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Kapitel 35

~ Die falsche Beute

 

Für Mîram war es die Hölle. Die Angst, zu Delos gebracht zu werden, raubte ihr den Schlaf. Sie konnte kaum atmen, geschweige denn etwas essen. Ihr Magen krampfte sich zusammen, sobald sie nur daran dachte, und sie begann unkontrolliert zu zittern.

 

Carim kämpfte mit sich. Wieso hatte er ihr nur erzählt, wo sie hinritten? Hätte er sie doch nur im Dunkeln gelassen, bis es zu spät war. Nun würde sie vermutlich vorher vor Angst vergehen, bevor er sie bei seinem Vater abliefern konnte. Und dann wäre seine Mission völlig umsonst gewesen. Er hätte sich für Nichts in Gefahr begeben, hätte umsonst ein Mädchen entführt und sie damit dem Tod überantwortet.

 

Nun bekam auch er es mit der Angst zu tun. Was wäre, wenn sie wirklich sterben würde? Dann wäre es seine Schuld. Er hätte ihr Leben genommen, wenn auch nicht durch seine eigene Hand, dann doch durch sein Handeln, was nicht minder schlimm war. Wie konnte er so etwas nur zulassen?

 

Schützend legte er seine Arme um sie und zog sie vorsichtig noch näher zu sich heran. Sie versteifte sich unwillkürlich, hatte aber keine Chance, ihm zu entkommen, und wagte auch nicht, sich gegen ihn zu stellen, weil sie Angst hatte.

 

Nachdem er mit ihr gesprochen hatte, hatte er sie aus ihrem Gefängnis befreit und vor sich aufs Pferd gesetzt. Er machte sich nun keine Sorgen mehr, dass sie weglaufen könnte. Dazu hatte sie kaum noch die Kraft. Ihre Tränen hatten ihre Stärke scheinbar aufgesaugt, ihr Selbstbewusstsein geraubt und sie bewegungsunfähig gemacht.

 

Steif lag sie nun an ihn gelehnt, wie gelähmt vor Angst, und er konnte spüren, wie ihre Tränen sein Hemd durchnässten.

 

Ein gewaltiger Kloß bildete sich in seinem Hals. War er wirklich so grausam, dass er ein kleines Mädchen gegen seinen Willen einem ungewissen Schicksal entgegen brachte?

 

Doch dann tauchte das Bild seines Vaters vor seinem inneren Auge auf, wie er ihn mit einem höhnischen Blick musterte und ihn einen Versager nannte, weil er nicht einmal diese einfache Aufgabe hatte ausführen können. Und Carim hatte es satt, der Versager zu sein. Er wollte nicht mehr der schwache Sohn sein, sondern der starke. Er wollte, dass sein Vater stolz auf ihn war und endlich ihn und nicht mehr Sahîrim bevorzugte. Und da sein Bruder Verrat begangen hatte, würde es ein Leichtes sein, seinen Platz einzunehmen.

 

Mîrams Schluchzer holten ihn wieder in die Realität zurück. Die steilen Falten, die sich zwischen seinen Augen gebildet hatten, glätteten sich wieder als er von der Seite in ihr Gesicht sah. Sie war so wunderschön, so zierlich und zerbrechlich, dass es ihm beinahe den Atem raubte. Automatisch wanderte seine linke Hand, die, die nicht die Zügel hielt, nach oben zu ihren Haaren und strich über die seidige Weichheit.

 

Seine Berührung ließ ihren Rücken noch steifer wirken. Sie drückte ihn durch, bis sie das Gefühl hatte, gleich durchbrechen zu müssen. Doch gemeinsam auf dem Pferd sitzend konnte sie ihm nicht entkommen. Sie richtete sich also wieder auf und sah ihn aus verquollenen Augen anschuldigend an. Noch immer konnte er das Meer in ihnen sehen, so blau waren sie. Es war, als hätte er nie etwas anderes gewollt, als in ihre Augen zu blicken, die so unergründlich und tief waren wie die See.

 

Er drückte sie noch fester an sich, legte sein Gesicht auf ihren Scheitel und genoss das Gefühl, bei ihr zu sein. Er wusste noch nicht einmal, woher dieses Gefühl kam, doch wenn er bei ihr war, dann fühlte er sich plötzlich schuldig für alles, was er in den letzten Tagen getan hatte. Und er hatte das Verlangen, ein besserer Mensch zu sein, hatte aber auf der anderen Seite keine Ahnung, wie er das hätte anstellen sollen. Es war, als zeige sie ihm einen Weg auf, der noch im Nebel verborgen lag.

 

Verwirrt ließ er endlich von ihr ab und schüttelte den Kopf. So etwas hatte er noch nie gefühlt und es machte ihn unsicher. Woher kamen diese Gefühle und was hatten sie zu bedeuten?

 

„Warum tust du das alles?“ Ihre leise, aber doch auf eine Art feste, Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Irritiert sah er sie an, weil er ihre Worte zuerst nicht begreifen konnte. „Ich kann in deinen Augen sehen, dass du das alles gar nicht willst. Wieso tust du es trotzdem?“

 

Es dauerte eine Weile, in der sie sich nur stumm ansahen, ein Blickduell ausfochten, dann straffte er sich, richtete sich gerade auf und zwang sie so, wieder nach vorne zu sehen. „Das geht dich nichts an“, sagte er kalt und fixierte dabei einen Punkt in der Ferne.

 

Sie schnaubte. „Wir sitzen gemeinsam auf diesem Pferd und reiten in dieselbe Richtung. Ich denke doch, dass es mich etwas angeht.“

 

Entnervt riss er an den Zügeln und brachte das Pferd somit zum Stehen. „Hör zu“, begann er, „ich habe dir bereist zu viel verraten. Eigentlich hätte ich dich ungewiss in dein Schicksal führen müssen. Doch dazu ist es jetzt zu spät. Allerdings bedeutet meine anfängliche Freundlichkeit nicht, dass es nun bis zu unserem Ziel so weiter geht. Daher bitte ich dich, nicht weiter zu fragen und es hinzunehmen, wie es ist. Es erspart uns beiden viel Ärger.“

 

Trotz blitzte nun in ihren Augen auf und ihre Tränen versiegten für einen Moment. „Und was passiert, wenn ich es nicht tue?“

 

Er war bemüht, die Fassade des kalten Entführers zumindest für diesen Augenblick aufrecht zu erhalten. Deswegen verzog er den Mund zu einem freudlosen Lächeln, was ihr eine Gänsehaut über den Rücken jagte. „Wenn nicht, muss ich dich leider wieder fesseln und dich auch knebeln, damit du endlich den Mund hältst.“ Wütend starrte er sie an. „Also, sei besser still, Kleines.“

 

Er wusste nicht einmal, wieso er plötzlich so zornig war. Eigentlich hatte sie ihm nichts getan. Und doch schien sie etwas in ihrem zu rühren, eine gute Seite in ihm zu wecken, die er mit aller Macht versuchte zu unterdrücken. Er wollte nicht mehr der brave, schwache Carim sein, der noch vor ein paar Tagen aus dem Haus seines Vaters geflohen war, weil er dessen Kaltherzigkeit nicht mehr ertragen konnte.

 

„Das bist du nicht.“ Mîrams Stimme riss ihn aus seinen Gedanken, als hätten sie ebenjene gelesen, und kurz überlegte er, ob er vielleicht laut gedacht haben könnte. Doch ihr Blick war weiterhin starr nach vorne gerichtet und sie machte keinen Anschein, als habe er ihr irgendwelche Geheimnisse anvertraut. Und trotzdem hatte er das Gefühl, sie habe seine Gefühle erraten.

 

Es dauerte zwei Wimpernschläge, dann hatte er sich wieder unter Kontrolle. „Was soll das heißen?“

 

Wieder drehte sie sich zu ihm um und sah ihm in die Augen. Sofort breitete sich ein warmes Gefühl in seiner Brust aus und ließ seinen Magen kribbeln. „Das ist doch alles nicht das, was du tun willst. Und doch tust du es. Wieso?“

 

Tonlos antwortete er: „Sieh gefälligst nach vorne und stell nicht solche dummen Fragen. Ich habe dir schon einmal gesagt, dass dich das nichts angeht. Du kennst mich nicht.“

 

Ungerührt seiner Worte wandte sie sich wieder nach vorne, obwohl ihr nichts mehr widerstrebte, als ihm zu gehorchen. „Du kennst niemanden richtig, bis du nicht in sein Herz gesehen hast.“

 

Hätte er etwas in der Hand gehalten, außer den Zügeln, wäre es ihm entglitten, so sehr trafen ihn ihre Worte ins Herz, und er musste an sich halten, dass er nicht keuchend Atem holte. Konnte es wirklich sein, dass sie ihn besser kannte, als er sich selbst? Doch wie konnte das möglich sein? Sie hatten sich vorher noch nie von Angesicht zu Angesicht gesehen. Und trotzdem wusste sie, dass er innerlich so zerrissen war. Woher kam diese Gewissheit ihrerseits?

 

Er zwang sich dazu, diese Gedanken bei Seite zu schieben und konzentrierte sich stattdessen auf den Ritt, das Pferd und das Wetter, welches umgeschwungen war seit gestern. Von Norden her zogen dunklen Wolken auf und der Wind zerrte bereits stark an ihren Kleidern. Je näher sie den Klippen kamen, desto ungemütlicher wurde es. Wenn sie sich nicht beeilten, würden sie in ein Unwetter geraten.

 

„Hast du so etwas schon einmal erlebt?“, fragte Mîram und gab ihm dadurch wieder das Gefühl, seine Gedanken gelesen zu haben. Wieso wusste sie so genau, was in ihm vorging? Langsam wurde ihm das Ganze ziemlich unheimlich. Er würde froh sein, wenn sie endlich bei den Klippen waren und er sie seinem Vater übergeben konnte.

 

Er blieb ihr eine Antwort schuldig. Stattdessen spornte er sein Pferd zu größerer Eile an, um dem Regen zu entkommen, der sich nun wie ein düsterer Vorhang immer mehr auf sie zuzubewegen schien. Wenn sie nicht ertrinken wollten, mussten sie sich in der Tat mehr beeilen und ihre Zeit nicht mit dieser sinnlosen Konversation vergeuden, die ohnehin zu nichts zu führen schien. Zumindest kam ihr das so vor.

 

Wenn sie in seine Augen sah, wusste sie nicht so recht, was sie denken sollte. In einem Moment schien er verletzlich und unendlich traurig zu sein. Und im Nächsten war er kalt und abweisend zu ihr und er machte ihr Angst. Seine Berührungen fühlten sich falsch an und sie wünschte sich, sie könnte ihm irgendwie entkommen. Doch sie wusste genau, dass ihre Beine sie nicht tragen würden. Sie war zu schwach und sie hatte viel zu viel Angst. Abgesehen davon würde sie ohne ein Pferd nicht sehr weit kommen.

 

Doch was konnte sie sonst tun? Mit ihm einfach weiter reiten und ihr Schicksal akzeptieren, was auf sie wartete? Das wollte sie auch nicht. Sie war zwar erst einunddreißig Jahre alt und es würde noch weitere neunzehn dauern, bis sie als erwachsen galt, doch sie war auch starrköpfig und kam viel zu sehr nach ihrem Patenonkel Gimli.

 

Kurz überlegte sie, was der Zwerg wohl an ihrer Stelle getan hätte, und musste bei dem Gedanken daran, dass er diesen Elb wohlmöglich mit einem einzigen Schlaf zu Boden geschickt hätte, lächeln. Doch dann riss sie sich zusammen. Sie wollte nicht, dass Carim ihre Gedanken erriet. Und schon gar nicht wollte sie, dass er ihre mögliche Flucht direkt von vorne herein vereitelte. Irgendwann würde sich eine Gelegenheit bieten, die ihr in die Hände spielen würde. Und dann würde sie diese Chance nutzen und nach Hause rennen. Egal, wie weit sie dafür laufen musste, sie würde den Weg finden, denn die Pelóri wiesen ihr den Weg nach Valmar.

 

Doch ihre Chance kam nicht. Denn schon am nächsten Tag erreichten sie das Dorf auf den Klippen. Schmerzlich zog sich ihr Magen zusammen und sie hätte nicht einmal, wenn ihr Leben davon abhinge, einen Schluck Wasser hinunter gebracht. Die Tränen traten wieder in ihre Augen und das Zittern begann von Neuem.

 

Hatte sie sich bisher erfolgreiche an die Hoffnung geklammert, ihrem Peiniger und vor allem seinem schrecklichen Vater zu entkommen, musste sie nun erkennen, dass es unmöglich war noch zu fliehen. Nur noch wenige Meilen trennten sie von Delos.

 

Völlig durchnässt und verfroren ritten sie gemeinsam in das Dorf hinein. Carim hatte bereits bemerkt, dass die Straßen nicht so leer waren, wie er sie eigentlich vermutet hatte. Bei diesem Wetter war er davon ausgegangen, dass sich jeder in seinem Haus verkroch. Doch er hatte weit gefehlt.

 

Das ganze Dorf schien auf den Beinen zu sein und Vorbereitungen zu treffen. Und als er immer weiter ritt und die Elben ihn schließlich erkannten und was er da mit sich brachte, wurde es mit einem Mal ganz still. Der Geklirre von Metall auf Metall verstummte, niemand redete mehr durcheinander und es war nur noch der Regen zu hören, wie er unaufhörlich auf Dächer und Köpfe trommelte.

 

Mîram fühlte sich wie eine schreckliche Attraktion. Durch den Regen klebte ihr ihr Haar im Gesicht und auf den Schultern. Das Wasser lief ihr in die Augen, doch sie wagte nicht, es sich wegzuwischen, weil sie Angst hatte, man könnte eine unbedachte Bewegung von ihr als Angriff deuten und würde sie gleich verhaften. Diese Panik war natürlich unbegründet, und doch brachte sie es einfach nicht über sich, sich auch nur einen Zentimeter zu rühren. Das einzige, was sie bewegte, waren ihre Augen, die unaufhörlich über die stetig wachsende Menge an Zuschauern am Rande der Straße, glitten.

 

Und die Elben betrachteten sie, als sähen sie zum ersten Mal ein junges Elbenmädchen. Es gab noch einige unter ihnen, die sich an meine ungewöhnliche Haarfarbe erinnern konnten, und Mîrams silberne Strähnen riefen diese Erinnerungen nun wieder wach. War sie etwa meine Tochter? Wenn ja, wie hatte ich es zulassen können, dass man sie hierher brachte? Würde das vermutlich Krieg über sie bringen und den Zorn der Götter entfachen? War es ein schlechtes Vorzeichen?

 

Getuschel wurde laut und immer lauter, je näher Carim und Mîram Delos’ Haus kamen. Doch der Hausherr war nicht da. Er war bereits hinausgeritten, in Rüstung und Waffen, hatte seine Getreuen zusammen getrommelt und auf dem Platz an den Klippen, im Süden des Dorfes, versammeln lassen. Dorthin kam nun ein aufgeregter Bote und berichtete ihm, was er soeben gesehen hatte.

 

„Ein Mädchen, sagst du?“ Delos’ Stimme war unergründlich. Er hätte ebenso gut wütend, wie auch freundlich sein können. Doch aus der Erfahrung heraus war es eher so, dass er seinen Zorn sehr gut zu verbergen wusste. Daher nickte der junge Elb nur, der ihm die Botschaft überbracht hatte, und machte sich schnellen Schrittes wieder auf den Weg ins Dorf.

 

In Delos’ Gedanken jedoch raste es nun. Wieso hatte sein Sohn ein Mädchen mitgebracht? Was sollte dieses Mädchen ihm nützen? Selbst, wenn sie sehr schön war, wie der Bote gesagt hatte, dessen Namen er noch nicht einmal kannte, und wenn sie silberne Haare hatte, was natürlich ziemlich ungewöhnlich war. Wieso hatte Carim ein Mädchen mitgebracht? Wieso hatte er nicht das mitgebracht, was er von ihm gewollt hatte?

 

Doch es nützte nun nichts mehr, zu spekulieren. Er würde selbst zu seinem unfähigen Sohn reiten und ihn höchstpersönlich fragen, wie er ein Mädchen als Waffe gegen Valmar und die Götter einsetzen sollte, wenn er doch verlangt hatte, dass man ihm etwas viel Mächtigeres bringen sollte. Etwas, womit er die Macht sofort hätte an sich reißen können. Er hatte kein kleines Mädchen gewollt, sondern den Ring Caeya.

 

© by LilórienSilme 2015

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