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Kapitel 4

 

~ Happy

 

No offense to you, don't waste your time

Because I'm happy


Leider wurde der Tag für Joe nicht besser, je weiter die Zeiger der Uhr rückten. Als sie zurück in den Workshop kam, herrschte dort bereits helle Aufregung. Alle Tische waren voll gestellt mit Kisten, in denen Accessoires gelagert waren. Alle Puppen, auf denen die Kostüme bereits soweit fertiggestellt waren, dass man sie nur noch zusammennähen musste, hatte man aus dem Lager geholt. Die Nähmaschinen liefen heiß.

Über allem hing ein Duft, der Aufregung versprach, der klar machte, dass hier heute etwas Großes passieren würde. Jeder hatte einen roten Kopf, manche vermutlich, weil sie schon den ganzen Morgen hin und her rannten, von einer Ecke des Gebäudes ins andere, um Sachen zu holen. Andere, weil sie schon nervös waren, auf die Schauspieler zu treffen und festzustellen, ob die Kostüme wirklich zu den Leuten passten. Doch Joe wäre am liebsten sofort wieder umgedreht und davon gelaufen.

Als sie den großen Raum betrat, indem sich alle Garderobiere gleichzeitig aufhalten konnten, spürte sie, wie diese Aufregung, die alle versprühten, auch von ihr Besitz ergriff. Ihre Hände fingen an zu schwitzen und ihre Tasche wäre ihr beinahe aus den Fingern gerutscht. Wenn sie nicht so furchtbar nervös gewesen wäre, hätte sie das vielleicht sogar genießen können.

Sie schlängelte sich zwischen ihren Kolleginnen und Kollegen hindurch, von denen ihr manche, und besonders Beverley und Emliy, die alle Hände voll zu tun hatten, einen freundlichen Blick zuwarfen, bis sie endlich ihren Arbeitsplatz erreicht hatte. Der befand sich ganz am anderen Ende des riesigen Ateliers und war durch eine Türe vom Rest getrennt. Richard hatte ihr dieses Privileg zugestanden, weil er gewusst hatte, dass sie ab und zu auch mal ihre Ruhe brauchen würde, um ihre Entwürfe zu testen.

Eigentlich bestand ihr Beruf aus zwei Teilen: der eine war das Entwerfen der Kostüme, was normalerweise allein den hohen Tieren von Weta und dem Art Department zufiel. Doch weil sie neben ihrem Studium in einer Schneiderei gearbeitet hatte, um sich etwas dazu zu verdienen, hatte man sie ebenfalls als Näherin eingestellt, sodass sie ihre Entwürfe direkt vom Papier aus in Stoff verwandeln konnte. Das ermöglichte es ihr, gewisse Sachen zuerst auszuprobieren, bevor sie grünes Licht für die Produktion geben konnte.

So hatte sie zum Beispiel für eine groß angelegte Szene in Matamata, auf dem Set von Beutelsend, erst einmal getestet, ob sie Stoffe, die sie für die Kleider der Hobbitfrauen verwenden wollte, auch tatsächlich noch so robust waren, wenn sie erst einmal gewaschen, vernäht, gebügelt und noch mal gewaschen waren. Dabei hatte sie gleich die Hälfte der Ballen wieder verkaufen können, weil sie einfach nicht geeignet gewesen waren.

Für das Kleid von Galadriel hatte sie bereits ähnliche Tests gemacht. Leider hatte sie noch nicht den perfekten Stoff gefunden, der einerseits so sanft herunterfiel wie reine Seide, andererseits aber nicht direkt kaputt ging, wenn er Bodenkontakt hatte.

Heute allerdings sollte sie sich um Thorins Kostüm kümmern. Den ozeanblauen, etwa knielangen Überrock hatte sie soweit fertig. Sie musste nur noch wissen, wie breit das Rückenteil zu sein hatte, dann konnte sie es in die Werkstatt geben, damit die Jungs von der Schmiede die Ärmel mit Eisen beschlagen konnten. Einen Stoff dafür zu finden war erstaunlich einfach gewesen, stellte sie im Nachhinein mit einem leichten Lächeln fest, als ihre Finger noch einmal darüber strichen.

Sie warf ihre Jacke und ihre Tasche im Hereinkommen auf einen bereitstehenden Stuhl und hopste fast die drei Stufen zu ihrem Arbeitstisch herunter. Scheinbar hatte sie sich doch ein bisschen anstecken lassen. Dabei bedachte sie den Kleiderstände mit Thorins Garderobe mit einem äußerst prüfenden Blick, ob sie tatsächlich an alles gedacht hatte.

Natürlich hatte sie das Buch und schließlich auch das Drehbuch gelesen. Immerhin wollte sie sich ihre eigene Vorstellung von dem zukünftigen Zwergenkönig machen. Und sie musste wissen, wohin seine Reise gehen würde, um seine Kleidung darauf abstimmen zu können. Sie hatte sie eine Reihe von verschiedenen Outfits kreiert, die der Schauspieler während den nächsten achtzehn Monaten vor der Kamera zu tragen hatte. Zusätzlich dazu hatte sie alle Kostüme auch noch mal in einer kleineren Variante herstellen müssen, die schließlich das Scale-Double tragen würde. Und das alles hing nun geduldig auf seinen Kleiderbügeln und wartete darauf, endlich fertiggestellt zu werden.

Ein wenig beschwingter als vorher prüfte sie noch einmal, ob wirklich alles da war, was sie benötigen würde, um vernünftig Maß nehmen zu können, bis es schließlich an der Türe klopfte. Sie stand zwar einen Spalt offen, doch schließlich platzte man nicht so einfach in einen fremden Raum hinein. Vorsichtig schob der Gast die Türe noch etwas weiter auf und steckte den Kopf hinein. „Hallo?“, rief er und sah sich neugierig um.

Joe tauchte aus ihrer Arbeit auf. Gerade hatte sie an den langen Mantel von Thorin noch einen Saum aus Fell genäht. Das würde hervorragend mit den mit Fell besetzten Stiefeln harmonieren, die sie beim Schuhmacher gesehen hatte. Doch der Mann, der sich ihr nun näherte, holte sie schnell wieder aus ihrer working zone heraus. Er hatte ein ovales Gesicht, schmale Lippen, eine gerade Adlernase und stechend blaue Augen. Seinen Mund umspielte ein höfliches Lächeln. Die dunklen Haare trug er kurz und zurück gekämmt. Auf seinen Wangen und seinem Kinn schimmerte der Ansatz eines Bartes.

„Hey“, sagte er noch einmal. Dabei hielt er ihr eine Hand zur Begrüßung hin. „Ich bin Richard. Ich bin hier wegen der Kostüme für Thorin.“

Einen Moment lang konnte Joe nur auf seine dargebotene Hand starren. Dann wanderten ihre Augen nach oben zu seinem Gesicht und sie starrte da eine ganze Weile hin. Irgendwie erinnerte er sie an jemanden, aber sie konnte nicht sagen, wer es war. Aber er wirkte sehr freundlich und höflich auf sie, beinahe wie ein Engländer.

Als sie nach einer gefühlten Ewigkeit immer noch nichts gesagt hatte, zog er seine Hand wieder zurück, weil er sich ein bisschen blöd vorkam, als sie nicht reagierte. Wieso sah sie ihn nur an und sagte nichts? Langsam wurde ihm unbehaglich zumute. Verlegen kratzte er sich hinter dem Ohr. „Und du bist die Schneiderin?“

Endlich schien der Bann gebrochen zu sein. Und sofort, als sie merkte, dass sie ihn schon die ganze Zeit über ungeniert gemustert hatte, wurde sie rot wie eine Tomate. „Ich, äh, ich bin ähm - die...“ Ihre Stimme überschlug sich vor Aufregung. „Joe!“, stieß sie schließlich härter hervor, als sie es beabsichtig hatte. Es war, als schleuderte sie ihm dieses eine kurze Wort direkt ins Gesicht, und er zuckte sogar leicht zusammen, als hätte sie ihn dabei aus Versehen bespuckt.

Augenblicklich schlug sie sich die Hände vor den Mund. „Oh Gott! Das tut mir so leid! Entschuldigung, ich...“

Doch er unterbrach sie sanft, indem er seine Hände abwehrend vor sich hob. „Schon gut, es ist nichts passiert.“ Er reichte ihr ein zweites Mal seine Hand und dieses Mal ergriff sie sie dankbar, dass er diese peinliche Situation so leicht überwunden hatte. „Fangen wir noch mal von vorne an.“ Er zwinkerte ihr zu. „Ich bin Richard, auch genannt Thorin Eichenschild.“

Verlegen strich sie sich mit der freien Hand eine Strähne ihres blonden Haares hinter ihr Ohr. „Und ich bin Joe.“ Danach ließ sie seine Hand wieder los. Sie ging einmal um den Tisch herum zu der Puppe, auf der bereits ein Großteil des ersten Kostüms bereit stand. Dahin reihte sich der Rest auf der Kleiderstande aneinander. „Und das ist Thorins Kleidung.“

Richard war fasziniert, als er sah, was man bereits für ihn gemacht hatte. Draußen hatte er schon einen Teil der anderen Kostüme gesehen und festgestellt, dass sie ausgezeichnet zu den Zwergen, die sie später tragen würden, passten. Doch das hier war so sehr Thorin, dass sogar die Puppe schon hätte gefilmt werden können.

Langsam ging nun auch er um den Tisch herum. Dabei versuchte er jedes Detail mit den Augen zu erfassen, doch es gelang ihm nicht einmal ansatzweise. Vorsichtig berührte er den Stoff, der zuoberst lag, und befühlte ihn. „Das ist unglaublich! Darf ich es anziehen?“

„Ähm, nein“, sagte sie leise und er wirkte ein wenig verdutzt. Doch als sie ohne ein weiteres Wort ihr Maßband zückte, verstand er und grinste.

Eine halbe Stunde später hatte Joe zwei komplette Seiten in ihrem Notizbuch vollgemalt mit den Daten, die sie für das Kostüm von Thorin benötigte. Richard hatte sich in der Zwischenzeit, in der sie sich diverse Zahlen notiert hatte, seinen Fatsuit besorgt, den er unter dem Kostüm tragen musste. Es war nicht leicht gewesen, sich dort hineinzuzwängen, doch schließlich hatte er es geschafft. Und nun kam er sich ziemlich dämlich dabei vor. Unsicher zog und zerrte er an dem Ding, das seinen Körper fast vollständig umgab, und hoffte, dass ihn niemand so sehen würde.

Dann aber musste er beinahe über sich selbst lachen. In ein paar Jahren würden ihn vermutlich tausende Menschen in Kino mit diesem Ding sehen. Da machte es absolut keinen Sinn, sich jetzt dafür zu schämen. Er hatte diese Rolle angenommen und musste da nun durch. Ob er wollte, oder nicht. Und wenn er es sich recht überlegte, wollte er. Sogar ziemlich gerne!

Joe hatte sich indes den Hocker hinter seinem Rücken platziert und kletterte nun darauf, während sie ihm Schicht für Schicht seines Kostüms anlegte. Zwischendurch setzte sie immer wieder Nadeln, wo die einzelnen Stoffstücke noch nicht vernäht worden waren, und machte sich weitere Notizen. Sie war erneut so sehr in ihre Arbeit vertieft, dass sie beinahe eine der Nadeln in seinem Bein versenkt hätte, als es plötzlich an der Tür klopfte.

Es war ein angenehmes Arbeiten mit Richard, denn er erwartete nicht, dass sie viel sagte. Meistens hatte er bisher gesprochen, hatte ihr erzählt, wie er zu der Rolle gekommen war, was er von den Dreharbeiten erwartete und was ihn auch nervös machte, weil so viel Verantwortung auf ihm lastete. Als Anführer einer Gruppe von Zwergen musste er ganz schön viele Dinge beachten, stellte sie erstaunt fest. Und sie stellte fest, dass die Schauspielerei garantiert nicht der richtige Beruf für sie gewesen wäre.

Sie mochte die Arbeit am Filmset ohne Frage wahnsinnig gern. Sie liebte die Atmosphäre, die hier herrschte, fand es toll, wie die Leute miteinander umgingen, dass jeder jedem half oder man auch einfach nur in Ruhe gelassen werden konnte, wenn man es gerade wollte. Und auch das Arbeiten für Richard Taylor war sehr schön. Er wusste genau, was sie leisten und was er von ihr verlangen konnte. Meistens fand er die richtigen Worte, um ihr zu sagen, dass diese Kleinigkeit vielleicht noch nicht perfekt war, eine andere dafür umso mehr, und vor allem drängte er sie nicht dazu, ihre Einfälle, Ideen und Entwürfe vor dem gesamten Produktionsteam, und in erster Linie vor Peter, vorzutragen. Das hatte er am ersten Tag versucht, doch danach nie wieder. Es hatte damit geendet, dass sie heulend den Raum verlassen und er sich in Grund um Boden dafür geschämt hatte, eine Frau zum Weinen gebracht zu haben.

Später hatte er sie gefragt, was denn los gewesen wäre, doch noch nicht einmal das hatte sie ihm erklären können, weil wieder einmal keine Worte ihren Mund verlassen wollten. Wie noch ein paar Minuten zuvor bei der Präsentation. Schließlich hatte er aufgegeben zu fragen und die Tatsache akzeptiert, dass eine seiner besten Mitarbeiterinnen einfach besonders introvertiert war und dementsprechend behandelt werden musste.

Wie gerne hätte sie ihm gesagt, dass dieses Verhalten von ihr nichts mit ihm selbst zu tun hatte, sondern allein tief in ihr drin verwurzelt war. Doch das konnte sie nicht. Sie wusste ganz genau, dass diese Persönlichkeitsstörung angeboren war, denn natürlich hatte sie sich in ihrer Teenagerzeit damit beschäftigt, als sie zu begreifen begann, was da mit ihr passierte. Anzeichen und Auswirkungen hatte es schon früher gegeben, auch schon massiv. Doch ihre Mutter war immer der Fels in der Brandung gewesen, der ihr Halt und Kraft gegeben hatte.

Als ihre Mutter gestorben war, war alles anders geworden. Joe hatte sich noch mehr in sich selbst zurückgezogen und selbst die Therapien, die ihre Pflegefamilie angeordnet hatten, hatten ihr nicht wirklich helfen können. Für eine kurze Zeit hatte sie diese Ängstlichkeit anderen, und besonders Fremden, gegenüber ablegen können, doch schon bei dem kleinsten Auslöser war sie wieder in alte Muster zurück gefallen.

Im Studium hatte sie schließlich festgestellt, dass es gewisse „Zonen“ bei ihr gab, in denen sie nicht so schüchtern oder ängstlich war. Wenn sie arbeitete, konnte sie zum Beispiel, wenn sie ganz in ihr Werk eintauchte, stundenlang darüber philosophieren, wie schön sich der Stoff anfühlte und welche Wirkung er auf das Gesamtbild haben würde. Und auch bei bestimmten Menschen konnte sie für eine bestimmte Zeit diesen ungeliebten Teil ihrer Selbst ablegen. Doch diese Menschen waren entweder tot oder nicht mehr in Neuseeland. Also war ihr nur die Arbeit geblieben.

Manchmal wünschte sie sich, sie würde so jemanden treffen, bei dem es von Anfang an einfach nur passte, der sie so nahm, wie sie war, bei dem sie keine Angst mehr haben musste, so wie es bei ihrer Mutter der Fall gewesen war. Doch bisher hatte sie so jemanden noch nicht gefunden. Und Richard würde es sicherlich auch nicht werden.

Sie spürte vom ersten Moment an, dass er ihr sympathisch war und dass auch er sie sympathisch fand. Doch er wirkte auf sie viel zu sehr wie ein großer Anführer. Und wenn sie sich ihn mit diesem dichten Bart und dem vielen Haar vorstellte, schüchterte sie das nur noch mehr ein.

Und doch mochte sie seine Stimme, hörte ihm gerne zu, wenn er erzählte, denn seine Stimme war so weich und angenehm, dass es in ihr unweigerlich eine Assoziation mit einem großen Ohrensessel, einem Kamin und einem guten Buch hervorrief.

Doch der Moment war vorbei, sobald der große Mann mit der Glatze den Kopf in ihr Atelier steckte. „Ach, hier bist du!“, rief er begeistert aus und trat einfach unaufgefordert ein.

Joe erkannte ihn sofort wieder. Es war der Mann, dem sie an diesem Tag bereits zweimal begegnet war. Und nun war offenbar der Moment gekommen, an dem sie ihm vorgestellt wurde. Vorsichtig drehte Richard sich um, damit das Kostüm an ihm nicht verrutschen konnte. Dabei standen seine Arme zu beiden Seiten seines Körpers ab und er sah aus wie eine dicken Marionette an ihren Fäden, wobei sich der Marionettenspieler offenbar noch nicht entschieden hatte, was er mit ihm nun anfangen wollte.

Der Glatzköpfige kam mit zwei großen Schritten auf sie zu und hatte die Stufen überwunden, bevor Joe überhaupt Luft holen konnte. Er musste beinahe zwei Meter groß sein. Welchen von den Zwergen er wohl spielen würde?

Dann stutzte er kurz, als er einen Blich auf Joe warf, und Erkenntnis blitzte in seinen blauen Augen auf. Auch seine Wangen und sein Kinn zierte ein Bartschatten, dessen Haare ungefähr so lang waren, wie die restlichen auf seinem Kopf. Er hatte eine markante Nase, die den Maskenbildnern wohl kaum Arbeit für eine Prothese gab, und die Spitzen seiner Ohren bogen sich leicht von seinem Schädel weg. Das gab ihm das permanente Aussehen eines hinterlistigen Kobolds. Seine Größe jedoch sorgte dafür, dass dieser erste Eindruck verflog, sobald man ihn vollständig gemustert hatte.

„Man, das sieht ja richtig klasse aus!“, rief er aus. Dabei musterte er Richard, der immer noch unsicher herum stand. Joe hatte ihn auf ein kleines Podest gestellt, was zur Folge hatte, dass sie sich heftig strecken musste, um an seine Schultern zu kommen. Doch sie wollte nicht riskieren, dass etwas verrutschte, sollte es mit dem Boden in Berührung kommen. „Und Sie sind die junge Dame, die das alles gemacht hat?“

Es war eine ehrliche Frage. Doch er wirkte erstaunt. Nicht etwa, weil er das nicht von ihr erwartet hätte, sondern weil er offenbar so gefesselt von ihrer Arbeit war. Als sein Blick anerkennend durch den Raum schweifte, blieben seine Augen kurz an Thranduils Mantel hängen, dann sah er sie wieder genau. Er hielt ihr eine seiner Pranken zur Begrüßung hin. „Graham McTavish, auch Dwalin genannt. Zu Ihren Diensten.“ Dabei machte er eine kleine Verbeugung und zwinkerte ihr zu.

Bevor sie antworten konnte, sprang Richard in die Breschen. Er schien zu spüren, dass sie ein wenig eingeschüchtert von dem massigen Auftreten des Schotten war. Und wer konnte es ihr verdenken? Immerhin war er fast zwei ganze Köpfe größer als sie. „Das ist Joe, die Designerin. Sie passt gerade Thorin an mich an. Was sagst du?“

„Sieht schon sehr gut aus! Kann ich es anfassen?“ Er wollte schon seine Hand danach ausstrecken, doch Joe sprang dazwischen. „Nein!“, rief sie erschrocken aus.

Graham lachte. „Schon gut, Kleines. Das war ein Scherz. Wann seid ihr fertig? Ich soll auch noch vermessen werden.“ Er wies mit seinem rechten Daumen über seine Schulter zur Türe. „Die da drinnen haben gesagt, dass ich hierher kommen soll, weil die anderen keine Zeit haben. Die haben alle Hände voll damit zu tun, Aidan und Adam davon abzuhalten, etwas kaputt zu machen.“ Er brach in leichtes Gekicher aus, was so gar nicht zum Rest seines Auftretens passen sollte, doch es machte ihn für Joe sofort nicht mehr ganz so angsteinflößend. 

Und seltsamerweise vergas sie für einen kleinen Moment, dass sie eigentlich gar nicht mit Fremden umgehen konnte, und sagte: „Ich muss ihm nur noch den Mantel anpassen und ein Foto machen, dann können Sie auf die Box klettern. Das heißt, wenn ich das Kostüm gefunden habe. In dem Großraumatelier geht es manchmal zu wie in einer Waschmaschine.“ Und als die beiden Herren sie unverständlich ansahen, setzte sie noch erklärend hinzu: „Na, Sie wissen schon: weil manchmal einfach eine Socke verschwindet.“

Peinliches Schweigen folgte darauf, was zur Folge hatte, dass Richard sich ein bisschen zu viel bewegte und sich eine Naht auflöste. Sofort packte Joe den fallenden Stoff und steckte ihn mit einer Nadel wieder an Ort und Stelle fest. Eine weitere halbe Stunde später, in der Richard und Graham über den heutigen Tag redeten und was sie alles schon gesehen und wen sie kennen gelernt hatten, war sie endlich fertig mit dem Anpassen. „Okay“, sagte sie leise, als könnte ein zu lautes Wort alles wieder kaputt machen. „Ähm, wenn Sie jetzt die Arme ganz vorsichtig sinken lassen, dann mache ich noch schnell ein Foto und dann dürfen Sie nach Hause gehen.“

Also versuchte Richard sich daran und tatsächlich gelang es ihm, ohne dass sich wieder etwas löste. Begeistert kramte Joe ihre Kamera hervor. Es war eine alte Canon, die noch ihrer Mutter gehört hatte, und eigentlich besaß sie schon viel bessere mit mehr High Tec, doch sie mochte das alte Ding. Es war einfach, damit einen Fokus zu finden, und die Bilder erhielten immer eine ganz leichte Überbelichtung, was ihnen einen unvergleichlichen Used-Look gab.

Sie schoss ein paar Bilder damit für ihre eigene Sammlung. Dann machte sie noch ein paar Fotos mit einer nahezu winzigen Digitalkamera, die sie später ihrem Chef Richard mitgeben würde. Der würde damit dann zu den Makeup-Leuten gehen, damit sie sich einen ersten Eindruck verschaffen konnten. Danach holte sie den Schauspieler Richard wieder aus seinem Kostüm. Graham half ihm schließlich auch aus seinem Fatsuit raus und zwängte sich in seinen eigenen rein.

Dann war sein Kostüm an der Reihe und er wirkte beinahe noch aufgeregter als Joe, die ein bisschen Angst davor hatte, dass ihre Leiter nicht reichen würde, um die Schulterpartie festzustecken. Doch sie hatte Glück. Als sie die Kostüme für Dwalin im Chaos des Großraumateliers gefunden hatte, konnte sie das Wichtigste feststecken, als er mit beiden Beinen fest auf dem Boden stand. Nur der lange Mantel würde knifflig werden.

Als sie da angekommen war, überlegte sie kurz, ob sie vielleicht besser auf den Tisch krabbeln sollte, doch da lagen zu viele Sachen herum, die sie hätte kaputt machen können. Also schob sie sich ihre kleine Leiter neben das Podest und bat den großen Kerl, sich darauf zu stellen. Dann legte sie ihm den Mantel um, der ihm bis zu den Knöcheln reichte. Da würde sie nicht mehr viel nähen müssen, doch sie musste wissen, wo sie den Saum ansetzen musste, damit er ihm beim Gehen nicht unnötig um die Beine schlackerte. Zwerge waren ein praktisches Volk. Sie hatten nichts für Kleidung übrig, die zwar gut aussah, aber nicht zweckmäßig war.

Vorsichtig setzte sie eine Nadel nach der anderen, während „Thorin“ sie bei der Arbeit beobachtete und mit Graham über seine ersten Eindrücke sprach. Dann kletterte sie wieder von der Leiter herunter und kauerte sich zu Füßen den riesigen Mannes, um die richtige Länge abstecken zu können. Schließlich war sie fertig.

Das meiste an Dwalins Kostüm bestand fast aus Metall. Wenn es fertig genäht war, würde auch das zu den Schmieden kommen, damit sie den Rest anpassen konnten.

Auch davon schoss sie noch ein Foto, dann sagte sie: „Fertig!“ Als das Kostüm wieder auf seinem Ständer hing, reichte Graham ihr erneut die Hand. „Es war mir eine Freude, junge Dame, Euch kennen zu lernen“, sagte er, wobei er sich über ihre Hand beugte und einen Handkuss andeutete. „Ich hoffe, wir sehen uns noch öfter, denn ich hatte bisher das Gefühl, nicht wirklich etwas von dir mitzubekommen.“ Er zwinkerte ihr lächelnd zu.

Sofort errötete sie wieder bis unter den Haaransatz und drehte sich schon verlegen weg, bevor er ihre Hand wieder richtig losgelassen hatte. Richard war da etwas flapsiger. Er tippte sich an seine Stirn, wünschte ihr eine gute Nacht und folgte Graham nach draußen.

Verwirrt stand Joe noch eine Weile da und fragte sich, was gerade passiert war. Obwohl sie mit diesen zwei wirklich außergewöhnlichen Männern in einem Raum gewesen war, hatte sie zumindest ein paar zusammenhängende Sätze herausbringen können. Das war neuer Rekord für sie!

Über sich selbst erstaunt warf sie noch einen letzten prüfenden Blick auf die beiden Kleiderständer mit dem ganzen Kostümensemble, die sie allerdings erst morgen fertigmachen würde. Denn in diesem Moment hatte sie viel zu gute Laune, um weiterhin in diesem fensterlosen Raum zu sein. Also packte sie ihre Sachen und fuhr nach Hause, um zusammen mit ihren beiden Katern in ihrem Garten noch ein wenig die letzten Sonnenstrahlen genießen zu können.

© by LilórienSilme 2015

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