LilórienSilme
~ Fanfiction-Autorin ~
Kapitel 38
~ Leben oder sterben
Der nächste Schritt, den wir zu tun hatten, fiel mir alles andere als leicht. Schon mit einem unguten Gefühl ging ich abends zu Bett. Ich schmiegte mich an meinen Gemahl, drückte mein Gesicht in seine Halsbeuge und sog seinen Duft ein. Automatisch legte er einen Arm um meine schmalen Schulter, zog mich näher zu sich heran und küsste mich auf den Scheitel.
Wir hatten nach Silmes Geburt nicht mehr miteinander geschlafen, weil mein Körper dafür noch nicht bereit zu sein schien. Doch jetzt hungerte ich nach seiner Berührung, wollte ihn spüren, schmecken und riechen.
Danach lag ich die ganze Nacht wach. Ich starrte an die Decke, versuchte meinen Magen zu beruhigen, der unaufhörlich grummelte und schmerzte, und lauschte auf Legolas’ flachen Atem. Ich wusste nicht, ob er ebenfalls so tat, als schliefe er, nur um mich nicht noch mehr zu beunruhigen, oder ob er tatsächlich Schlaf gefunden hatte, doch ich wagte es auch nicht, ihn anzusprechen, da ich fürchtete, ihn aus einem hoffentlich erholsamen Traum zu reißen.
Als es draußen dann langsam heller wurde, schlug ich die Decke zurück und schlüpfte aus dem Bett. Es hatte nicht aufgehört zu stürmen und es regnete weiterhin unaufhörlich. Sicher war der Boden bereits so weit aufgeweicht, dass die Ernte für dieses Jahr verdorben war. Die Pflanzen würden in diesen Wassermassen vermutlich innerhalb kürzester Zeit ersaufen.
Doch darüber konnte ich mir immer noch Gedanken machen, wenn wir wieder nach Valmar zurückkehrten – falls wir zurückkehrten.
Diese ganze Situation machte mich nicht gerade glücklich. Wenn ich gekonnt hätte, wäre ich vermutlich liebend gerne davon gelaufen und hätte die Valar um Hilfe gebeten. Doch ich wusste, dass sie mich nicht erhören würden. Sie konnten es nicht. Das einzige, was Varda noch hatte tun können, war ihre Vision an mich gewesen. Der Rest blieb, wie so oft schon, an mir alleine hängen.
Allerdings war ich dieses Mal nicht ganz alleine. Hatte ich im Ringkrieg noch alle Last der Welt alleine auf den Schultern getragen, gab es nun Elben, die mit mir mein Leid teilen konnten. Vermutlich war ich noch nicht einmal diejenige, die am meisten litt. Das war sehr wahrscheinlich der junge Sahîrim.
In seinem Gesicht konnte ich ablesen, dass auch er die letzte Nacht nicht geschlafen hatte, als ich ihn unten im Zimmer vor dem heruntergebrannten Kamin sitzend fand. Er stützte den Kopf in die Hände und starrte in die glimmende Glut. Er bemerkte mich erst, als ich ihm eine Hand auf die Schulter legte.
Sein Kopf fuhr herum und vermutlich hatte er jemand anderen erwartet, denn sein harter Blick wurde sogleich wieder weich und das Leid spiegelte sich in seinen blauen Augen wider. So sehr erinnerte er mich in diesem Moment an Frodo, der den Ring hatte um seinen Hals tragen müssen und damit schwerer getragen hatte, als jeder bisher in Mittelerde. Auch in diesem Leben war die Seele des Halblings nicht frei von solch einer Bürde.
Ich ließ mich neben ihn auf die Lehne des Sessels sinken, ließ meine Hand auf seiner Schulter zurück, um ihm Halt zu geben. „Wie geht es dir?“, fragte ich und erwartete schon ein unwilliges Schnauben von ihm zu hören und einen frechen Kommentar.
Doch er seufzte nur tief, stützte den Kopf wieder auf die Hände und starrte erneut in den Kamin. „Was soll ich Euch dazu sagen?“, stellte er mir eine Gegenfrage und ich musste zugeben, dass ich es selbst nicht wusste. Sonst hätte ich ihn sicherlich auch nicht gefragt und ihn damit behelligt.
„Ich weiß es nicht“, sagte ich daher wahrheitsgemäß. „Doch ich möchte, dass du weißt, dass du deine Gedanken mit mir teilen kannst, wenn du es möchtest.“ Er sah mich fragend an und ich sah die Skepsis in seinem Blick. „Ich weiß, dass ich nicht wissen kann, wie es in dir aussieht, worüber du dir Gedanken machst und was dich beschäftigt. Doch wisse, dass es eine Zeit in meinem Leben gab, da auch ich nicht wusste, was ich tun sollte.“
Erstaunt riss er die Augen auf. Und das erstaunte mich nun wiederum. „Ihr? Tatsächlich? Ich kann es mir beim besten Willen nicht vorstellen. Ihr erscheint immer als so selbstsicher und unbeugsam. Wie kann Euch etwas aus der Bahn werfen?“ Und da erzählte ich ihm von meinem Leben. Er hatte zwar Legolas’ und meine Liebesgeschichte gehört, doch das war die romantisch verklärte Version meiner Tochter gewesen. Ich berichtete ihm nun das, wie es sich aus meiner Sicht zugetragen hatte.
Als ich geendet hatte, schwieg er eine Weile. Es war noch immer dunkel draußen, doch vermutlich war inzwischen die Sonne aufgegangen, denn wir konnten nun die Wolkenumrisse besser erkennen als vorher. Ein Gefühl überkam mich in diesem Moment, ließ mir das Herz schwer werden und ich fragte mich, ob wir die Sonne überhaupt noch einmal aufgehen sehen würden.
Was würde passieren, wenn wir diesen Kampf verloren? Was geschah mit meiner Familie? Ich konnte doch meine Mädchen nicht einfach so zurück lassen. Besonders Silme brauchte mich noch sehr. Und auch meine anderen beiden liebten mich. Vermutlich würde Mîram an meinem Tod zugrunde gehen. Wie konnte ich da guten Gewissens in einen Krieg ziehen?
Die Antwort darauf gab ich mir selbst: weil ich sie nicht anders verteidigen konnte. Die Elben aus Valmar sahen mich als ihre Führerin an. Sie vertrauten mir, gehorchten dem, was ich sagte, und liebten mich. Wie hätte ich sie da alleine in die Schlacht ziehen lassen können? Wenn ich hier blieb, wie könnten sie mir dann noch vertrauen?
Zwar hatte ich eine Pflicht meiner Familie gegenüber, doch konnte ich diese Pflicht wirklich über das Wohl aller anderen stellen? Konnte ich es wagen, mich aus diesem Krieg herauszuhalten, der doch nur einzig und allein wegen mir geführt wurde?
Von oben hörte ich, wie Silme nach mir rief. Sie hatte vermutlich Hunger und musste gewickelt werden. Zu meinem Glück kümmerte sich Legolas sogleich um unseren kleinsten Schatz. So blieb mir noch etwas Zeit mit Sahîrim.
Er blickte mich nun wieder an und ich konnte in seinen Augen erkennen, dass er mich jetzt anders wahrnahm. Ich war nicht mehr die starke, unbeugsame Kriegerin für ihn, sondern er hatte meine Schwächen erkannt. Er hatte sie nicht mit eigenen Augen gesehen, doch es aus meinem Mund zu hören, war beinahe genauso gut. Ob er von da an mehr oder weniger Respekt für mich übrig hatte, vermochte ich jedoch nicht zu sagen. Ehrlich gesagt war es mir auch egal. Ich war nun einmal, wer ich war, zu wem ich durch das Leben gemacht worden war. Daran ließ sich nichts mehr ändern.
„Wirst du uns vertrauen, dass wir das Richtige tun?“, fragte ich ihn und er wandte sofort den Blick wieder ab. Er biss sich auf die Unterlippe, schluckte hart.
„Ich weiß, dass Ihr mit meinem Vater verhandeln wollt“, begann er. „Doch genauso weiß ich, dass mein Vater nicht mit sich verhandeln lässt. Am liebsten würde ich Euch sagen, dass Ihr Euch aus dem Krieg heraushalten sollt. Immerhin habt Ihr Kinder, um die Ihr Euch kümmern müsst. Doch ich kann das nicht alleine schaffen. Wenn ich meinem Vater alleine gegenübertrete, wird er mich als Verräter hinrichten. Auch wenn ich sein Sohn bin.“
Diese Nüchternheit, mit der er mir das ins Gesicht sagte, jagte mir einen Schauer über den Rücken. Ich musste erst ein paar Mal tief Luft holen, bevor ich in der Lage war, zu antworten. „Das kannst du nicht ernst meinen!“
Doch Sahîrim schnaubte nur verächtlich. „Ihr kennt Delos nicht. Auch wenn er mein Vater ist, weiß ich, wie grausam er sein kann. Vermutlich sogar besser, weil ich sein Sohn bin. Und er wird garantiert nicht davor zurückschrecken, mich für seine Pläne zu opfern. Er hat schon meine Mutter geopfert.“
„So etwas darfst du nicht sagen! Deine Mutter starb, weil sie euch beiden, dir und deinem Bruder, das Leben geschenkt hat.“
„Das ist es, was man uns erzählt hat.“ Sein Gesicht verdüsterte sich, als er mich von unten herauf ansah. „Doch wissen wir denn, wie es wirklich gewesen ist?“
Bevor ich ihm antworten konnte, hörte ich Schritte auf der Treppe und ich wusste, dass die Zeit des Redens nun vorbei war. Meine Älteste stand auf der untersten Stufe und sah uns beide ausdruckslos an. Sie trug eine alte Rüstung, die wir noch in den Trümmern des alten Teiles der Stadt gefunden hatten, und ich musste zugeben, dass es sehr gut an ihr aussah. Unter anderen Umständen wäre ich vielleicht sogar stolz auf sie gewesen, wenn sie erhobenen Schwertes in den Krieg gezogen wäre. Doch jetzt machte mich ihr Anblick eigentlich nur noch trauriger. Besonders als ich sah, was sie für mich auf dem Arm trug.
„Ich habe dir deine Kampfausrüstung mitgebracht, nana“, sagte sie und legte die Sachen auf einen Stuhl. Das Metall schabte über das harte Leder, was Erinnerungen an eine längst vergangene Zeit in mir wach rief.
Ich hatte versucht, Nefertirî aus dieser Schlacht herauszuhalten. Doch genauso gut hätte ich versuchen können, die Winde daran zu hindern, zu stürmen. Sie wollte ihre Familie begleiten. Und vor allem wollte sie Sahîrim zur Seite stehen, denn er würde mit mir gemeinsam als erstes vor Delos treten und mit ihm sprechen. Eine Diskussion war sinnlos gewesen am Abend zuvor.
Nun kam auch Legolas die Treppe herunter. Er trug seine Rüstung aus dem Zweiten Ringkrieg und ich musste schwer schlucken, als ich ihn so sah.
Vorsichtig legte er Silme in ihr Bettchen und kam zu mir herüber. „Es wird Zeit“, sagte er.
„Was machen wir denn mit Silme?“, fragte Nefertirî und ging zu ihrer kleinen Schwester hinüber. Sie beugte sich hinunter zu ihr, streichelte ihren goldenen Flaum, den sie wie eine Krone trug, und küsste sie darauf.
„Díhena wird sich um sie kümmern“, sagte Sahîrim und trat an seine Liebste heran. Allein seine Anwesenheit schien meine Tochter zu beruhigen, denn sofort sanken ihre angespannten Schultern herab und sie schmiegte sich bereitwillig in seine Umarmung. Hätte ich es nicht besser gewusst, hätte man sie für Silmes Eltern und sie alle drei für eine junge Familie halten können.
Nun legte auch ich meine Rüstung an. Sie passte mir nicht wie die aus Mittelerde, denn meine eigene Rüstung hatte ich damals mit meinen Waffen in Imladris zurück gelassen. Und dort lagen sie, so Tulkas und Orome es wollten, noch immer. Doch auch die fremde Panzerung würde ihren Zweck erfüllen.
Der Brustharnisch bestand aus mehreren Lederplatten, die in der Mitte mit Schnallen zusammen gehalten wurden und nach unten hin spitz zuliefen. An den Schlüsselbeinen ging es in separate Schulterpolster über, die mir ein wenig zu weit waren und daher leicht überdimensioniert wirkten, doch es war nicht unmöglich, mich damit zu bewegen. Darunter trug ich ein dickes Leder- und darunter ein Leinenhemd. Meine Armschienen waren aus Metall und über meine robuste Lederhose zog ich hohe Stiefel, die mir bis zu den Knien reichten.
Nefertirî trug dieselbe Rüstung, nur vermutlich etwas kleiner. Und auch Sahîrim war ähnlich gekleidet. So gaben wir ein einheitliches Bild ab, was vermutlich nicht gerade förderlich für die Verhandlungen mit Delos war. Doch ohne Schutz wollte ich niemanden gehen lassen.
Als Díhena schließlich von oben herunter kam, war die Zeit zum Aufbruch gekommen. Nun würde ich die Elben aus Valmar zusammenrufen müssen, um sie in einen Kampf zu führen. Schweren Herzens drückte ich meine Jüngste noch einmal an mich, küsste sie auf ihr zartes Köpfchen und eine Träne verfing sich in dem weichen Haarflaum. Ich wusste, dass meine Mutter über sie wachen würde, doch trotzdem fiel es mir nicht leicht, sie so kurz nach der Geburt zurück zu lassen. Vielleicht würde ich sie auch nie wieder sehen.
Ich schüttelte meinen Kopf, um diese düsteren Gedanken zu vertreiben, packte die Waffen, die ich mir damals, vor so langer Zeit, in den Trümmern gesucht hatte, und ging zur Tür heraus, bevor mich der Mut verlassen konnte.