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Kapitel 36

~ Entsetzen

 

Der Ritt nach Valmar hatte mehr Zeit in Anspruch genommen, als Nefertirî und Sahîrim geplant hatten. Doch sie erreichten die Stadt noch, bevor der Sturm losbrach. Heftige Winde fegten über die Dächer hinweg, rissen ganze Äste von den Bäumen und schleuderten sie auf den Boden. Danach setzte der Regen ein.

 

Nass bis auf die Knochen erreichten sie schließlich unser Haus. Zögerlich stand meine Tochter nun vor der Türe, hatte die Hand bereits zum Klopfen erhoben und ließ sie doch wieder sinken. Sie war tagelang fort gewesen, hatte sich in der Nacht aus ihrem Bett geschlichen und war fortgelaufen. Was würde sie erwarten, wenn sie nun wieder Heim kehrte? Würden wir sie ausschimpfen, sie wohlmöglich sogar verstoßen oder sie und Sahîrim voneinander trennen?

 

„Was ist?“, fragte er, trat von hinten an sie heran und sah ihr in die Augen. „Hast du Angst, sie könnten dich direkt in dein Zimmer sperren?“ Eigentlich hatte er erwartet, dass sie darüber lachen würde, doch sie machte nur ein finsteres Gesicht und schob ihn bei Seite. Dann klopfte sie entschlossen.

 

Es dauerte eine Weile, bis wir uns drinnen regten. Wir hatten die ganze Zeit darauf gehofft, dass sich alles als entsetzlicher Irrtum herausstellen würde, doch meine Kinder waren verschwunden geblieben und mit ihnen Sahîrim. Was in dieser Nacht passiert war, konnten wir immer noch nicht begreifen und die Angst schnürte mir immer noch die Kehle zu und raubte mir den Schlaf.

 

Als Legolas allerdings die Türe schließlich öffnete und ein lautes Keuchen ausstieß, riss mich das aus meiner Lethargie. Ich hatte Silme aus ihrem Bett geholt und gefüttert. Jetzt drückte ich sie schützend an mich, da ich nicht wissen konnte, was nun auf uns zukam. Doch dann sah ich das leuchtend silberne Haar meiner Tochter, was sich grell gegen den immer dunkler werdenden Himmel abhob und vom Wind durch den Türrahmen geweht wurden.

 

Ich musste mich zusammennehmen, dass ich mein jüngstes Kind nicht vor Schreck fallen ließ. So zwang ich mich zur Ruhe, presste Silme noch enger an meine Brust und erhob mich sehr langsam.

 

Wie in Trance ging ich auf die Türe zu, in der ich nun nicht nur mehr Legolas und Nefertirî sah, sondern auch Sahîrim, und einen verrückten Augenblick lag glaubte ich auch Mîram zu sehen. Doch ihr Bild wurde durch das einer älteren Elbe verdrängt, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. „Was…?“, brachte Legolas noch hervor, bevor seine Älteste ihm in die Arme fiel und sich schluchzend an seiner Schultern festklammerte.

 

Verwirrt blickte er einen Augenblick auf sie herab, dann gewann seine Vaterliebe die Oberhand und er drückte sie an sich, streichelte ihr zerzaustes Haar und hauchte einen Kuss auf ihren Scheitel. „Colmean-nîn“, flüsterte er, was Nefertirî nur noch mehr zum Weinen brachte.

 

„Es tut mir so leid“, sagte sie schließlich, nachdem sie sich die Tränen getrocknet hatte und mich und Legolas abwechselnd ansah. „Ich hätte nicht fortlaufen sollen.“

 

„Da hast du völlig Recht!“, sagte ich. Dabei sah ich sie beinahe wütend an, zog meine Augenbrauen zusammen und ließ meine Lippen zu einer dünnen Linie werden. Meine Tochter erschreckte es jedoch so sehr, dass sie gleich wieder anfing zu weinen. Und das erweichte schließlich mein Herz. Ich legte Silme sanft auf dem Sessel ab, auf dem ich soeben noch gesessen hatte, und breitete die Arme aus. Nefertirî stürzte sich sofort hinein.

 

Immer wieder flüsterte sie, dass es ihr leid täte, schaffte es jedoch kaum unter den Schluchzern klare Sätze zu formulieren, bis ich mich mit ihr auf den Boden sinken ließ und sie in meinen Armen wiegte, als wäre sie noch ein kleines Baby.

 

Dieser vollständig aufgelöste Eindruck meiner Tochter brach mir beinahe das Herz. Es war so schlimm, dass mein ganzen Ärger und die Sorgen, die ich mir gemacht hatte, als ich sie nicht in ihrem Bett vorfand, mit einem Mal verflogen und ich nur noch glücklich war, sie wiederzuhaben. So sehr, dass es mir selbst die Tränen in die Augen trieb.

 

Nach einer Weile, in der wir so dagesessen hatten, erinnerte ich mich plötzlich wieder an den fremden Gast vor unserer Türe. Sahîrim hatte sie bereits herein gebeten und das Unwetter wieder ausgesperrt. Schüchtern stand er nun neben dem Eingang, während Legolas unser jüngstes Kind auf den Arm genommen hatte und sie beruhigend hin und her schaukelte. Ich ließ Nefertirî los und erhob mich mit ihr. Sie wollte gleich zu Sahîrim zurückkehren, doch ich hielt ihre Hand fest, zwang sie dazu, an meiner Seite stehen zu bleiben. Bevor hier wieder irgendetwas aus dem Ruder lief, wollte ich wissen, was passiert war.

 

Sahîrim räusperte sich schüchtern auf meine Frage hin und trat von einem Fuß auf den anderen. Er wusste scheinbar nicht so recht, wo er beginnen sollte und was er alles erzählen konnte.

 

Diese Entscheidung nahm ihm jedoch die Fremde ab. Sie trat einen Schritt vor ihn, als würde sie ihn vor uns beschützen wollen, und schob ihn hinter ihren Rücken. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, dann hätte ich vermutet, dass sie seine Mutter war. Doch wir wussten, dass Milui tot war. Außerdem besaßen die beiden keinerlei Ähnlichkeit miteinander.

 

„Mein Name ist Díhena“, sagte die Alte nun und deutete einen Knicks an. „Ich war die Amme des jungen Herrn Sahîrim und seines Bruders Carim, und ich stand in den Diensten des Herrn Delos o Ífrin.“

 

„Und in wessen Diensten stehst du nun?“, fragte Legolas. Die Alte schüttelte den Kopf. „Nun stehe ich nur noch in meinen Diensten.“ Und sie erzählte uns ihre Geschichte; wie sie Delos damals aufgesucht und ihm ihre Hilfe angeboten hatte, sich um seine beiden Kinder zu kümmern; wie das Dorf auf den Klippen gewachsen war; von der Grausamkeit ihres Herrn bei der Erziehung seiner Kinder; von Sahîrims und Carims Kindheit; und schließlich von dem Plan, den Delos hatte, Valmar zu zerstören.

 

Entsetzt ließ ich mich wieder zurück in meinen Sessel sinken. Legolas hielt noch immer Silme im Arm und Nefertirî hatte sich in Sahîrims Arme geflüchtet. Meine Augen suchten seine, ich blickte in das Gesicht, das mir so vertraut war und gleichzeitig so fremd. Es war immer noch seltsam, in dem jungen Elb die Züge des Halblings zu erkennen, den wir auf seiner Fahrt begleitet und mit dem Leben beschützt hatten. „Ist das wahr?“

 

Sahîrim seufzte tief. Ich konnte ihm ansehen, dass es stimmte, dass Díhena sich nicht irgendwelche düsteren Geschichten ausgedacht hatte. Und doch wollte mein Verstand es nicht verarbeiten. Das konnte nicht sein.

 

Und doch musste es wahr sein. Immerhin hatte mich selbst Varda vor einem bevorstehenden Krieg gewarnt. Doch wieso?

 

„Mein Vater ist zerfressen von Hass und Rache“, sagte er. „Er gibt Euch die Schuld an dem Tod meiner Mutter. Deswegen will er Euch und die ganze Stadt vernichten. Weil Ihr mit der Gunst der Götter gesegnet seid.“ Zögerlich deutete er auf den Ring an meinem Finger und wie als Antwort leuchtete Caeya kurz auf. Konnte das der Grund sein?

 

Entschlossen erhob ich mich. „Das ist doch blanker Unsinn!“, rief ich. „Ich bin nicht gesegnet worden. Sie haben mich erwählt, die Führung zu übernehmen, obwohl ich es nicht wollte. Ich habe das alles nicht gewollt!“ Jedes meiner Worte in diesem letzten Satz betonte ich bestimmt und unterstrich das alles mit einem Schlag meiner Faust in meine Handfläche.

 

„Und doch besitzt Ihr das alles, nicht wahr?“ Seine Stimme war ruhig geblieben, er hatte sie nicht ein bisschen erhoben, und doch schnitt sie durch die Luft wie die schärfste Klinge. „Auch der Hungernde beneidet den Bäcker, obwohl er das Brot nur backt und nicht selbst isst. Doch er hält es in den Händen und kann bestimmen, was damit geschieht.“

 

„Das mag dir vielleicht so vorkommen“, sagte ich verbittert, „doch Macht ist eine seltsame Sache. Diejenigen, die sich nach ihr sehnen, werden sie nie erhalten. Und die, die sie haben, wollen sie nicht.“

 

„Dann mag das der Grund sein, warum Ihr von den Göttern gesegnet wurdet, und nicht mein Vater. Aber umstimmen wird ihn das nicht. Es wird zu diesem Krieg kommen. Ob Ihr es wollt, oder nicht.“

 

Ein freudloses Grinsen bildete sich auf meinem Gesicht und ich sah Legolas bedeutungsvoll an. „Kommt dir das nicht auch bekannt vor?“, fragte ich und auch er musste lächeln. Er nickte und sagte: „In der Tat. Und ich weiß noch so genau, als wäre es erst gestern gewesen, was danach geschah.“

 

Nun war ich es, die nickte. Mein Gesicht verdüsterte sich, als ich daran dachte. Wir hatten diese Unterhaltung vor der Schlacht von Helms Klamm geführt, hatten mit dem König der Mark, Théoden, Tengels Sohn, diskutiert und schließlich gewonnen. Dieses Mal vertrat ich jedoch den Standpunkt, den Théoden damals vertreten hatte. Ich wollte nicht kämpfen, wollte eine Auseinandersetzung um jeden Preis vermeiden. Doch vermutlich würde der Kampf wieder unausweichlich sein – ganz wie damals.

 

„Erzähl mir alles, was du weißt, Sahîrim“, bat ich ihn und er tat mir den Gefallen. Wir setzten uns nun gemeinsam an unseren großen Tisch, während Legolas das Baby im Arm hielt, brachte ich jedem etwas zu trinken. Essen konnten wir alle nichts, dafür waren unsere Mägen in diesem Moment zu schwach.

 

Doch als er geendet hatte, konnte ich mir ein Bild von Delos machen, dem ich bisher noch nicht von Angesicht zu Angesicht gegenüber gestanden hatte. Einschätzen konnte ich ihn aber nicht. Wie würde er also reagieren, wenn ich vor ihn treten würde, um mit ihm zu verhandeln? Würde er sich gleich auf mich stürzen, wenn er tatsächlich so von Hass zerfressen war wie Sahîrim sagte? Würde er mich gar nicht erst zu Wort kommen lassen, sondern mir direkt aus der Entfernung einen Pfeil durch mein Herz jagen?

 

Noch vor ein paar Jahrzehnten hätte ich diese Vorstellung gar nicht so abstoßend gefunden, sondern den Tod vielleicht sogar wie einen alten Freund begrüßt. Jetzt jedoch hatte ich eine Familie, für die es sich zu kämpfen lohnte. Und ich würde alles tun, um sie vor jedem Übel zu beschützen. Selbst wenn es mich selbst zu einem Mörder machen würde, ich würde nicht zulassen, dass einer meiner Töchter etwas geschah.

 

Entschlossen erhob ich mich von meinem Platz. „Nun gut“, sagte ich. „Die Zeit scheint gekommen zu sein, da wir gemeinsam Schwerter ziehen. Und wer weiß, vielleicht werden wir sogar siegreich aus dieser Schlacht hervorgehen. Denn sollte das so sein“, ich unterbrach mich selbst und schritt auf meine Älteste und Sahîrim zu, nahm ihre beiden ineinander verschlungenen Hände und nahm sie in meine, „dann habt ihr beide meinen Segen, zusammen zu sein.“

 

Nefertirî blickte völlig erstaunt in meine Augen und ihr Mund klappte auf. Ich weiß nicht, was sie erwartet hatte, doch das schien es in keinem Fall gewesen zu sein. „Aber…“, begann sie, doch ich hob eine Hand und brachte sie damit zum Schweigen.

 

„Sei still, sonst überlege ich es mir vielleicht noch anders“, sagte ich und zwinkerte ihr zu. „Ich möchte, dass du glücklich bist. Und wenn er derjenige ist, der dich glücklich macht, dann soll es mir egal sein, welches Blut in seinen Adern fließt. Die Rose würde noch genauso schön duften, wenn wir sie Distel nennen würden.“

 

Sahîrim machte abwechselnd den Mund auf und zu, als wenn er etwas sagen wollte, aber nicht die richtigen Worte finden konnte. Endlich schien er sich zu besinnen und sagte: „Ich danke Euch, Herrin.“ Er ließ die Hand meiner Tochter los und neigte den Kopf vor mir. Doch ich legte eine Hand unter sein Kind und zwang ihn dazu mich anzusehen. „Ich bin nicht deine Herrin, sondern deine Schwiegermutter. Und ich kann nur hoffen, dass du meine Tochter sehr glücklich machen wirst. Denn sonst muss ich mir das vielleicht doch noch einmal anders überlegen.“

 

Nun sagte auch Díhena etwas, die die restliche Zeit, seid sie ihre Geschichte beendet hatte, still dagesessen und alles beobachtet hatte. Auf ihrem faltigen Gesicht lag ein ehrliches Lächeln, was sie gleich viel jünger erschienen ließ, und ich konnte mir vorstellen, dass vielleicht Delos’ harte Hand sie vor der Zeit hatte altern lassen. Für sie hoffte ich ebenfalls, dass wir diesen Kampf gewinnen würden. Denn so waren ihr möglicherweise noch ein paar Jahre vergönnt, die sie in Frieden verbringen konnte.

 

„Es freut mich“, sagte sie, „dass es bei all den schlechten Neuigkeiten doch noch etwas Gutes zu verkünden gibt. In solchen Zeiten ist es wichtig, dass man weiß, wofür man einsteht.“

 

Bei diesen Worten wurde Sahîrim wieder traurig. Er ließ Nefertirîs Hand los, ging ans Fenster und blickte in den Regen hinaus, der mittlerweile stark an die Scheiben trommelte. Draußen war es ganz dunkel geworden, die dicken Sturmwolken bauschten sich auf, veränderten ihre Form und entluden ihre schwere Fracht über uns. Eilig liefen noch Elben über die Straße, die Hände über dem Kopf gekreuzt, um sich vor den umherwirbelnden Ästen und dem prasselnden Wasser zu schützen.

 

Ich konnte mir vorstellen, dass sein Gewissen ihn quälte. Immerhin war es sein Vater, den wir hier gerade mehr oder weniger zum Tode verurteilten. Wohlmöglich würde er sich sein ganzes restliches Leben Vorwürfe darüber machen, wenn er gegen ihn das Schwert zog.

 

Andererseits glaubte er jedoch, dass wir Recht hatten. Es war Unrecht, was Delos getan hatte. Doch verdiente er deswegen gleich zu sterben?

 

Etwas zögerlich trat ich von hinten an ihn heran. Vielleicht lag es an Caeya, dass ich spüren konnte, was in ihm vorging. Vielleicht war es jedoch noch ein Überbleibsel der Gabe meiner Mutter. Ich weiß es nicht, doch ich konnte deutlich fühlen, welchem Konflikt er ausgesetzt war. Es war beinahe so, als könnte ich sehen, wie es ihn innerlich zerriss.

 

Vorsichtig legte ich meine Hände auf seine Schultern und es kam mir vor, als beugte er sich bereits unter dieser einfachen Last. Er stieß ein tiefes Seufzen aus. „Es tut mir leid“, flüsterte ich, sodass nur er es hören konnte, „dass ich dich in solch eine schwere Situation bringe. Nicht mal ich kann mir ausmalen, wie schwer es für dich sein muss. Und ich möchte auch in gar keinen Fall für dich entscheiden, welchen Weg zu gehen sollst.“

 

Er drehte sich langsam zu mir um, sah mich mit diesen riesigen blauen Augen verzweifelt an, während seine Unterlippe ganz leicht zitterte. „Wenn du dich deinem Vater anschließen willst“, fuhr ich fort, „steht dir das frei. Ich weiß, was Familie einem bedeuten kann. Doch vielleicht solltest du auch bedenken“, sagte ich und drehte ihn mit einem Ruck in Nefertirîs Richtung, „dass es etwas Neues für dich gibt, dass dein Vater zwar deine Vergangenheit ist, die dich zu dem gemacht hat, was du bist, hier aber deine Zukunft auf dich wartet.“

 

Mit sanfter Gewalt schob ich ihn zu meiner Tochter hin. Traurig, aber glücklich, schloss sie ihn in ihre Arme, legte seinen Kopf an ihre Schulter und streichelte sein langes braunes Haar.

 

Natürlich war es nicht fair von mir, ihn vor diese Wahl zu stellen. Doch sollte er sich für seinen Vater und gegen uns entscheiden, würde das meiner Tochter das Herz brechen. Und ich würde nie zulassen, dass sie das gleiche Leid erfahren musste, wie es hatte erdulden müssen. Eher würde ich sterben.

 

 

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Übersetzung:

 

colmean-nîn=mein Goldschatz

Delos o Ífrin=Delos von den Klippen

© by LilórienSilme 2015

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