie allerdings nicht die Chance, ein paar Kulissen aus „Der Herr der Ringe“ aufzusuchen und Peter Jackson zu treffen. Das hatte sie Andrew zu verdanken, der, ebenfalls aus Neuseeland stammend, seinen Landesgenossen natürlich persönlich kannte und sich für eine Begegnung eingesetzt hatte.

 

Zwei Monate später war Andrew schließlich wieder da und sie hatte einiges zu berichten. Sie trafen sich bei ihm zu Hause. Vittoria hatte ihren Laptop mitgebracht, auf dem sie alle Bilder gespeichert hatte, die sie geschossen hatte, und sich jeweils Notizen dazu gemacht. Nun trug sie es dem Regisseur vor und er schien begeistert zu sein.

 

„Für die Strandaufnahme habe ich mir diesen Abschnitt ausgesucht“, sagte sie und zeigte ihm die Stelle auf der Landkarte. Daneben legte sie den Auszug aus dem Drehbuch und ließ die Bilder auf ihrem Laptop als Diashow laufen. Er sah sich alles genau an und nickte schließlich. „Ich wusste es doch!“, sagte er und klatschte in die Hände. „Es war die ideale Lösung, dich die Drehorte aussuchen zu lassen. Einfach großartig!“

 

Er stand auf und griff zum Telefon. Er wählte eine Nummer und sprach sehr schnell mit jemandem. Währendessen sah sie sich noch mal die Bilder vom Set für die letzte Szene im Schloss an. Es grauste ihr jetzt schon davor, für die letzten Aufnahmen zurück nach Europa zu fliegen. Doch sie tröstete sich mit dem Gedanken, dass Prag eine schöne Stadt sein sollte.

 

Als Andrew zurückkam, sagte er: „Gut, wir haben noch zehn Tage Zeit, bis die Dreharbeiten starten. In zwei Tagen treffen die ersten Darsteller ein und ich möchte, dass du dir sie genau ansiehst, einverstanden?“

 

Sie wiegte den Kopf hin und her, tat so, als müsse sie scharf nachdenken. Schließlich sah sie ihn mit einem tadelnden Blick an. „Du lässt mir doch sowieso keine andere Wahl.“ Sie lächelte ihn an. „Übrigens vermisst meine Familie mich schon schrecklich.“

 

Er drehte sich von ihr weg und besah sich noch mal ausgiebig die Stelle auf der Landkarte für die Strandaufnahme. Es würde nicht leicht sein, die Ausrüstung da hinunter zu bekommen. Die Küste war weitestgehend von Wäldern umgeben. Perfekt für den Dreh, aber ungünstig für das ganze Gepäck. „Was geht es mich an, was deine Familie denkt? Du bekommst deine Schecks von mir und ich behalte dich so lange hier, wie es mir passt.“ Sie warf ihm ein Kissen an den Kopf. „Denk bloß nicht, dass ich mir alles gefallen lasse!“, rief sie. „Jim musste das auch erst lernen.“

 

Langsam drehte er sich zu ihr um. „Dafür kriegst du Hausarrest“, grummelte er. „Kein Schlafen im Hotel, kein Ausgehen. Du schläfst die nächsten zwei Tage hier im Gästezimmer.“ Sie lachte. Das Gästezimmer, wie er es nannte, war doppelt so groß wie ihr Hotelzimmer, besaß einen kleinen Balkon, einen riesen Fernseher und ein eigenes Bad. Wäre sie als Kind so bestraft worden, hätte sie ständig etwas angestellt. Seine beiden Knirpse mussten ihn sehr lieben. Sie stellte ihn sich als guten Vater vor.

 

Der Tag, an dem der erste Schauspieler eintreffen sollte, begann für Vittoria wie üblich mit einer Joggingrunde. Sie hatte es sich hier zur Gewohnheit gemacht, weil sie viel im Auto oder vor dem Schreibtisch gesessen hatte und sich nicht wirklich viel Bewegung verschaffen konnte. So würde sie wenigstens ein bisschen fit bleiben, auch wenn sie Joggen eigentlich total langweilig fand und die Passanten sich immer erschreckten, wenn sie lauthals eines ihrer Lieder, die sie über Kopfhörer hörte, mitsang. Sie hätte schwören können, dass die Oma von gestern beinahe ihren Dackel auf sie losgelassen hätte, wäre sie nicht zu schnell für den übergewichtigen Hund gewesen.

 

Mit einem Lied von Queen in den Ohren beendete sie ihren morgendlichen Lauf. Andrew war schon zum Flughafen gefahren, weil er den Hauptdarsteller persönlich abholen wollte. Ein junger Brite und ein vielversprechendes Talent, wie er sagte. Als Prinz Kaspian genau der Richtige. Sie konnte nur hoffen, dass er nicht allzu exzentrisch war. Am Theater hatte sie da schon so manche Vorstellung erlebt. Und das nicht nur auf der Bühne.

 

Oben warf sie ihre durchgeschwitzten Sachen aufs Bett und die Sportschuhe in eine Ecke. Dann nahm sie sich ihren Laptop mit ins Bad und spielte ihre Playlist ab, während sie unter den warmen Wasserstrahl trat. Genüsslich schäumte sie sich die Haare ein, während sie weiterhin zu Queen mitsang.

 

Unten ging die Haustüre auf. Andrew rief etwas, bekam allerdings keine Antwort. „Vermutlich ist sie noch unterwegs“, sagte er zu seinem Begleiter. Hinter ihm betrat ein junger Mann von Mitte zwanzig das Haus. Er hatte kurze dunkle Haare, braune Augen und ein recht hübsches Gesicht. „Ich stell sie dir nachher vor, Ben.“

 

Ben Barnes hatte es tatsächlich geschafft. Beim Casting hatte er den Regisseur von sich überzeugt und der hatte ihn für die Rolle des Prinz Kaspian eingestellt. Man würde ihm vermutlich längere Haare verpassen müssen, aber ansonsten war er perfekt für die Rolle. Trotzdem war er nervös. Die anderen vier Hauptdarsteller hatten schon einen Film zusammen gedreht und er würde nun in das bestehende Team neu hineingeworfen werden. Hoffentlich würde er mit niemandem besonders anecken. Schließlich hoffte er, dass ihm durch diesen Film sein großer Durchbruch gelang.

 

„Darf ich vielleicht kurz das Bad benutzen?“, fragte er. Seit seinem letzten Zwischenstopp in Sydney hatte er drei Tassen Kaffee getrunken, weil ihm der Jetlag jetzt schon zu schaffen machte. Leider klopften diese nun an. „Klar“, sagte Andrew. „Das Bad hier unten wird gerade neu gefliest. Aber du kannst oben gehen. Die Treppe hoch, rechts und dann…“ Ben unterbrach ihn. „Ja, ich weiß schon, das Zimmer mit der Toilette.“ Er grinste und Andrew dachte, dass er sich mit Vittoria sicher verstehen würde. Sie hatten den gleichen Humor.

 

Während Ben die Treppe hoch ging, hörte er plötzlich Musik. Neugierig folgte er Freddie und ignorierte dabei völlig die Richtung, die Andrew ihm gewiesen hatte. Er liebte diese alten Lieder, hörte selbst am liebsten die Beatles, als echter englischer Junge. Doch in die melodischen Töne mischte sich, als er näher kam, etwas sehr Disharmonisches, was ihn sich beinahe die Ohren zuhalten ließ. Derjenige konnte wirklich nicht gut singen. Er öffnete die Tür, hinter der sich unweigerlich dieses unmusikalische Talent befinden musste, und blieb sofort stehen.

 

Vittoria hatte die Türe zum Bad nicht abgeschlossen, weil sie dachte, dass sie noch alleine wäre. Deswegen hatte sie sich auch dieses Mal nicht geschämt, den Duschkopf als Mikro zu benutzen. Es würde sie ja ohnehin niemand hören. Gerade als sie mitten in einer besonders leidenschaftlichen Stelle war, spürte sie einen kühlen Luftzug, der den heißen Wassernebel um sie herum aufwirbelte. Noch mit Schaum in den Haaren und einem Badeschwamm in der Hand drehte sie sich zur Türe und wünschte noch im selben Augenblick, sie hätte es nicht getan.

 

Mitten in der Tür starrte er die nackte Frau unter der Dusche an. Durch die laute Musik hatte er das Rauschen des Wassers gar nicht gehört. Sonst wäre er nie auf die Idee gekommen, diese Türe zu öffnen. Doch er hatte es getan. Und irgendwie bereute er es nicht. Die junge Frau mit dem eingeschäumten dunklen Haar hatte eine gute Figur. Im Vergleich zu ihrem Oberkörper hatte sie recht lange Beine, obwohl sie nicht sehr groß war, vielleicht einen Kopf kleiner als er. Ihre Hüften waren gut gerundet und darüber hatte sie eine schmale Taille. Ihre Brüste sahen aus wie faustgroße reife Äpfel und ihr Po war so pfirsichähnlich, dass mal glatt reinbeißen konnte. Bevor er jedoch irgendwas sagen oder tun konnte, flog ihm, begleitet von einem letzten überaus schrillen Klang, eine Shampooflasche an die Stirn. Rückwärts torkelte er hinaus.

 

Wütend duschte Vittoria sich zu Ende, wickelte sich in ein Handtuch ein und stampfte nach unten. Dort wartete Andrew bereits in der Küche auf sie, ein schelmisches Lächeln auf dem Gesicht. Hinter ihm betrat der Fremde den Raum. Außer sich lief sie auf ihn zu und zeigte mit dem Finger auf ihn. „Perversling! Ekelhafter Spanner!“, rief sie, wobei sich ihre Stimme fast überschlug. „Guckst du deiner Mutter auch immer beim Duschen zu?“

 

Andrew stand auf, stellte sich zwischen die beiden. „Ben, darf ich vorstellen“, rief er dazwischen, in der Hoffnung, den Streit zu beenden, bevor er richtig angefangen hatte. „Das ist Vittoria Marconi, unsere Autorin. Vic, das ist Ben Barnes, unser Kaspian.“

 

Allerdings fruchtete sein Schlichtungsversuch überhaupt nicht. Ben guckte an ihm vorbei und giftete zurück. „Jetzt mach mal halblang, Medusa. Vielleicht hättest du lieber die Tür abschließen sollen, wenn keiner reinkommen soll.“

 

„Ich dachte ja, es wäre niemand zu Hause!“, rief sie zurück, wobei sie Andrew ein wenig zur Seite schob. Der wusste nicht so richtig, wie er mit der Situation umgehen sollte, und starrte beide nur verdutzt an. „Sonst hätte ich auch sicher nicht so laut gesungen.“

 

Ben grinste sie an und verschränkte die Arme vor der Brust. „Das wäre vielleicht besser gewesen. Das klang nämlich eher nach einer Sirene, als nach einem Evergreen. Und in den Tod gelockt hast du mich auch fast.“

 

Bei diesen Worten lief sie rot an. Man konnte beinahe sehen, wie das Wasser in ihren Haaren verdampfte, während sie sich eine neue Gemeinheit einfallen ließ. Doch bevor noch Schlimmeres passieren konnte, ging Andrew dazwischen. Er packte Vittoria bei den Schultern und schleifte sie aus der Küche hoch in ihr Zimmer. Es versprach ein aufregender Dreh zu werden, so viel stand nach diesem ersten Treffen schon mal fest.

© by LilórienSilme 2015

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