LilórienSilme
~ Fanfiction-Autorin ~
Kapitel 39
~ Hoffnung und Ehre
Ich trat hinaus in den Regen. Sofort wurden meine Haare vom Wind erfasst und um meinen Kopf gewirbelt, dass ich beinahe nichts mehr sehen konnte. Da nützte es kaum etwas, dass ich sie mir am Hinterkopf mit einer Klammer zurückgehalten hatte. Ich versuchte sie wieder einzufangen und stopfte sie unter die Kapuze meines Mantels, den ich mir übergeworfen hatte. So würden sie mich nicht mehr stören.
Hinter mir verließen auch Legolas, Nefertirî und Sahîrim unser Haus. Wir alle waren in wenigen Augenblicken bis auf die Knochen durchnässt und meine Älteste begann leicht zu zittern vor Kälte. Ich wusste, dass es nicht leicht für sie werden würde und sie wusste es auch. Doch vermutlich nichts hätte sie davon abhalten können, uns zu folgen. Sie hatte schon einmal eindrucksvoll bewiesen, wie weit sie bereit war für Sahîrim zu gehen. Und ich würde sie nicht noch ein weiteres Mal herausfordern.
„Wo willst du zuerst hin?“, rief Legolas gegen den Sturm an. Ich überlegte einen Moment, ging im Kopf alle Elben durch, die es hier in Valmar gab. Da war natürlich allen voran meine liebliche Cousine Ithil-dî mit ihrem Gemahl Telperion, ihrem gemeinsamen Sohn Thalion und Telperions kleine Schwester Laurelin. Außerdem gab es noch Rochanu und seine Ehefrau Lalwen, Nírnaeth, Cirion, dessen Vater Círbann, die Zwillinge Ailin und Ilin, die Legolas damals in den Westen begleitet hatten und ebenfalls aus dem Düsterwald kamen.
Doch vor allen anderen gab es Gimli, unseren Waffenbruder aus alter Zeit. Ihn wollte ich zuerst aufsuchen und ihn hoffentlich zum allerletzten Mal dazu aufrufen, mit uns gemeinsam Schwerter und Äxte zu ziehen.
Auf dem Weg zu seinem Haus, was früher das Meine gewesen war, begegnete uns niemand. Bei dem Wetter war es auch kein Wunder, dass keiner auf den Straßen war. Die Wege, die wir sonst benutzten, waren bereits so schlammig, dass es uns weit über die Knöchel reichte. Bei jedem Schritt sanken wir ein, da nützte uns unsere Leichtfüßigkeit auch nichts mehr. Überall waren die Fenster entweder mit Holzläden verschlossen oder von Tierhäuten verhangen, sodass wir nur manchmal einen Blick auf ein warmes Feuer dahinter erhaschen konnten.
Hinter Gimlis Fenster jedoch brannte kein Licht. Und als ich gegen die Türe klopfte gab das Holz schon nach und sie schwang nach innen auf. Der schwache Lichtschein von draußen lief den Boden entlang, bis er auf eine breite Gestalt traf, die sich schwer auf einen Stock stützte und deren Augen gefährlich hinter einem dichten Bart hervor schauten. „Wird auch Zeit, dass ihr kommt“, knurrte der Zwerg. Er packte seine Axt, die ihm als Stützte gedient hatte, und schwang sie sich über die Schulter. „Dieses Mistwetter soll endlich ein Ende haben. Gehen wir und machen damit Schluss.“
„Du hast es gewusst?“, fragte Legolas unglaublich und empfing seinen alten Freund an der Türe. „Natürlich!“, erwiderte dieser. „Wenn ein Kampf in der Luft liegt, können Zwerge das spüren. Wir verweigern uns einer guten Schlacht nicht. Und ich muss sagen, dass es mir auch schon ordentlich in den Fingern gejuckt hat. Es ist viel zu lange her, dass mein Kaukamm Blut gesehen hat. Die Schneide war schon ganz stumpf.“
Er hatte Sahîrim nicht bemerkt, der hinter Legolas in der Türe stand und sich somit Gimlis Blickfeld entzogen hatte. Doch als der Zwerg nun um die Ecke kam, sah er den jungen Elb sogleich erbleichen.
„Oh.“ Gimli stockte. „Das...“, er räusperte sich peinlich berührt, „das tut mir leid, Junge. Ich hatte dich nicht gesehen. Natürlich meinte ich damit nicht das Blut deines Vaters.“ Er wollte noch mehr sagen, doch Sahîrim unterbrach ihn. Er hatte sich schneller wieder gefasst, als ich gedacht hatte, nachdem meine Tochter ihm beruhigend die Hand auf die Schultern gelegt und er die ehrliche Reue über seine Worte in des Zwerges Augen gesehen hatte.
„Schon gut“, sagte er. Dann wandte er sich zum Gehen.
Er kam nur ein paar Schritte weit, dann wurde ihm bewusst, dass er gar nicht wusste, wohin er gehen sollte, und blieb wieder stehen. In diesem Moment fühlte er sich so verloren, wie man sich nur fühlen konnte, wenn die eigene Mutter bereits tot war und der Vater und vermutlich auch der Bruder bereit waren, gegen einen selbst zu kämpfen. Er wusste nicht, ob er uns wirklich sein volles Vertrauen schenken konnte, obwohl sein Herz ganz laut Ja rief. Und er wusste nicht, wie der morgige Tag aussehen würde. Würde er ihn überhaupt noch erleben?
Diesen entscheidenden Moment, wenn man begreift, dass der Weg vor einem liegt und man ihn nur noch beschreiten muss, dieser Moment kann einen entweder glücklich und euphorisch die Füße bewegen lassen, oder er kann dafür sorgen, dass man vor Angst und Ungewissheit erstarrt und seine Beine sich durch nichts in der Welt bewegen lassen würden.
Sofort wollte Nefertirî zu ihm gehen, doch ich hielt sie zurück. Sie würde ihm nun nicht helfen können, das wusste ich. Niemand konnte ihm jetzt helfen. Er musste ganz alleine für sich entscheiden, ob er fliehen oder bleiben wollte. Er musste entscheiden, ob er seinem Vater gegenüber treten oder sich vor ihm verstecken wollte. Alles, was wir noch sagen würden, würde es vermutlich nur schlimmer machen.
Meine Tochter begann zu weinen. Sie schien auch ohne ein Wort zu begreifen, in was für einer Situation wir stecken. Auch für sie war es nicht leicht, und so drehte sie sich um und warf sich noch im selben Moment in meine Arm, verbarg ihr Gesicht an meiner Schulter und weinte lautlos.
Sie weinte um ihre Kindheit, die in diesem Moment endete. Und sie weinte um all jene, die sich bald im Kampf miteinander wiederfinden würden. Sie weinte um mich, um ihren Vater, ihre Schwestern, um die Elben aus Valmar und die Elben von den Klippen; sie weinte um Sahîrim und seinen Bruder, den sie nicht kannte; und sie weinte um die Zukunft, die sich morgen unweigerlich verändert haben würde.
Nach einer kurzen Weile riss sie sich wieder zusammen. Sie wischte sich die Tränen vom Gesicht, deren Platz jedoch sofort vom Regen eingenommen wurde, zog sich ihre Kapuze wieder über ihre silbernen Haare und ging voran. Zielstrebig steuerte sie das Haus von Ithil-dî an. Nun hatte also sie die nächste Entscheidung getroffen.
Thalion öffnete uns als wir klopften. Verwirrt blickte er erst seine Großcousine an, dann mich, dann den Rest. „Was ist los?“, wagte er zu fragen, bevor Telperion zu ihm kam und uns herein bat. In kurzen knappen Worten berichteten wir, was geschehen war, und ohne zu fragen verschwand er und kehrte bald darauf wieder zurück. Auch er trug nun eine Rüstung und hatte ebenfalls eine für seinen Sohn dabei. Hinter ihm sah ich Ithil-dî im Türrahmen stehen. Sie hatte Tränen in den Augen.
Ich wollte schon zu ihr gehen, doch sie winkte ab, schluckte die Tränen hinunter und lächelte tapfer. „Ihr müsst gehen“, sagte sie, mehr zu sich selbst, als zu uns. „Nur bitte: kehrt wieder zurück.“
Ich schloss sie fest in meine Arme, drückte sie an mich, ließ noch einmal die schöne Zeit, die wir miteinander erlebt hatten, an meinem inneren Augen ablaufen, dann drückte ich ihr einen Kuss auf die Wange und ließ sie wieder los. „Mach dir keine Sorgen. Uns wird nichts geschehen.“ Sie nickte, wischte sich eine weitere Träne weg, dann ließ sie meine Hände los, die sie bis eben noch fest umklammert hielt. Ich überließ sie dem Abschied mit ihrem Mann und ihrem Sohn und ging mit den anderen nach draußen.
Als wir dort warteten, fasste ich einen Plan. Ich drehte mich zu den dreien um und sagte: „Ich möchte, dass ihr an jede Türe klopft, die Elben darum bittet, keine Fragen zu stellen und ihnen sagt, dass ich sie in der großen Halle erwarte. In einer Stunde sollen alle versammelt sein, die kämpfen können und wollen.“ Ich schluckte noch einmal. „Es muss schnell gehen.“
Sie alle nickten mir zu, dann brachen sie in verschiedene Richtungen auf. Als Telperion und Thalion nach draußen kamen, richtete ich dieselbe Bitte an sie und machte mich mit ihnen gemeinsam auf den Weg zu den Häusern. Ich riskierte einen letzten Blick zurück zu meiner Cousine, die nun in der Tür stand und ihren Tränen freien Lauf ließ, nickte ihr ein letztes Mal zu, dann wandte ich mich ab.
Nun musste ich stark sein. Auch wenn es mich innerlich zerriss musste ich nun die Anführerin sein, für die mich alle hielten. Mein ganzes Leben lang hatte ich mich vor diesem einen Moment gefürchtet, ohne zu wissen, dass er tatsächlich einmal kommen würde. Doch jetzt wusste ich es: das war das, wovor ich immer Angst hatte.
Ich richtete mein Gesicht gen Himmel, ließ den Regen ungehindert darauf fallen, schloss die Augen und betete. Ich betete so inbrünstig, wie ich es noch nie zuvor in meinem Leben getan hatte, und bat die Valar darum, mir die Kraft zu geben, alle anderen zu leiten. Alleine, das war mir bewusst, würde ich es niemals schaffen. Doch ich spürte, dass alle Zwölf bei mir waren. Ich fühlte Caeya an meinem Finger, wie er glühte und erst schwach, dann immer stärker zu pulsieren begann. Auch die Valar schienen zu wissen, dass nun der Augenblick der höchsten Not gekommen war. Ein letztes Mal schickten sie mir ihre Stärke, gaben mir die Kraft, ihrem Willen zu folgen.
Als ich die große Halle betrat, waren schon einige hier versammelt. Ich erkannte viel Furcht in ihren Gesichtern, sah die Besorgnis und die Ungewissheit. Was würde sie erwarten? Was hatte ich ihnen zu sagen?
Rochanu kam auf mich zu und fragte mich, was geschehen war. Doch ich bat ihn um Geduld. Ich hatte nicht die Kraft es mehrere Male zu erzählen. Wenn ich Glück hatte, würde es für ein einziges weiteres Mal reichen. Darauf musste ich hoffen.
In der Zeit, in der ich auf den Rest wartete, versuchte ich mich hauptsächlich auf das Atmen zu konzentrieren. Ich schlang den Mantel fester um mich, obwohl er vollkommen durchnässt war, denn ich wollte nicht, dass jemand die Rüstung, die ich trug, bemerkte. Auch wenn das bei den übergroßen Schulterpolstern wahrscheinlich vergebliche Mühe war. Ich konnte mir wenigstens einbilden, sie noch ein paar letzte Augenblicke vor dem zu schützen, was sie bald erwarten würde.
Legolas war der Letzte, der zurück in die Halle kam, und mit ihm kamen Ailin und Ilin. Der Kleinere der beiden war schon gute acht Zoll größer als ich, doch sein Bruder überragte ihn noch einmal um weitere zwei Zoll. Sie hatten beide dunkles Haar, wie es bei den Waldelben im Düsterwald üblich war, und graue Augen. Sie waren kräftig gebaut und würden mich und Sahîrim zu Delos begleiten, während Legolas mit Nefertirî erst einmal im Hintergrund bleiben würden. Zumindest hatte ich mir das so vorgestellt. Wie es letztendlich kommen würde, blieb noch abzuwarten. Vielleicht verließ mich auch im letzten Moment der Mut.
Endlich waren wir alle versammelt. Legolas gesellte sich zu mir und blieb an meiner Seite. Er legte einen Arm um meine Taille. Ich entspannte mich gleich ein wenig und schöpfte neue Kraft aus seiner Nähe. Es tat gut ihn bei mir zu haben. Wären wir alleine gewesen, hätte ich mich vermutlich sofort an ihn geschmiegt und ihn nie wieder losgelassen.
Hier jedoch musste ich mich zusammennehmen. Ich spürte mehr, als dass ich es sah, dass alle Augen auf mich gerichtet waren. Sie wussten, dass es einen wichtigen Grund geben musste, dass ich sie alle bei so einem Wetter vor die Türe lockte. Und den würde ich ihnen liefern.
Langsam breitete ich die Arme aus und sagte: „Hört mich an.“ Doch es war unnötig das zu sagen, da ohnehin alle schwiegen und mich ansahen. Alles, was zu hören war, war der Wind, der um das Gebäude strich, draußen Fensterläden klappern ließ, und der Regen, der auf das Dach trommelte und beinahe die Sturmgeräusche verschluckte.
Es kostete mich Mühe ihnen noch einmal das zu erzählen, was geschehen war. Doch niemand unterbrach mich, alle hörten aufmerksam zu, bis ich fertig war. Dann herrschte wieder diese unangenehme Stille.
Círbann ergriff zuerst das Wort. Er war ein wettergegerbter Elb mit dunkler Haut, grauen Haaren und stechend graublauen Augen, die mich jedes Mal an das Meer erinnerten, was er so sehr liebte. Es schien fast, als hätte Ulmo ihn aus den Wellen geboren. „Und nun wollt Ihr, dass wir in den Krieg ziehen.“ Es war keine Frage, sondern eher eine Feststellung.
„Das ist keine Frage des Wollens“, sagte ich, „sondern eine Frage des Müssens. Einige nickten mir zustimmend zu, andere sahen mich weiterhin skeptisch an. „Ich weiß, dass niemand das hier möchte. Wir alle haben Jahre lang in Frieden gelebt. Doch wenn das auch weiterhin so bleiben soll, müssen wir etwas dafür tun.“
„Frieden erzeugt man nicht mit Gewalt!“, rief jemand aus der hinteren Reihe.
„Dem stimme ich zu“, sagte ich schnell, bevor ein Tumult ausbrechen konnte, und erstickte manche kritische Äußerung damit. „Doch wir haben keine Wahl mehr. Delos lässt uns dieses Wahl nicht. Er zwingt uns dazu, zu den Schwertern zu greifen.“ Alle sahen mich an. Langsam ging ich auf und ab, knotete meinen Mantel auf und ließ ihn schließlich zu Boden gleiten, sodass sie meine Rüstung sehen konnten.
„Ich bin die Letzte, die einen Kampf mit Delos will. Doch wenn es so sein soll, werde ich mich ihm stellen. Sollten alle Verhandlungen mit ihm scheitern, werden wir zu den Waffen greifen müssen -“
„Woher wissen wir, dass er“, Cirion unterbrach mich und zeigte auf Sahîrim, „uns nicht an Delos verrät? Vielleicht ist er nur hier, um uns auszuspionieren. Oder er wird...“
Dieses Mal unterbrach meine Tochter ihn. Sie war neben Sahîrim getreten und hatte ihm eine Hand auf den Arm gelegt, sodass jeder es sehen konnte. „Er wird nichts dergleichen tun!“ Ihre Stimme schnitt Cirion das Wort ab und hallte von den Wänden wider. „Ich verbürge mich für ihn, falls es das ist, was ihr wollt. Und ich werde an seiner Seite kämpfen, so wie er an unserer Seite kämpfen wird.“
Es dauerte eine Weile, bis die Wirkung ihrer Worte zu allen durchgedrungen war, doch dann schien Rochanu zu verstehen. „Nefertirî hat Recht“, sagte er. Eben hatte er noch in der Menge der Gesichter gestanden, doch jetzt drehte er sich zu den anderen um, gesellte sich zu Legolas, Nefertirî, Sahîrim und mir, und sprach zu den Versammelten. „Wir dürfen uns nicht in zwei Lager aufteilen. Wenn Lilórien uns bittet ihr zu vertrauen, dann werde ich das tun. Sie hat uns bisher immer auf den richtigen Weg geführt. Und das wird sie auch heute tun.“
„Rochanu hat Recht!“, sagte Telperion. „Auch ich vertraue ihr.“ Und bevor es erneut zu einer hitzigen Diskussion kommen konnte, unterbrach ich alle mit einer ausladenden Handbewegung. „Ich danke euch beiden“, sagte ich und sah Rochanu und Telperion dankbar an. Sie nahmen wieder ihre Plätze in den Reihen der anderen ein und nun stand ich ganz alleine dort vorne.
Einen Moment sammelte ich mich, legte die Handflächen aneinander und atmete tief durch. „Ich weiß“, begann ich, „dass es keine Lösung ist, die wir alle bevorzugen. Doch, wie ich bereit sagte, wird man uns keine andere Wahl lassen. Daher bitte ich euch: geht zur alten Waffenkammer, rüstet euch aus, mit allem, was ihr finden könnt. Die Waffen sollten noch scharf sein, immerhin haben Elben sie geschmiedet. Sollten Rüstungen quietschen, werden wir sie ölen. Und wenn wir soweit sind, reiten wir zu den Klippen. Wir werden mit Delos verhandeln und so die Valar es wollen sind wir heute Abend alle wohlbehalten zurückgekehrt und liegen wieder in unseren Betten.“
Ich holte noch einmal tief Luft. Das alles wünschte ich mir so sehr für uns alle, dass es in meiner Brust schmerzte, wenn ich daran dachte, dass auch nur einem einzigen hier im Saal ein Leid zugefügt werden könnte.
„Werdet ihr mir folgen?“