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Kapitel 37

~ Letzte Fragen

 

Auf dem Marktplatz wurde es wieder still, als Delos ihn betrat. Carim hatte Mîram mittlerweile hierher gebracht, als er festgestellt hatte, dass sein Vater nicht zu Hause war. Aller Augen waren nun auf die beiden Jungelben gerichtet, als Delos, der Herr der Klippen, auf sie zukam. Seine dunklen Augen waren unergründlich, zeigen nichts von den Gefühlen, die in ihm tobten und drohten, seine Selbstbeherrschung einstürzen zu lassen.

 

Ohne ein Wort an seinen Sohn zu richten packte er dessen Handgelenk. Für alle Beteiligten mochte es wie eine Geste der Zärtlichkeit wirken, doch Carim spürte die Fingernägel, die sich in sein Fleisch bohrten, fühlte die Kraft, mit der Delos zupackte, und signalisierte ihm so mehr als er es durch Worte hätte tun können, dass er versagt hatte.

 

Sofort sank Carims Herz herab. Er konnte kaum atmen, ließ Mîram los, die er doch nicht hatte loslassen wollen, und fiel auf die Knie. Matsch stob um ihn herum auf, als er den Boden berührte. Er senkte den Kopf vor seinem Vater und weinte, was jedoch niemand durch den Regen hindurch bemerken konnte. Was hatte er nur falsch gemacht? Er wusste, dass er etwas falsch gemacht haben musste. Doch was hätte es sein können? Delia war sich doch so sicher gewesen. Und er auch. Wie hatte sein Plan nur misslingen können?

 

„Folgt mir.“ Delos‘ Stimme schnitt durch den Regen hindurch. Mîram versteifte sich bei ihrem Klang und kämpfte mit den Tränen. Was würde nun aus ihr werden? Was würde geschehen, wenn sie diesem Elb folgte? Würde er sie gleich exekutieren oder würde er sie wohlmöglich vorher einer grausamen Folter aussetzen?

 

Seine Stimme verriet nichts dergleichen, doch sie ahnte, dass die Selbstbeherrschung nur eine Fassade war. Innerlich kochte er vor Wut und sie wunderte sich, dass es niemand sonst zu bemerken schien. Oder wollten die anderen es vielleicht nur nicht sehen?

 

Als sie sich nun aufmerksam umblickte, erkannte sie, dass jeder einzelne, der hier versammelt war, Angst hatte. Doch sie hatten keine Angst vor einem bevorstehenden Krieg. Sie hatten Angst vor diesem Elb!

 

Sie konnte es ihnen nicht verdenken. Seine Augen waren so dunkel, dass es wirkte, als hätten sie gar keine Farbe. Genauso gut hätten es schwarze Höhlen sein können, die unendlich weit in die Berge hinein gingen, und in denen sich grausame Abscheulichkeiten verbargen, die weder Namen noch Eltern hatten. Und doch brannte in ihnen ein Feuer, heißer als es in einer Schmiede je brennen könnte.

 

Schwerfällig erhob sich Carim wieder, griff blindlings nach Mîrams Hand, die sie ihm bereitwillig entgegen streckte, und sie beide folgten Delos nun. Noch immer war kein Laut von den anderen Elben zu hören, nur der Regen sprach zu ihnen in einer Sprache, die niemand verstand.

 

Auf dem Weg zum Anwesend sagte keiner ein Wort. Schweigend liefen sie in einer Reihe: Delos voran, dann Carim, der Mîram noch immer hinter sich herzog. Delos hatte den Arm seines Sohnes mittlerweile losgelassen, doch die halbmondförmigen Mahle auf seinem Handgelenk zeugten noch von seiner roten Berührung. Der Hass, der in seinen Augen loderte, drang jedoch nicht nach außen. Er hatte für einen kurzen Moment seine Selbstbeherrschung verloren. Das würde ihm nicht noch einmal passieren.

 

Auch wenn es ihn rasend machte, dass sein Sohn so versagt hatte. Wieso nur hatte er nicht das getan, was er von ihm gewollt hatte? Waren seine Anweisungen nicht deutlich genug gewesen? Musste er, wenn er wollte, dass es richtig getan wurde, alles wirklich selbst machen?

 

Die Türe zu seinem Arbeitszimmer schloss sich leise hinter ihnen. Nun waren sie alleine. Das Haus war leer, selbst Nella war nicht hier. Delos hatte sie weggeschickt, etwas zu erledigen, nur damit er unbehelligt mit seinem Sohn sprechen konnte.

 

Doch vorher würde er sich des Mädchens annehmen. Sie war noch recht jung, hatte noch nicht das heiratsfähige Alter erreicht. Und doch war sie sehr schön. Sie hatte ein schmales ovales Gesicht, eine gerade Stupsnase, große hellblaue Augen und, was das Auffälligste an ihr war, silbernes Haar. Es war nicht das silberne Haar von weisen Elben, sondern das Silber eines Sterns, der am dunklen Firmament leuchtete; oder das Silber, was Fische auf ihren Schuppen trugen; das Glänzen von Metall.

 

Fasziniert berührte er eine Strähne, nahm sie zwischen die Finger und befühlte sie, als wollte er prüfen, dass sie echt war. „Wie heißt du, Mädchen?“

 

Mîram schluckte. Er hatte sie tatsächlich angesprochen. Und das mit einer Ruhe, die ihr Angst machte. Sollte sie antworten? Sollte sie schweigen? Würde ihn das herausfordern, ihr etwas zu tun? Sie war vor Furcht wie gelähmt, nicht einmal in der Lage, die Lippen zu bewegen und ihren Namen zu sagen. Sie versuchte es, doch ihre Kehle wollte keine Laute entlassen.

 

Stattdessen antwortete Carim für sie: „Ihr Name ist Mîram.“ Und wenn er gehofft hatte, dass dies ihm wieder die Aufmerksamkeit seines Vaters sichern würde, hatte er sich getäuscht. Delos tat, als hätte er ihn nicht gehört, und sprach weiter zu ihr, als hätte sie selbst ihm die Antwort auf seine Frage gegeben.

 

„Und wer bist du, Mîram?“

 

Wieder schluckte sie. Was bezweckte er mit dieser Frage? Was sollte es bedeuten? Und da sie nicht antwortete, präzisierte er seine Frage etwas. „Wer sind deine Eltern? Bist du hier in Valinor geboren worden? Wieso ist dein Haar so hell? Erzähl mir ein wenig über dich, Mädchen.“

 

„Warum?“ Ehe sie sich selbst aufhalten konnte, hatte ihre Zunge sich selbstständig gemacht. Als sie dieses eine Wort ausgesprochen hatte, bereute sie es auch sogleich schon wieder, und biss sich auf die Lippen.

 

Aber Delos lächelte nur. Es war ein freudloses Lächeln, was seine Augen nicht erreichte und ihn kein bisschen netter wirken ließ. Es verzerrte sein Gesicht zu einer Maske, die nicht mehr die geringste Ähnlichkeit mit dem Elb hatte, der vor ihr stand. Es war grausam und am liebsten wäre sie davon gelaufen. Doch noch immer ließen sich ihre Füße nicht bewegen. Außerdem hatte sie das ungute Gefühl, dass sie Carim nicht alleine lassen sollte.

 

Delos sagte: „Weil ich es wissen möchte, Mädchen. Ich möchte wissen, wer du bist, woher du kommst. Das würde mir vielleicht erklären, warum mein Sohn dich mitgebracht hat, anstatt des geforderten Ringes.“

 

Er sah Carim an, drückte ihn mit seinem Blich förmlich zu Boden und ließ ihn auf Insektengröße zusammen schrumpfen, sodass er ihn vermutlich spielend leicht hätte zertreten können. Doch Mîram hatte nur eine Sache aus seiner Rede herausgehört, und dieses eine Wort drehte sich nun in ihrem Kopf. „Ring? Welcher Ring? Doch nicht etwa der Ring meiner Mutter?“

 

Der Kopf des älteren Elb flog zu ihr. Hatten seine Augen Sekunden zuvor noch wie schwarze Löcher und sein Gesicht wie ein verschlossenes Tor gewirkt, konnte sie nun offene Begierde darin lesen. Es schien ihr fast, als verknüpften sich in seinem Kopf einzelne Stränge, die vorher noch lose herumgebaumelt waren. Hatte sie zu viel verraten?

 

„Der Ring deiner Mutter“, sagte er leise, mehr zu sich selbst als zu den beiden, die noch den Raum mit ihm teilten. „Dann ist sie also deine Mutter. Das ändert natürlich einiges.“ Langsam schritt er auf und ab, eine Hand hinter dem Rücken verschränkt, die andere an sein Kinn gelegt. Konnte das wirklich sein?

 

Er erinnerte sich an das einzige Bild, was er von mir hatte: ich, die den Taniquetil hinab stieg, mit dem Ring Caeya am Finger. Von Tarias hatte er damals erfahren, dass mein Name Lilórien war und dass ich den Ring von den Göttern erhalten hatte. Alles andere, meine Haarfarbe und meine Geschichte, hatte er später erfahren und sich sogar teilweise selbst zusammen gedichtet. Doch eines wusste er: noch nie hatte er eine junge Elbe mit solchen Haaren gesehen. Sie konnte nur meine Tochter sein.

 

Das wiederum lieferte ihm eine mögliche Erklärung, warum Carim ausgerechnet ein Mädchen entführt hatte und nicht den Ring mitgebracht hatte. Dass ich bereits Kinder hatte, konnte niemand wissen. In der Zeit nach seiner Verbannung hatte er zwar einen Spion nach Valmar geschickt, aber keinen Kontakt mehr zu ihm gehabt, da es wohlmöglich zu gefährlich gewesen wäre.

 

Dass mir meine Kinder wichtiger waren als Macht und dieser Ring, das konnte er sich zwar vorstellen, konnte es aber nicht richtig begreifen. Solch eine Liebe ging über sein Vorstellungsvermögen hinaus. Doch es erschien ihm durchaus logisch.

 

Wie also konnte er nun diese Gelegenheit zu seinen Gunsten drehen? Konnte er das Mädchen als Geisel behalten? Sollte er ihr vielleicht ein Ohr abschneiden, damit man ihm Glauben schenkte?

 

Diese Idee verwarf er sogleich wieder. Unversehrt war sie vermutlich mehr wert. Doch er würde sie einsetzen, denn sie war nun noch alles, was ihm blieb. Sein bester Kämpfer war offenbar desertiert und sein anderer Sohn war zur nichts nütze. Nicht einmal einen einfachen Befehl konnte er befolgen! Vielleicht hätte er ihm doch die Anweisung direkt geben sollen, und sie ihm nicht durch seinen Spion übermitteln lassen.

 

Er hörte, wie sich die beiden leise miteinander unterhielten, und es störte ihn. Unwirsch ging er dazwischen. „Carim, du wirst sie in die Ställe bringen und sie dort einsperren. Dann kommst du zu mir zurück und ziehst deine Rüstung an. Mittags reiten wir los. Solange wirst du dafür sorgen, dass sie nicht flieht und keine Dummheiten macht.“ Carim nickte, wollte schon gehen, doch Delos hielt ihn am Oberarm fest, packte hart zu und zwang ihn so, ihm in die Augen zu sehen. „Und auch du wirst keine Dummheiten machen. Haben wir uns verstanden?“

 

Carim hielt dem Blick seines Vaters nicht lange stand. Schon nach wenigen Augenblicken knickte er ein, senkte seinen Kopf und hauchte: „Ja, Vater.“ Daraufhin wurde er losgelassen und wäre beinahe gestolpert. Schnell sammelte er sich, packte nun seinerseits Mîram fest am Arm und führte sie nach draußen. Er brachte sie über den Hof zu den Ställen, suchte eine Eckbox aus, die leer stand, da alle Pferde bereits für den Kampf eingezogen worden waren, und schubste sie ins Stroh.

 

Sie fing sich schnell wieder, strich sich die zerzausten, nassen Haare aus dem Gesicht, entfernte ein paar Strohhalme daraus und sah ihn vorwurfsvoll von unten herauf an. Wie hatte er das nur zulassen können? Hatte er ihr nicht vor kurzem noch geschworen, dass Delos sie nie berühren würde? Nun, er hatte es trotzdem getan und Carim hatte nur daneben gestanden wie ein Feigling.

 

Das Wort, das sie nicht aussprach, ihn aber trotzdem aus ihrem Gesicht heraus anschrie, ließ ihn wieder zusammen sinken. Er wusste, was da vorhin passiert war, und er schämte sich auch dafür. Noch mehr, da sie ihn nun so ansah.

 

„Es tut mir leid“, flüsterte er, doch sie schnaubte nur. „Vergiss es!“, fauchte sie. „Verschwinde und vergiss nicht, die Türe hinter dir abzuschließen, damit dein Vater nicht böse mit dir wird.“ „Du weißt ja gar nicht wie das ist, sein Sohn zu sein!“

 

Einen Moment lang stutzte sie. Sie hatte nicht erwartet, dass ihn das so wütend machen würde. Vermutlich hatte sie damit einen Nerv getroffen. „Nein, das weiß ich wirklich nicht. Und es gut so, dass ich es nicht weiß. Doch du kannst doch nicht ernsthaft so weiterleben wollen, Carim. Er tut dir weh. Und leugne es nicht, denn ich habe es gesehen.“ Den letzten Satz fügte sie noch hinzu als sie merkte, dass er ihr widersprechen wollte.

 

Dann begriff er. Sie hielt ihn nicht für zu schwach. Sie hielt ihn nur nicht für selbstständige. Er hatte keine Zeile, wusste nicht, wofür er noch kämpfen sollte, wenn nicht für die Liebe seines Vaters. Doch die hatte er wohl heut endgültig verspielt. Auch wenn es den Anschein machte, als würde Delos noch seinen Nutzen aus dem missglückten Plan ziehen, die Lorbeeren dafür würde Carim nie sehen.

 

Völlig entkräftet und schwach ließ er sich auf deinen Eimer sinken, der neben der Boxentüre stand. Er stützte das Gesicht in die Hände und hätte am liebsten laut geschrien. Das alles war so schrecklich! Wäre doch nur sein Bruder noch hier. Der wusste, was zu tun war. Oder vielleicht sogar seine Mutter. Sie hätte Delos vermutlich im Zaum halten können. Er wäre sogar glücklich gewesen, wenn Díhena hier aufgetaucht wäre. Doch die alte Elbe war verschwunden, genauso wie Sahîrim. Nun war er ganz alleine.

 

Er warf einen kurzen Blick auf das Mädchen, das zu seinen Füßen im Stroh lag und revidierte seine Aussage. Er war nicht mehr alleine. Und er hatte etwas, wofür es sich zu kämpfen lohnte: Mîram.

 

Er ließ die Hände wieder sinken, stützte sich auf die Knie und sah sie herausfordernd an. Sofort bemerkte sie, dass sich etwas in ihm verändert hatte. Es war die Art, wie er sie ansah und wie sie sich selbst plötzlich fühlte, als er sie so ansah. Sie mochte ihn, das wurde ihr nun klar.

 

„Was also sollte ich deiner Meinung nach tun?“, fragte er. Sie antwortete mit einem verschmitzten Lächeln.

© by LilórienSilme 2015

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