top of page

Kapitel 39

 

~ No Woman no Cry

 

Good friends we have, oh, good friends we've lost

Along the way

In this great future, you can't forget your past, 

So dry your tears I say

 

Matamata lag in strahlendem Sonnenschein, als an diesem Samstag alle auf den Beinen zu sein schienen. Das Basecamp war drei Kilometer von dem Set entfernt am Highway 29 aufgebaut worden, doch es kam Joe so vor, als müsste es heute leer sein. Überall liefen Menschen umher, trugen etwas an einen bestimmten Platz, stellten etwas um, zogen Sachen an und wieder aus, rückten die Gleise für die Kameras hin und her oder standen einfach nur da und genossen den Anblick, der sich ihnen bot.

Sie selbst hatte auch nicht schlecht gestaunt, als sie in aller Herrgottsfrühe mit einem Teil der Crew angereist war. Die sanften Hügel von Hobbingen lagen vor ihr und alles sah so echt aus, als könnte jeden Moment die Türe von einem der Hobbithöhlen aufgehen und einer der Bewohner seinen Kopf heraustrecken. Alles war mit so viel Liebe zum Detail aufgebaut worden und auch an die kleinsten Dinge war gedacht worden, dass es ihr richtig Spaß machte, alles zu entdecken.

Sogar Peters Krankheit zu Beginn des Jahres hatte ihren Teil zu dieser einmaligen Kulisse beigetragen, denn eigentlich hatte man mit den Dreharbeiten hier anfangen wollen. Doch da der Regisseur fast den gesamten Februar im Krankenhaus verbracht hatte, war der Sommer danach nahezu vorbei gewesen, sodass das Wetter nicht mehr zum Drehbuch gepasst hätte. Denn immerhin war Hochsommer in Hobbingen, wenn Bilbo sich auf den Weg machte, die Zwerge bei ihrem Abenteuer zu begleiten. So hatte jedoch alles, was von den Ausstattern und Dekorateuren gepflanzt worden war, fast ein Jahr Zeit gehabt, richtig zu wachsen. So wirkte alles tatsächlich wie echt.

Staunend ging Joe nun über die Straßen des kleinen Dorfes und betrachtete alles. Der Platz vor dem Grünen Drachen war zum Markt aufgebaut worden und jeder Stand hatte seine eigenen kleinen Besonderheiten aufzuweisen. So fanden sich zum Beispiel beim Obststand jede Menge frischer Früchte und handbemalte Schilder, die die Waren anpriesen. Staunend wollte sie ihre Finger danach ausstrecken, doch in diesem Moment rief jemand ihren Namen.

Es war Peter, der ihre fachkundigen Hände benötigte. Er stand gemeinsam mit Elijah Wood, der bereits vor einer Woche angereist war und die Zeit über bei seinem alten Freund Orlando verbracht hatte, vor dem Tor zu Beutelsend. Er hatte bisher nur seine Hobbitfüße und die Perücke erhalten, und nun sollte sie ihn noch einkleiden.

Faszinierend blickte sich der ehemalige Kinderdarsteller um. „Wahnsinn“, sagte er, „es sieht wirklich aus wie damals. Nur bunter. Als hätte sie gar nichts verändert.“ Dann sah er den Regisseur an. „Das ist wirklich großartig, Pete.“

„Schön, dass es dir gefällt“, grinste der Kiwi, dann deutete er auf Joe. „Das hier ist Joe. Sie ist für die Kostüme verantwortlich. Sie wird dich einkleiden und dann kommst du einfach wieder hierher.“ Elijah nickte, dann stellte er sich bei der Designerin vor. Die ergriff schüchtern seine dargebotene Hand und strich sich verlegen eine ihrer Strähnen hinters Ohr.

Im Container für die Kostüme, der hinter den Hügeln außer Reichweite der Kameras stand, musste sie nur kurz wühlen, bis sie das passende Teil gefunden hatte. Sie hielt es Elijah hin, der staunend danach griff. „Wow“, sagte er, „das sieht aus wie das Kostüm, was ich vor elf Jahren getragen hab.“ Mit seinen wahnsinnig blauen Augen, die vor Freude leuchteten, sah er sie an.

Leicht errötend antwortete sie: „Ja, das war der Plan. Die Szene soll nahtlos an die im Herr der Ringe anknüpfen.“

Später beobachtete Joe, wie Elijah den Bühl hinauf- und hinunterging, bis die Szene endlich im Kasten war. Danach wurde auch schon Feierabend gemacht und sie konnte sich erschöpft in den Kleinbus setzten, der sie zum Hotel in Matamata bringen würde. Eigentlich hatte sie gehofft, dass sie in einem der Wohnwagen schlafen würde, doch offenbar hatte man schon ein Zimmer für sie reserviert.

Matt lehnte sie die Stirn gegen die Scheibe, als sie die Buckland Road hinunterfuhren, und beobachtete wenig interessiert, wie die grüne Landschaft an ihr vorbeizog. Nachdem Dean sie am vergangenen Abend nach Hause gebracht hatte, hatte sie eigentlich sofort schlafen wollen, da sie um halb fünf schon wieder in den Studios sein musste, um mit einem Teil der Crew die Fahrt hierher anzutreten. Doch als sie im Bett gelegen hatte, hatten ihre Gedanken sich wild im Kreis gedreht, bis ihr ganz schwindelig geworden war. Und so hatte sie die ganze Nacht wach gelegen und darüber nachgedacht, was sie nun tun sollte.

Dass sie nun für ein paar Monate nicht zurück in die Stadt kam, war vielleicht ein Segen, denn so musste sie Nick nicht mehr über den Weg laufen. So konnte sie in aller Ruhe verarbeiten, dass er wieder da war. Doch irgendwie machte es das nicht leichter für sie. Denn wie sollte sie sonst rausfinden, ob sie in seiner Nähe immer noch zerfloss und immer noch dieses Kribbeln im Bauch spürte.

Andererseits konnte sie so vielleicht besser herausfinden, was sie für Dean empfand. War es genug, um Nick vergessen zu können? Wollte sie Nick überhaupt vergessen? Und war es Dean gegenüber fair, wenn sie ihn benutzte, um Nick zu vergessen?

Jemand rüttelte sie an der Schulter. Sie musste auf der kurzen Fahrt eingeschlafen sein, denn als sie wieder die Augen öffnete, standen sie vor dem Hotel. Sie warf einen kurzen, gehetzten Blick auf die Umgebung, doch die Schauspieler würden erst morgen im Laufe des Sonntags eintreffen. Morgen würden nur ein paar Landschaftsaufnahmen und Bilder geschossen werden. Am Montag ging es dann richtig los. Sie hatte also noch eine Schonfrist, bis sie Dean wiedersah.

Den kompletten Sonntag verbrachte sie im Bett. Sie fühlte sich elend und ausgelaugt, hatte kaum die Kraft, sich etwas zu Essen aufs Zimmer kommen zu lassen, geschweige denn aufzustehen. Also ließ sie sich ein Bad ein, doch auch das half nichts. Ihre Gedanken kreisten trotzdem um dieses eine Thema, bis sie dachte, sie müsste sich übergeben von dem ganzen Mist.

Wie gerne hätte sie etwas gehabt, in das sie ihre Gedanken hätte einschließlich können. Dann würde sie sich nicht ständig ein- und dieselbe Frage stellen müssen. Doch natürlich war das nicht möglich und so kam sie am Montag völlig gerädert zur Arbeit. Emily, die scheinbar noch ein schönes Wochenende in Wellington gehabt hatte, strahlte sie begeistert an. „Guten Morgen, Sonnenschein!“, flötete sie, als Joe den Kostüm-Container betrat.

Die Designerin verzog daraufhin gleich das Gesicht zu einer Grimasse. Ihre Schläfen pulsierten gefährlich und ihr Schädel fühlte sich an, als müsse er jeden Moment in der Mitte aufplatzen und ihr Gehirn freisetzen. Das Licht war ihr zu grell und es roch unangenehm nach Klebstoff, sodass ihr gleich wieder schlecht wurde. Sie murrte nur ein kurzes „Morgen“ zurück, dann verzog sie sich in die hinterste Ecke des Containers zwischen die einzelnen Kleiderständer und ging ihre Unterlagen durch.

Heute stand die Massenszene mit den Hobbits auf dem Marktplatz an und anstelle von jeder Menge Statisten hatte Peter sich dazu entschlossen, auf Mitglieder der Crew zurückzugreifen, die in die Hobbitkostüme gesteckt werden sollten. Joe ging gerade die Liste durch, als Emily hinter ihr erschien. Die Schneiderin betrachtete ihre Freundin eine Weile mit verschränkten Armen, dann fragte sie: „Ist alles okay bei dir?“

„Nein!“, war die unwirsche Antwort, bei der Joe sich noch nicht einmal umblickte. Doch Emily wollte so schnell nicht aufgeben. Sie setzte sich kurzentschlossen ein Stück neben ihre Freundin auf den Boden und nahm ihre Hände. Dann blickte sie ihr tief in die grünen Augen und sagte: „Du kannst es mir sagen, wenn du möchtest. Ich höre dir zu.“

Joe tat einen tiefen Seufzer, doch sie zögerte kurz. Sollte sie das wirklich riskieren? Was würde Emily dazu sagen?

Andererseits war es vielleicht ganz gut, das alles einmal loszuwerden. Vielleicht half auch ein anderer Blickwinkel auf die Geschichte und sie konnte Aspekte in Betracht ziehen, an die sie vorher nicht einmal gedacht hatte.

Also nahm sie all ihren Mut zusammen und erzählte ihrer Freundin von Freitagabend. Davon, dass Nick auf einmal wieder da war, wie er und sie auseinandergegangen waren, und dass sie und Dean sich geküsst hatten. Als sie fertig war, runzelte Emily konzentriert die Stirn. „Du sagst also, dass du nicht weißt, ob du noch etwas für Nick empfindest, und dass du nicht weißt, ob du schon etwas für Dean empfindest? Das trifft es doch ziemlich gut, oder nicht?“

Unsicher, worauf ihre Freundin hinauswollte, nickte Joe. Emily fuhr fort: „Dann ist die Sache doch sonnenklar!“ Sie sah die andere für zwei Sekunden begeistert an, dann warf sie die Arme in die Höhe. „Du schläfst einfach mit beiden und suchst dir den aus, der es am besten drauf hat.“ Dabei zwinkerte sie ihr anzüglich zu.

Sicher war das nur halb so ernst gemeint, wie es geklungen hatte, doch Joe hatte an diesem Morgen keinen Sinn für Scherze. Stattdessen erhob sie sich entrüstet und ließ Emily am Boden sitzend zurück. Wütend über die mangelnde Unterstützung stapfte sie aus dem Container zum Set, wo ihr Team bereits auf sie wartete. Unwirsch und kurz angebunden gab sie Anweisungen, dann suchte sie selbst nach ihren Opfern.

Pete hatte darauf bestanden, dass Joe sich um eine besondere Hobbit-Familie kümmern sollte und so kam sie mit einem Kostüm für Erwachsene und vier für Kinder zum Gasthaus und suchte die Menge nach Teti und ihren Kindern Seth, Maria, Ramesi und Tari ab. Sie wusste nicht, wieso ausgerechnet sie die fünf einkleiden sollte, doch natürlich stellte sie Petes Wünsche nicht in Frage. Bei der Frau von Orlando angekommen grüßte sie kurz, dann reichte sie der exotischen Schönheit, deren normalerweise eher dunklere Haut man jedoch etwas mit Puder aufgehellt hatte, ihr Kleid.

„Wow“, sagte Teti begeistert, als sie den Stoff in Händen hielt. „Das sieht ja absolut fantastisch aus! Ist das deine Arbeit?“

Ein knappes Nicken war die Antwort, dann sagte Joe: „Soll ich die beiden Kleinen einkleiden? Dann können Sie ihre größere Tochter schon mal anziehen, Mrs. Bloom.“

Entrüstet starrte Teti die blonde Designerin an, die irritiert zurückstarrte. Dabei fiel ihr auf, wie tiefbraun ihre Augen waren. „Was ist denn?“, fragte sie völlig verwirrt. Hatte sie etwas falsch gemacht? Wollte diese Frau nicht, dass jemand anderes ihre Kinder anfasste?

„Also, als allererstes mal bin ich nicht Mrs. Bloom“, sagte Teti scharf, doch dann zwinkerte sie, „denn Mrs. Bloom ist meine Schwiegermutter. Ich bin Teti. Einverstanden?“ Sie reichte der anderen ihre Hand, die die Designerin dankbar und erleichtert ergriff. Dann machten sie sich daran, die Kinder anzuziehen. Seth, der Älteste von ihnen, den Joe schon damals auf ihrem Abendessen kennengelernt hatte, zog sich alleine um. Auch ihm sowie seinen Geschwistern hatte man einen helleren Teint verpasst. Als alle fertig waren, betrachtete sie schließlich das Gesamtwerk.

„Das sieht wirklich großartig an euch aus“, sagte sie. Dabei brachte sie noch ein paar Bänder an Marias Kleid in die richtige Position. Teti hatte Tari auf dem Arm, während Seth sich um seinen kleinen Bruder Ramesi kümmert, den er auf eine Decke am Boden gesetzt hatte und nun mit ihm spielte. Von irgendwoher hatte er eines der Holzspielzeuge erhalten, die extra für diese Aufnahmen gemacht worden waren, und Ramesi, der nun fast ein Jahr alt sein musste, wie Joe schätzte, war begeistert davon.

Als die Kinder soweit fertig waren, scheuchte Teti sie alle auf die Decke. Sie selbst nahm auf einem Schemel daneben Platz. Dann war sie an der Reihe. Joe kniete sich vor sie hin und zupfte Dekolleté und Mieder zurecht.

In diesem Moment erschien Emily hinter Joe. Die Schneiderin und Assistentin stemmte die Arme in die Hüften. Sie sah aus, als wäre sie ein Stück gerannt, denn ihre Wangen glühten und ein paar Haarsträhnen klebten an ihrer Stirn. Für diese Jahreszeit war es aber auch schon verdammt warm. Zum Glück saßen sie im Moment noch im Schatten.

„Hey“, grüßte sie kurz angebunden und hob die rechte Hand. „Ich hab vergessen, was ich machen soll. Wo brauchst du mich noch mal?“

Joe, die immer noch genervt von Emilys Aussage von vorhin war, drehte sich flüchtig um. „Guck selbst nach“, sagte sie kühl, dann widmete sie sich wieder den Rüschen am Ausschnitt des Kleides.

Abwehrend hob Emily beide Hände. „Okay“, sagte sie ironisch, „dann gehe ich jetzt da hinten zu den Leuten, die keiner leiden kann. Danke für die Auskunft, Boss!“ Das letzte Wort betonte sie so sehr, dass man es unweigerlich falsch verstehen musste. Doch Joe reagierte nicht. Sie schnaubte nur ungehalten, als sie hörte, wie ihre Freundin sich wieder entfernte.

Ihre Finger fummelten jetzt schon zum fünften Mal an demselben Knopf rum und sie war sich auch irgendwie sicher, dass sie es übertrieb, doch sie war mit ihren Gedanken so sehr woanders, dass sie nicht merkte, dass sie den Faden fast zerriss. Nur Tetis Hände, die sich sanft um die kleinen der Designerin legten, retteten das Kleid in letzter Minute.

Sie zwang Joe dazu, ihr erneut in die Augen zu sehen. „Ist alles in Ordnung?“ Sie wusste, dass sie kein Recht dazu hatte, das zu fragen, weil sie sich kaum kannten. Doch genauso spürte sie, dass die junge Frau jetzt gut jemanden gebrauchen konnte, dem sie ihr Herz ausschütten konnte. Und damit behielt sie Recht, denn kaum hatte sie das letzte Wort ausgesprochen, füllten sich die grünen Augen mit Tränen.

Joe biss sich auf die Lippe. Ihr Blick zuckte kurz in Richtung der Kinder, die aber glücklicherweise mit ihren Spielsachen beschäftigt waren, dann brach ein Damm in ihr. Kraftlos ließ sie sich auf die Wiese plumpsen, direkt zu Füßen der anderen Frau, wischte sich flüchtig über die Wangen und begann zu erzählen. Sie wusste nicht, wieso sie ihr das alles erzählte. Eine innere Eingebung schien ihr das zuzuflüstern. Und wenn sie tief in sich hinein hörte, glaubte sie eine Verbundenheit mit der Halbägypterin zu spüren, die sie bisher noch bei keinem Menschen gespürt hatte.

Das alles, und ihr ziemlich aufgewühltes Befinden, sorgten dafür, dass all ihre Ängste und das, was sie in den letzten Monaten hier erlebt hatte, aus ihr heraussprudelte, bis sie sich innerlich ganz leer fühlte. Erschöpft sankt sie danach noch ein bisschen weiter in sich zusammen und starrte auf ihre Hände, die mit einem Stoffband spielten, ohne wirklich etwas zu sehen.

Es dauerte eine Weile, bis Teti wieder etwas sagen konnte. Sie warf noch einmal einen Blick zu ihren Kindern, doch ihr Großer hatte alles wunderbar im Griff. Außerdem war sonst auch noch Janine in der Nähe, die ebenfalls für eine Statistenrolle ausgewählt worden war. Sollte etwas sein, könnte sie das Au-pair immer noch rufen. Doch so, wie es im Moment aussah, hatte sie alle Zeit der Welt.

Also räusperte sie sich, stieg von ihrem Schemel herunter und setzte sich direkt zu Joe ins Gras. Dann nahm sie die zierlichen Hände, die sogar im Gegensatz zu ihren ziemlich klein wirkten, und drückte sie beruhigend.

„Oh Mann, das ist ganz schön viel.“ Joe beobachtete aus ihren langsam aufquellenden Augen, wie sich das hübsche Gesicht in nachdenkliche Falten legte. Aber, und sie wusste nicht, ob das nur bloße Einbildung war, sie meinte auch ein leichtes Lächeln auf ihren Lippen zu sehen. „Die Liebe ist wohl nie so einfach, was?“, fragte Teti sie, um sich noch etwas Zeit für eine gute Antwort einzuräumen. Joe, um nicht wieder in Tränen auszubrechen, gerade wo sie sie doch im Griff zu haben schien, nickte nur schnaubend.

„Weißt du, das Problem an der Sache ist, dass du dich von anderen zu einer Entscheidung genötigt fühlst“, begann sie dann und Joe konnte nicht anders als Teti verwirrt anzusehen. „Sie wollen, dass du dich entscheidest, wollen, dass du das machst, was sie denken, was für dich am besten ist. Für sie als Außenstehende ist die Sache einfach und klar, aber sie müssen ja auch nicht deinen Kopf auf den Schultern tragen.“ Bevor die junge Designerin diesen Kommentar jedoch als Beleidigung auffassen konnte, erklärte Teti ihr, was sie genau damit meinte. „Keiner, nicht Denver, nicht ich, nicht Emily, wirklich keiner kann sich ausmalen, was in deinem hübschen Kopf vor sich geht, und das ist auch gut so. Aber deswegen können sie auch nicht wirklich entscheiden, was für dich das Beste ist. Von mir wirst du sicherlich nicht hören, für welchen der beiden Männer du dich entscheiden solltest, denn das ist deine Entscheidung und nicht meine. Aber eines kann ich dir sagen, und glaube mir, ich spreche aus Erfahrung: Keiner von beiden wird ewig auf dich warten.“

„Das ist alles?“, fragte Joe beinahe etwas enttäuscht. Irgendwie hatte sie sich von Teti wirklich eine Lösung versprochen, wenn sie ihr schon alles erzählte. Immerhin schien die schon eine Menge durchgemacht zu haben. Jetzt zu hören, dass sie ihr nicht helfen konnte und ihr auch noch sagte, dass sie sich beeilen sollte, weil es sonst zu spät sein könnte, ließ einen heißen Knoten in ihrem Magen wachsen, der unangenehm zu pulsieren begann.

Die fröhliche Halbägypterin sah Joes Enttäuschung und legte nun eine der Hände, die eben noch die der jungen Designerin gedrückt hatten, auf eine ihrer schmalen Schultern. „Einen Tipp kann ich dir aber noch geben“, sagte sie zwinkernd und sah dann wieder zu der Decke, auf der ihre vier Kinder immer noch miteinander spielten. „Wenn du wirklich eine Zukunft mit einem von beiden haben willst, dann stell dir sie neben Kindern vor, selbst wenn du dich jetzt noch nicht bereit dafür fühlst. Stell dir beide Männer vor, wie sie mit den Kindern umgehen würden. Deine weibliche Intuition wird dir zeigen, welcher von ihnen später einmal der bessere Vater für deine Kinder wäre. Und wenn es keiner von beiden ist“, sie hielt kurz inne und atmete tief durch, „dann solltest du sie beide gehen lassen, auch wenn es dir schwer fällt. Denn was bringt es dir, Zeit mit dem Falschen zu verschwenden, wenn der Richtige genau vor deiner Nase sein könnte und du ihm nur bisher keine Beachtung geschenkt hast, weil du an dem festgehalten hast, was dir offensichtlich erschien?“

Sie sahen sich eine Weile stumm in die Augen, während hinter ihnen die Kinder ausgelassen lachten. Dann wandte Joe schließlich den Blick ab. Diese Unterhaltung hatte sie irgendwie noch müder gemacht, als sie es ohnehin schon gewesen war. Wieso mussten Emotionen einen immer so aufwühlen? Konnte man diese lästigen Dinge nicht einfach abschalten? Der Knoten in ihrem Magen schien nur noch mehr zu wachsen.

Doch dann dachte sie wieder darüber nach, was Teti ihr gesagt hatte. Natürlich konnte niemand ihr sagen, für wen sie sich entscheiden sollte. Niemand hatte das durchgemacht, was sie durchgemacht hatte. Niemand hatte gesehen, was sie gesehen hatte. Aber es wäre so viel leichter, wenn jemand für sie die Münze werfen würde.

Aber was würde es nützen, wenn jemand für sie sprach, wenn jemand für sie ihre Zukunft wählte. Sie allein musste im Endeffekt die Verantwortung für ihr Handeln tragen, das wurde ihr nun klar. Selbst wenn sie Emily entschieden ließe, ob sie Nick oder Dean wählen sollte, nur sie selbst, Johanna Marie Taylor, war diejenige, die diesen Weg beschreiten musste. Egal was sie tun würde, das war einzig und allein ihr Kampf.

Das unangenehme Pulsieren in ihrem Magen hörte urplötzlich wieder auf. Der Knoten löste sich und sie konnte wieder durchatmen. Wenn man erst einmal begriffen hatte, was man zu tun hatte, war es eigentlich gar nicht mehr so schwer. Wieso hatte sie diese Erkenntnis nicht schon viel früher gewonnen? Hätte sie damals jemanden wie Teti an ihrer Seite gehabt, wäre ihr Leben wohl leichter gewesen. Doch ihre Mutter hatte ihr damals schon nicht mehr helfen können. Nun musste sie selber lernen, wie man in dieser großen, bösen Welt zurecht kam.

„Danke“, sagte sie schließlich an Teti gewandt und meinte es auch so. Sie versuchte sich an einem Lächeln, was ihr vermutlich nur halb gelang. Doch es war zumindest ein Anfang. „So hat mir das noch niemand klargemacht.“

Gemeinsam standen sie auf, hielten sich dabei aber immer noch an den Händen. Und Joe glaubte eine kribbelnde Energie zu fühlen, die von Teti in sie überging, als wäre die Ehefrau von Orlando Bloom ein elektrischer Leiter und sie die Glühlampe, die zum Leuchten gebracht werden sollte. In diesem Augenblick hatte Joe das Gefühl, diese Frau schon früher einmal getroffen zu haben, auch wenn sie sich hundertprozentig sicher war, dass dem nicht so sein konnte. Wie ein Déjà-vu sah sie sie vor sich. Dann war der Moment vorbei.

Teti zuckte die Schultern. „Auch ich habe mal zwischen zwei Männern gestanden. Ich weiß also, wie sich das in etwa anfühlt. Man ist verwirrt und total aus dem Gleichgewicht gebracht. Das ist nicht leicht. Deswegen musst du dich erst einmal selbst wiederfinden. Und dann wirst du wissen, was du willst.“

„Ja“, bestätigte Joe diese Worte, „du hast Recht. Ich denke, ich weiß jetzt, was ich tun muss.“ Sie löste sich von der Älteren und drehte sich um, um einen Blick über Hobbingen zu werfen. Dann atmete sie tief durch und lächelte zum ersten Mal seit Freitag wieder richtig.

© by LilórienSilme 2015

  • facebook-square
  • Instagram schwarzes Quadrat
  • Twitter schwarzes Quadrat
bottom of page