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Kapitel 38

 

~ Postcards from the Past

 

Now I am running in times that are frightening

But I won't let that break me

I won't let that take me down again

 

Es herrschte eine angespannte Stille, nachdem Joe gesprochen hatte. Niemand wagte sich zu bewegen, aus Angst, dass danach etwas passieren könnte, was man später wohl bereuen würde. Auch Dean konnte sich immer noch nicht rühren. Betreten musterte er die Leute vor ihm in dem Raum, den er immer noch durch die Tür sah. Dann entschloss er sich, die Spannung zu brechen. Vorsichtig trat er ein und schloss die Tür hinter sich.


Das lenkte die Aufmerksamkeit von Denver auf ihn. Die blonde Sängerin mit den kinnlangen Haaren, die sie heute zu einem Longbob trug, drehte sich zu ihm um, weg von der Szene zwischen Joe und Nick, die sich immer noch völlig verklärt in die Augen sahen und sich benahmen wie zwei Statuen. „Hey, und wer bist du?“, fragte sie und lächelte ihn dabei offen und ehrlich an.

Das sorgte seltsamerweise dafür, dass er sich etwas entspannte. Doch bevor er antworten konnte, hob sie einen Finger und zeigte auf sein Gesicht. „Warte mal“, sagte sie, „du bist doch Anders, oder?“

Überrascht zog er eine Augenbraue hoch. „Ja“, antwortete er ehrlich verblüfft. Er hätte nicht gedacht, dass sie die Serie kannte. Dann erinnerte er sich an seine gute Kinderstube, die seine Eltern Vicky und Lance ihm versucht hatten zu vermitteln, und streckte ihr seine rechte Hand hin. „Dean, freut mich.“

Sie ergriff seine Hand mit den kurzen Finger und packte für ihre relativ zierliche Statur erstaunlich fest zu. „Denver“, erwiderte sie, dann zeigte sie auf die anderen Jungs. „Und das sind Johnny, Sam und Nick.“

Auch Johnny und Sam schüttelten ihm die Hand, dann boten sie ihm einen Platz und einen Schluck Tequila an, den er dankbar annahm. Auf den Schock war es vielleicht ganz gut etwas zu trinken. Der Mexikaner brannte angenehm in seiner Kehle und er spürte gleich, dass er sich weiter entspannte. Denver kletterte zu ihm auf das Sofa, während Sam auf dem Sessel Platz nahm, den die Sängerin zuvor in Anspruch genommen hatte. Johnny setzte sich neben Denver auf die Lehne.

Nun saß Dean Joe und Nick gegenüber, die auch Platz genommen hatten. Ziemlich eng saßen sie zusammen, Nicks linke Hand lag auf Joes Knie, während sie ihren Arm um seinen geschlungen hatte und etwas verloren mit seinen Fingern spielte. Sie vermied es, Dean direkt anzusehen, sondern zog es vor, ihre beste Freundin anzusprechen. „Seit wann seid ihr wieder im Lande?“, fragte die Designerin.

Johnny antwortete: „Seit gestern. Die Tour ist vor zwei Wochen zu Ende gegangen und wir haben die Gelegenheit genutzt, um uns ein bisschen St. Petersburg und danach Singapur anzugucken.“

„Und warum habt ihr nicht geschrieben?“

Die Frage hing in der Luft wie ein schlechtes Aftershave und Dean konnte merkten, dass sich Denver neben ihm etwas anspannte. Sie rutschte ein paar Mal auf dem Sofa hin und her, dann biss sie sich auf die Lippen. Sie war sich nicht sicher, ob sie das tatsächlich hier vor allen ansprechen sollte, besonders wo dieser fremde Schauspieler dabei war. Doch andererseits wusste hier jeder, um was es eigentlich ging. Hoffte sie zumindest. Vermutlich würde es für Dean ein kleiner Schock sein, doch größer als der, dass Joe und Nick so vertraut miteinander umgingen, konnte es kaum sein.

Also räusperte sie sich ein paar Mal, dann sagte sie: „Wir dachten, es wäre gut für dich, wenn du noch nicht weißt, dass wir wieder da sind. Du hast in deinen letzten Mails immer so zufrieden und glücklich geklungen, dass wir dachten, dass es ein Fehler wäre, dich wieder in unseren Dunstkreis zu ziehen.“

Das sonst so freundliche Gesicht der blonden Designerin verdunkelte sich. Sie zog ihre Augenbrauen zusammen, was ihr einen wütenden Ausdruck verlieh, den Dean noch nie an ihr gesehen hatte. „Glaubst du nicht“, sagte sie ruhig, „dass du das mir überlassen solltest zu entscheiden, was gut für mich ist und was nicht?“ Sie löste sich von Nick und stand vom Sofa auf. Ihre Arme zitterten leicht, das konnte gut erkennen. Gern hätte er sie jetzt einfach in den Arm genommen oder sie von hier weggebracht, doch in dieser Verfassung hatte er keine Ahnung, wie sie darauf reagieren würde. Also blieb er sitzen.

Es gab ein kurzes, stummes Kräftemessen der beiden Frauen, indem sie sich gegenseitig in die Augen starrten und darauf warteten, dass die andere zuerst blinzelte. Schließlich gab Denver nach, schlug die Augen nieder und lächelte, als sie Joe wieder ansah. „Du hast Recht, Süße!“ Sie streckte die Arme nach ihr aus. „Es tut mir Leid, okay? Aber jetzt sind wir ja wieder da! Und ich denke, heute ist ein guter Zeitpunkt, um die Vergangenheit zu feiern. Oder was denkst du?“ Sie griff sich die Tequila-Flasche, setzte sie an, trank einen großzügigen Schluck und reichte sie an Joe weiter.

Zu Deans Verblüffung nahm sie sie entgegen, setzte sie ebenfalls an und trank. Als sie die Flasche wieder absetzte, lächelte sie, als wäre es Wasser gewesen, das sie geschluckt hatte. Sie gab den Mexikaner an Johnny weiter. „Ja, ich denke, heute ist ein guter Tag zum Feiern.“

Wenig später war es dann endlich soweit und die Band musste auf die Bühne. Joe und Dean erhielten zwei VIP-Bändchen und wurden in den Party-Raum geschickt. Dabei kamen sie an einer Bildergalerie vorbei, die eine einfache Betonwand schmückte. Positiv überrascht blieb Dean vor einem der Fotos stehen, was in einen altmodischen goldenen Rahmen gefasst war. Joe, die damit nicht gerechnet hatte und hinter ihm ging, prallte gegen ihn. „Was zum…?“, begann sie, doch Dean unterbrach sie. „Guck mal“, sagte er und zeigte auf das Foto.

Dort abgelichtet war zweifellos die Bühne des Clubs, doch das Interieur sah anders aus. Und Joe wurde auch sofort klar, wieso. Dieses Bild musste mindestens zehn Jahre alt sein, wenn sie sich die drei Personen darauf ansah. Am linken Bildrand war so grade noch Peter Jackson zu erkennen, ziemlich rundlich und mit Vollbart, wie sie ihn von den früheren Premieren der Herr der Ringe-Trilogie kannte. Und im Zentrum des Bildes…

„Ist das etwa der Elb?“

„Ja“, antwortete sie ihm abwesend. Das war eindeutig Orlando. Und neben ihm musste seine Frau Teti stehen, wenn sie das flüchtige geistige Bild, was sie von ihr hatte, mit dem verglich, was sie vor sich sah.

Beide standen nebeneinander im Zentrum der Bühne. Orlando hatte seinen rechten Arm nach vorne ausgestreckt und Teti hatte ihre linke Hand auf seine gelegt. Gekleidet waren sie wie ein altägyptisches Königspaar mit allem, was dazu gehörte. Orlando trug sogar die  rotweiße Doppelkrone Ober- und Unterägyptens, die Joe von historischen Zeichnungen her kannte. Alles sah ziemlich authentisch aus. So sehr, dass die beiden in dieser modernen Umgebung total fehl am Platz wirkten.

„Und wen sollen sie darstellen?“, fragte Dean, der fasziniert auf die Details der Kostüme starrte. Dabei kniff er angestrengt die Augen zusammen, um mehr in der groben Körnung des Fotos erkennen zu können.

Immer noch tief in die Betrachtung versunken antwortete Joe automatisch. „Ramses und Nefertari“, sagte sie, doch bevor er sie fragen konnte, woher sie das wusste, erscholl der Lärm des Schlagzeuges aus dem Clubraum und kündigte das erste Lied von Denver Auckland an.

Schlagartig kehrte Joe in die Realität zurück. Ihr Mund verzog sich zu einem breiten Lächeln. Sie packte Dean am Handgelenk und zog ihn mit erstaunlich viel Kraft Richtung Bühne, wo sie sich genau vor die Absperrung platzierte. Gemeinsam mit etwa zweihundert Leuten begann sie zu kreischen, als Denver die Bühne betrat und die erste Zeile des Eröffnungssongs anstimmte.

Auch Dean ließ sich von der ausgelassenen Stimmung mitreißen. Ein paar der Lieder kannte er sogar, sodass er beim Refrain mitsingen konnte. Und die ganze Zeit über spürte er Joes Körper nah an seinem.

Das war nichts Ungewöhnliches im dichten Gewühl vor der Bühne, doch selbst wenn sie ab und zu mal Platz hatten, drängte sie sich an ihn, packte seine Arme und schlang sie sich selbst um den schlanken Körper. Dann bewegte sie sich im Takt der Musik und zwang ihn so dazu, sich ebenfalls mit zu bewegen.

Bei einem besonders langsamen Lied lehnte sie sich gegen ihn, sodass er sein Kinn auf ihrem Scheitel platzieren konnte. Das war eine neue Erfahrung für ihn, da die meisten Frauen, die er kannte, entweder größer oder genauso groß waren wie er. Dass er nun eine kannte, die im Verhältnis zu ihm quasi genau die richtige Größe hatte, machte sie ihm gleich noch mal sympathischer.

Als sie so aneinander standen und sich leicht hin und her wiegten, wehte ihm plötzlich ihr Duft in die Nase. Genüsslich atmete er das blumige Parfum gemischt mit ihrem Schweiß ein, schob sich dann noch etwas enger an sie und legte seine Wange seitlich über ihrem Ohr an ihren Kopf. Sanft strich er mit den Lippen über ihre Ohrmuschel. Dabei registrierte er zufrieden, wie sie unter der Berührung erschauderte.

Langsam drehte sie sich zu ihm um und sah ihm im Halbdunkeln tief in die Augen. Auf einmal war die Situation eben zwischen ihr und Nick vergessen. Alles war vergessen: Die vielen Menschen um sie herum, die Band auf der Bühne, ihre Schüchternheit und sogar die peinlichen Momente zwischen ihnen aus der Vergangenheit. Plötzlich gab es nur noch sie beide.

Wie in Zeitlupe kamen sich ihre Gesichter immer näher, bis sich ihre Nasenspitzen berührten. So verharrten sie einen Augenblick, atmeten den Geruch des anderen ein und spürten ihre Herzschläge. Sie wand sich in seiner Umarmung, bis sie Brust an Brust standen. Ihre dünnen Arme schlang sie um seinen Oberkörper, strich ihm dabei zärtlich über den Rücken. Er erwiderte die Berührung, dann senkte er den Kopf noch etwas weiter nach unten.

Automatisch drehte sie ihren Kopf etwas zur Seite, dann lagen seine Lippen auf ihren.

Ein Schauder überkam sie, als sie seinen weichen Mund auf ihrem spürte. Sein Bart kratzte ein wenig, doch es störte sie nicht. Stattdessen zeigte nun der zuvor genossene Alkohol seine Wirkung und sie wurde mutiger. Sie öffnete ihre Lippen und schob ihm ihre Zunge zwischen seine, bis sie an seine Zähne stieß. Er schmeckte nach Tequila und Lakritze, eine ziemlich ungewöhnliche aber aufregende Mischung, von der sie unbedingt noch mehr wollte.

Die Zeit verschwamm, als sie so zusammen standen und sich küssten, sich in den Armen hielten und dabei alles um sich herum vergessen hatten. Erst als jemand sie im Eifer des Gefechts anstieß und sie sich unfreiwillig voneinander trennten, schienen beide wieder zur Besinnung zu kommen.

Verwirrt blinzelte Joe ein paar Mal, dann glühten ihre Wagen in dem Wissen, was sie gerade getan hatten, auf und sie musste den Blick von ihm abwenden, weil sie es nicht ertragen konnte, ihm in diesem Moment in die Augen zu sehen.

„Nicht“, hörte sie ihn zwischen zwei Liedern gegen den Lärm anrufen und sie spürte, wie er ihr Gesicht in seine Hände nahm und sie so dazu zwang, ihm wieder in die Augen zu sehen. Es dauerte einen Moment, bis sie es tatsächlich schaffte, doch dann fand ihr Blick seinen. „Sieh‘ mich an“, formte er mit den Lippen, denn genau in diesem Moment schlug Matu wieder wie wild auf sein Schlagzeug ein und machte jede Unterhaltung unmöglich.

„Möchtest du gehen?“

Sie nickte stumm, schluckte ein paar Mal, dann warf sie noch einen Blick zurück auf die Bühne, doch die Band konnte sie im Gegenlicht der Scheinwerfer nicht sehen. Also nahm sie ihn entschlossen bei der Hand und führte ihn zum Ausgang. Dabei glaubte sie, für einen kurzen Augenblick das Gesicht von Teti hinten an der Bar ausgemacht zu haben, doch als sie ein zweites Mal hinsah, um sich zu vergewissern, hatte sich die Menschenmasse schon wieder verschoben und die Stelle an der Theke verdeckt, die sie in Augenschein hatte nehmen wollen.

Draußen vor dem Club atmete sie erleichtert die frische Luft ein. Mittlerweile war es hier leer. Keine Schlange stand mehr an, nur ein paar vereinzelte Raucher hatten sich hier eingefunden, um ihrer Sucht zu frönen.

Plötzliche fröstelte es sie und sie schlang sich die Arme um den Oberkörper, um sich zu wärmen.

„Wollen wir etwas trinken gehen?“, fragte Dean, der ihr gerne sein Hemd gegeben hätte, doch dann hätte er mit nacktem Oberkörper dagestanden. Stattdessen legte er ihr einen Arm um die Schultern und zog sie enger an sich, um sie mit seiner Körperwärme vor der kühlen Nachtluft zu schützen. Er spürte einen dünnen Schweißfilm auf ihrer nackten Haut.

Doch sie wollte nichts trinken gehen. Die Ereignisse heute hatten sie sehr mitgenommen und auf einmal fühlte sie sich unglaublich müde und erschöpft. Kraftlos ließ sie ihre Stirn gegen seine Brust sinken. „Nein“, sagte sie leise, „bring mich bitte nach Hause.“

Die Rückfahrt verlief still. Beide waren sehr in sich gekehrt und hingen ihren eigenen Gedanken nach. Joe dachte darüber nach, was passiert war. Nicht nur, dass Denver sie hatte bevormunden wollen, nein, auch Nick war plötzlich wieder da, in ihrer Reichweite, und sie wusste genau, was das für schlimme Folgen nach sich ziehen konnte.

Dean hingegen dachte über den Kuss nach. Es hatte sich so gut angefühlt und so richtig. Doch jetzt war sie wieder so anders. Dieses Wechselbad der Gefühle, was er mit ihr durchgemacht hatte in den letzten beiden Stunden machte ihn schier verrückt. Als er vor ihrem Haus ankam, atmete er einmal tief durch, dann sagte er entschlossen: „Was ist das zwischen uns?“

Auch sie atmete tief durch, biss sich auf die Unterlippe und blickte verhalten auf einen Punkt über seiner rechten Schulter. Sie wusste genau, dass er wollte, dass sie ihn ansah. Doch das konnte sie im Moment nicht. Sie konnte ihm auch keine Antwort auf diese Frage geben. „Ich weiß es nicht“, sagte sie ehrlich. Dabei klang sie, als würde sie jeden Augenblick anfangen zu weinen.

Das schlechte Gewissen kämpfte sich bei ihm an die Oberfläche, doch dieses Mal gewann er dagegen. Er rang es nieder, bis es wieder zurück in seinen Käfig musste. Heute würde er nicht nachgeben.

Entschlossen packte er ihre Hände, zog sie näher zu sich heran. Er wusste nicht so recht, wie er das sagen sollte, doch wenn er es nicht aussprach, würde er vermutlich platzen. Oder er würde einfach gehen, ohne es geklärt zu haben. Und das wollte er noch weniger. Also sagte er: „Bitte, Joe, ich kann das nicht mehr! Ich möchte wissen, was du für mich empfindest. Wenn du diesen Nick liebst, dann sag mir das. Aber lass mich bitte nicht mehr so in der Luft hängen.“

Tränen brannten ihr jäh in den Augenwinkeln. Ein fetter Kloß bildete sich in ihrem Hals, der ihr das Atmen schwer machte und sie nicht schlucken ließ. Ihr Herz hämmerte gegen ihren Brustkorb und ihre Handflächen wurden mit einem Mal ziemlich feucht. Was sollte sie ihm nur sagen?

Ein Schluchzer löste sich aus ihrer Kehle und sie musste sich zusammenreißen, dass sie nicht sofort in Tränen ausbrach. Diese Blöße wollte sie sich nicht geben, obwohl es eigentlich schon zu spät für Scham war.

Sie zwang sich dazu, sich zu entspannen. Wenn sie jetzt hysterisch wurde, half das niemandem. Als sich ihre Atmung wieder normalisiert hatte, schaffte sie es sogar Dean in die Augen zu sehen, als sie sagte: „Das Ganze ist nicht so leicht für mich. Nick, Denver, die Band – sie alle sind ein Teil meiner Vergangenheit, den ich nicht ignorieren kann. Sie haben mir durch schwere Zeiten geholfen und Nick war damals mein Fels in der Brandung, als ich ihn am dringendsten gebraucht habe. Wenn du wüsstest, was damals alles passiert ist, dann…“

Er unterbrach sie harsch. „Dann erzähl es mir! Ich kann dich nicht verstehen, wenn ich nicht alles von dir weiß.“

Unsicher sah sie ihn an. Sie wusste nicht, ob er aushalten würde, was sie zu berichten hatte, denn das war sicher kein Abschnitt ihres Lebens, auf den sie stolz war. Doch wenn er sie wirklich gern hatte, wenn er das wirklich alles von ihr wissen wollte, dann war es besser, dass er es von ihr selbst erfuhr als von jemand anderem.

Sie lehnte sich in den schmalen Autositz zurück, seufzte tief, dann begann sie zu erzählen. „Als meine Mutter damals gestorben ist, brach für mich eine Welt zusammen. Sie war die einzige Familie, die ich hatte. Meinen Vater habe ich nie kennengelernt und meine Großeltern waren schon vor meiner Geburt gestorben. Meine Mutter hatte keine Geschwister, keine besonders engen Freude, sodass ich in ein Heim gesteckt wurde.

Irgendwann hat mich eine Familie adoptiert, doch weil ich mich immer mehr in mich selbst zurückgezogen habe, konnte niemand wirklich zu mir durchdringen. Zwei Jahre wurde ich von einer Hand in die nächste gereicht und der einzige Bezugspunkt, den ich hatte, war Denver. Sie wurde zu einer Schwester für mich und wir haben alles zusammen gemacht. Sie war die Hübsche, Laute, ich dagegen das stille Mauerblümchen, das sich in ihrem Schatten versteckt hat. Doch als sie mit Johnny die Band gründete, habe ich Nick kennengelernt.“

Ihre Augen wurden leicht glasig und sie lächelte ein bisschen, als sie in den Erinnerungen an damals schwelgte. „Er hätte vermutlich jede an der Schule haben können, doch aus irgendeinem Grund, den vermutlich nur das Universum alleine kennt, hat er sich für mich entschieden.“ Sie machte eine kurze Pause, um in seinem Gesicht lesen zu können, wie er die Geschichte bisher auffasste, doch er bemühte sich offenbar sehr, ihr nicht zu zeigen, was er fühlte.

„Wir waren lange zusammen. Und mit ihm habe ich alle meine ersten Male erlebt: den ersten Kuss, den ersten Sex, den ersten Alkohol, die ersten Drogen.“

Nun reagierte Dean doch. Er riss die Augen auf und seine Augenbrauen wanderten hoch zu seinem Haaransatz. Aber er sagte nichts. Er wollte sie nicht unterbrechen.

Also fuhr sie fort. „Wir haben viel ausprobiert, haben viel Mist gebaut, doch irgendwie haben wir die Schule überstanden und ich hab mich für ein Design-Studium eingeschrieben. Doch da ich zu diesem Zeitpunkt volljährig geworden war und damit das Haus meiner Mutter nun offiziell alleine bewohnen durfte, gab es niemanden mehr, der noch ein Auge hätte auf mich werfen können. Das Jugendamt war damit aus dem Spiel und ich habe meine neue Freiheit ziemlich ausgekostet. So sehr, dass ich beinahe von der Uni geflogen wäre.

Es war Denver, die mich schließlich wieder auf die richtige Bahn lenkte. Sie und die Band wurden irgendwann entdeckt und die Beziehung zu Nick begann zu bröckeln. Er verbrachte immer mehr Zeit mit anderen Mädchen, kam abends nicht nach Hause oder roch nach fremdem Parfum. Eines Abends hat er mir dann eröffnet, dass er gehen würde.“

Wieder glitzerte eine Träne in ihren Augen, doch dieses Mal schämte sie sich nicht dafür. Sie ließ sie, wo sie war, und wischte sie auch nicht weg, als sie ihr die Wange herunterkullerte. Noch immer lauschte er ihr stumm, kämpfte dabei wieder gegen den Drang an, sie in den Arm zu nehmen und sie trösten. Doch sein Instinkt sagte ihm, dass sie dann aufhören würde zu erzählen.

„Die Zeit, die sie in Amerika zum Aufnehmen ihrer ersten richtigen Platte verbrachten, war vermutlich das Beste, was mir passieren konnte. Denn dadurch, dass sie alle gingen, war ich wieder mit mir alleine. Das war der Zeitpunkt, wo ich mich mit mir selber auseinandersetzen musste. Und irgendwie hab ich es auch geschafft mich am Riemen zu reißen. Ich hab mein Studium neu aufgegriffen und es abgeschlossen. Als Nick danach wieder nach Auckland zurückkam, war zwar noch immer etwas zwischen uns, doch wir beide gingen daraufhin mehr auf Abstand. Bis sie schließlich vor mehr als zwei Jahren zu dieser Tour aufbrachen.

Ich wusste, dass es besser war für mich, doch wir hatten nie einen endgültigen Schlussstrich gezogen. Ich habe nie wirklich mit dieser Beziehung abgeschlossen, konnte meine Gefühle nicht verarbeiten und mir nicht darüber klarwerden, ob ich noch etwas für ihn empfinde. Und dann bist du auf einmal da.“

Sie sah ihm direkt in die Augen. Er musste kurz schlucken, bevor er etwas sagen konnte. Doch sie legte ihm zart ihre Finger auf seine Lippen und entband ihn damit von einer Antwort.

„Ich kann dir nicht sagen, was ich für dich empfinde – noch nicht. Deswegen muss ich dich um etwas Bedenkzeit bitten.“ Sie nahm ihre Hand wieder zurück und versuchte sich an einem zaghaften Lächeln. „Kannst du das?“

Als er widerstrebend nickte, glaubte er zu hören, wie ihr ein ganzer Berghang des Mount Cook vom Herzen purzelte. „Danke!“, stieß sie erleichtert aus. Dann beugte sie sich vor, hauchte ihm einen salzigen Kuss auf die Lippen und stieg aus dem Auto aus. Sie warf einen letzten, tief dankbaren Blick zu ihm zurück, lächelte ihm noch einmal zu, dann drehte sie sich um und ließ ihn schon zum zweiten Mal seit sie sich kannten völlig verstört in seinem Wagen vor ihrem Haus zurück.

© by LilórienSilme 2015

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