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Kapitel 35

 

~ Phantombild

 

Niemand sagt, wo's lang geht

Kein Kreuz markiert deinen Standort

Keine Karte gibt Antwort

 

Aidans Begeisterung darüber, dass seine Freunde nun alle Janine kennengelernt hatten, steckte nicht alle an. Seine Idee, dass er, Janine, Dean und Joe gemeinsam ausgehen könnten, wurde von Dean gleich im Keim erstickt.


„Aber wieso denn nicht, Deano?“, fragte er enttäuscht und hob fragend die Arme. Sie standen vor ihrem Make-up-Trailer, um sich abschminken zu lassen, was bei Aidan nur gefühlte fünf Minuten dauerte, weil man ihm schlicht seine Nasenspitze und die Perücke abnehmen musste. Dean hingegen musste sich erst die Prosthetics lösen lassen, was fast immer eine Stunde dauerte und ihn fast seine gesamte Gesichtsbehaarung kostete, außer natürlich seinen extra gewachsenen Bart.

Der Kiwi warf die Arme in die Luft. „Ich glaube kaum, dass Joe begeistert davon ist, so viele Menschen auf einmal auszuhalten. Sie hat ja schon Schwierigkeiten mit einem. Stell dir vor, wir sitzen da, wissen nicht genau, was nun zwischen uns ist, und du und Janine knutscht vor uns rum. Das kommt sicher gut!“

Genervt gab Aidan schließlich auf. Er wusste, dass Dean Recht hatte, also beließ er es dabei. Sie einigten sich allerdings darauf, alle gemeinsam Emily bei ihrem Umzug zu helfen, was wiederum eigentlich nur eine Hilfe für Joe war, damit sie mit dem ganzen Kram nicht allein dastehen musste. Auch Graham und Richard boten ihre tatkräftige Unterstützung an und so versammelten sie sich alle am kommenden Sonntag bei Joe.

Die Kisten standen schon parat, sodass sie nur noch in den kleinen Transporter geräumt werden mussten, den John gemietet hatte, was schneller ging, als alle gedacht hatten. Als Graham die letzte Kiste einräumte, sah er sich suchend nach der nächsten um.

„Das war‘s, Graham“, sagte Joe, die ein Klemmbrett in der Hand hatte und offenbar etwas durchstrich, als sie aus dem Haus kam. Er hob fragend die Augenbrauen, doch sie schüttelte nur den Kopf. „Ist nur eine Liste für mich, damit nichts vergessen wird.“

„Oh ja“, rief Emily aus, als sie ebenfalls nach draußen vor die Tür kam, „sie will mich unbedingt loswerden. Und offenbar soll ich auch bloß nicht wieder zurückkommen.“ Sie zwinkerte ihrer Freundin zu, die sie gespielt empört ansah und ihr einen freundschaftlichen Stoß in die Rippen verpasste. Dann sagte Joe, während sie wieder ihren Stift zückte: „Emily rauswerfen: erledigt!“ Sie machte einen großen Haken mitten auf das Blatt Papier.

Plötzlich tauchte Richard hinter ihr auf, lugte ihr über die Schulter und grinste. „Ich bin sehr stolz auf dich“, sagte er.

Ruckartig drehte sie sich zu ihm. „Wieso das?“

„Du bist sarkastisch“, erwiderte er gelassen. „Das gefällt mir. Davon solltest du wirklich mehr zeigen.“

„Du hast deinen Humor aber offensichtlich auch hier in Neuseeland entdeckt, Archy“, warf Graham ein und legte seinem Kollegen einen Arm um die Schulter. Beide waren in etwa gleich groß, was dazu führte, dass Graham sich ein wenig strecken musste, um Richard vollständig umarmen zu können. Der schob ihn aber gleich wieder von sich und tat ziemlich entsetzt. „Soll das heißen, ich bin nicht lustig?“ Dabei schob er seine Unterlippe vor und tat, als müsse er gleich weinen.

Joe kicherte hinter vorgehaltener Hand, als sie das sah. Mit seinen stechend blauen Augen, den dunklen, kurzen Haaren und dem ordentlich getrimmten Bart sah es ziemlich lächerlich aus, was er da veranstaltete. „Normalerweise schon“, sagte sie, wobei sie sich zusammenreißen musste, „aber heute scheint dein Witz Pause zu haben.“

Sein entsetzter Gesichtsausdruck, den er daraufhin aufsetzte, brachte sie dann aber doch noch zum Lachen, sodass er Graham endgültig losließ und auf sie zustürmte. Sie versuchte noch ihm zu entkommen, doch er packte sie von hinten, hob sie hoch, als würde sie nicht mehr wiegen als ein Kleinkind, und warf sie sich über die Schulter. Schreiend und lachend zugleich ließ sie das Klemmbrett fallen und versuchte sich aus seinem Griff zu befreien, doch ihre Chancen standen gleich Null.

Wild strampelte sie mit den Beinen, schlug ihm auf den Rücken, denn sie hing kopfüber an seiner Kehrseite, doch es nützte nichts. Ungeachtet ihres Protestes trug er sie um das Haus herum und auf den Teich zu, in dem ihre Schildkröte friedlich in der Frühsommersonne schlief.

Erschrocken liefen die anderen hinter ihnen her. Emily versuchte ihm den Weg zu verstellen, doch auch sie schob er so spielerisch bei Seite, als wäre sie gar nicht da. John, Aidan und Graham riefen ihm hinterher, er solle es lassen, während Dean das Ganze erst mitbekam, als Richard schon vor dem Teich stand. Die Schildkröte hatte ob des Lärms bereits ihr Heil im tiefen Wasser gesucht und sich versteckt.

„Nicht!“, keuchte Joe, die fast keine Luft mehr bekam, weil sich Richards Schulter schmerzhaft in ihren Magen bohrte. „Bitte, tu das nicht!“

Der großgewachsene Brite hielt inne. „Ich hab dich leider nicht verstanden. Was hast du gesagt?“ Und um zu beweisen, dass es ihm tatsächlich ernst war, ging er kurz in die Knie und tat so, als würde er sie abwerfen.

Aber anstatt Joe quiekte Dean nun erschrocken auf, der in der Terassentür erschienen war und sich das Spiel angesehen hatte, sich nun aber ernsthafte Sorgen zu machen schien. Er konnte sich nur mit viel Vernunft davon abhalten, Richard in den Rücken zu treten, denn er wusste, dass er Joe niemals etwas antun würde. Neben Dean erschienen nun die anderen, die sich allerdings noch nicht einig darüber waren, ob sie Richard lieber anfeuern oder bitten sollten, aufzuhören.

So laut sie konnte rief Joe nun, um sich absetzten zu lassen: „Es tut mir leid, Richard! Du bist wirklich sehr lustig. Immer!“

„Ich hab dich immer noch nicht verstanden“, sagte er nun mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht, doch Joes Keuchen brachte ihn schließlich dazu, sie wieder sanft auf dem Rasen abzusetzen. Ihr Kopf war knallrot und ihr Atem ging stoßweise. Verärgert sah sie ihn an, dann ging sie erschöpft in die Knie.

Sofort meldete sich sein schlechtes Gewissen. „Entschuldige“, sagte er, kniete sich neben sie und legte ihr einen Arm um die Schultern, um ihr aufzuhelfen.

Um ihre Haltung bemüht kniff sie ein Auge zusammen und biss sich auf die Unterlippe, bevor sie zwischen zusammengepressten Zähnen hervorstieß: „Schon gut!“ Dann lud sie alle dazu ein, noch einen Tee drinnen zu trinken, bevor sie schließlich zu Johns Wohnung in die Stadt fahren würden, um die Kisten dort wieder auszuladen. Mit einem ziemlich beiläufig aussehenden Ruck stellte Richard sie nach ihrer etwas atemlosen Rede wieder auf die Beine und stiefelte mit ihr zur Veranda.

Dean bedachte sie mit einem kritischen Blick. „Alles okay?“, fragte er, als die beiden an ihm vorbei kamen. Die Designerin nickte nur, hielt sich dabei aber die unteren Rippen. So männlich es wirkte, sich Frauen einfach so über die Schultern zu werfen, so unangenehm war es, diese Haltung ertragen zu müssen. Gut, dass sie ihm 21. Jahrhundert lebten.

„Das nächste Mal, wenn mich jemand trägt“, sagte sie, als sie alle zusammen in ihrem Wohnzimmer saßen, „möchte ich, dass es auf Händen ist.“ Sie warf Richard einen bösen Blick zu, der ihr allerdings nur verschmitzt zuzwinkerte.

„Das nächste Mal, dass dich jemand trägt, Kleines“, antwortete Graham für ihn, „ist hoffentlich über die Schwelle.“ Und obwohl niemand mehr etwas erwiderte, spürte Dean doch ziemlich eindeutige Blicke auf sich, als er verlegen in seine Tasse starrte. Auch Joe zog es vor, lieber gar nichts zu sagen, sondern tat so, als müsse sie ihr Getränk nachzuckern.

Als schließlich alle Kisten wieder entladen und John und Emily sie alle zu Pizza und Bier eingeladen hatten, war es doch recht spät geworden. Die Sonne war bereits untergegangen und die Jungs verabschiedeten sich langsam. Das glückliche Paar bedankte sich noch einmal artig, dann winkten sie ihnen zum Abschied. Aidan lud Graham und Richard ins Auto, während Dean Joe die Tür aufhielt. „Soll ich dich nach Hause fahren?“

Sie warf einen kurzen Blick zu den anderen rüber, entdeckte aber nur Grahams grinsendes Gesicht hinter der Scheibe auf der Beifahrerseite. Richard war hinten eingestiegen. Er schaute erst ein wenig finster, doch dann schlug er Aidan, der schon auf dem Fahrersitz saß, bedeutend auf die Schulter und sagte ihm, dass er losfahren sollte.

Also zuckte Joe mit den Schultern und sagte: „Sieht so aus, als würdest du das müssen.“ Dabei lächelte sie und stieg in seinen hellgelben Wagen ein. Innen rümpfte sie kurz die Nase. Als er schließlich neben ihr saß, fragte sie: „Du hast einen Hund?“

„Ja!“, sagte er nicht ohne Begeisterung. „Batman, eine kleine Promenadenmischung. Süßer Kerl.“

„Wo ist er jetzt?“

„Meistens bei mir zu Hause im Garten. Deswegen hab ich mir auch ein Haus gemietet, anstatt eine Wohnung. Wenn ich lange arbeiten muss, komme ich nicht dazu, mit ihm Gassi zu gehen. Und mit in die Studios nehmen kann ich ihn auch nicht. Stell dir vor, er setzt vor die Stage einen Haufen und jemand tritt hinein.“ Sie kicherten beide.

„Deswegen habe ich Katzen“, erwiderte sie. „Die sind selbstständig. Wenn ich nicht zu Hause bin, um ihnen Futter zu geben, besorgen sie sich selbst welches.“

Er startete den Motor und legte einen Gang ein. „Und was hat es mit deiner Schildkröte auf sich?“

Ihr Blick wurde mit einem Mal viel trauriger und er fühlte sich unangenehm an die Anfangszeit mit ihr erinnert, als sie fast immer so geschaut hatte. Seitdem Richard und Graham sie etwas unter ihre Fittiche genommen hatten, wirkte sie nicht mehr ganz so verschlossen und lächelte sogar ab und zu mal. Dieses unglückliche Gesicht hatte er schon länger nicht mehr bei ihr gesehen, was er allerdings auch nicht vermisst hatte.

„Entschuldige!“, beeilte er sich daher zu sagen. „Ich wollte nicht...“ Indiskret sein? Trampelig? Unsensibel?

Er biss sich auf die Unterlippe, doch sie schüttelte abwehrend den Kopf. „Nein“, sagte sie, „schon gut. Du kannst das ja nicht wissen.“ Und nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: „Ich hab sie damals von meiner Mutter geschenkt bekommen, weil ich eine Ratte haben wollte. Doch sie sagte, dass unser alter Kater das sicher nicht mögen würde. Ich wusste aber ganz genau, dass sie Ratten und Mäuse gehasst hat.“ Sie lächelte bedrückt. „Deswegen hab ich zwei Schildkröten bekommen, aber eine ist schon vor Jahren gestorben.“

Eine Weile sagten sie nichts, dann legte er eine Hand auf ihre.

Im ersten Moment wollte sie ihm ihre Finger entziehen, doch dann ließ er wieder von ihr ab, als hätte er ihre Gedanken gelesen. Innerlich verfluchte sie sich nun dafür, dass sie zugestimmt hatte, dass er sie nach Hause bringen durfte, denn jetzt bereute sie es, dass sie ihm so nahe kam. Ihre Haut begann wieder zu kribbeln wie nach einem Sonnenbrand. Ihre Wangen glühten und ihr wurde heiß, als sie sich seiner Gegenwart nur allzu deutlich bewusst wurde.

Und auf einmal waren da diese Gedanken, die ungefragt in ihren Kopf eindrangen und sie ganz schwindelig machten: Was fühlte er eigentlich, wenn sie neben ihm saß? Fühlte er überhaupt etwas oder war es ihm egal? Mochte er sie wirklich oder war das vielleicht nur wieder dieser dämliche Beschützerinstinkt, den Männer bekamen, wenn sie sie sahen? Oder die Fantasie von einem kleinen Mädchen, was Schutz brauchte? Sie konnte nichts dergleichen von seinem Gesicht ablesen.

Vor ihrem Haus blieb Dean stehen und stellte den Motor ab. Dann drehte er sich zu ihr um, lächelte sie an und griff erneut nach ihren Fingern. Seine fühlte sich jetzt nass und verschwitzt an. Dann führte er ihre Hand an seine Lippen und hauchte ihr einen zarten Kuss auf den Handrücken, der sie erschaudern ließ. Plötzlich war ihr nicht mehr heiß, sondern kalt. Eine Gänsehaut überzog ihren gesamten Körper. Woher kam denn nur plötzlich dieses Wechselbad der Gefühle? Was machte er mit ihr?!

Fasziniert betrachtete sie ihn, wie er sich über ihre Hand beugte, sie dann wieder losließ und dabei nicht ein einziges Mal den Augenkontakt unterbrach. Dann sagte er leise: „Es war mir eine Ehre, dich nach Hause bringen zu dürfen.“

Doch Joe konnte nichts mehr sagen. Wie gern hätte sie irgendetwas erwidert, dass sie den Tag auch genossen hatte, dass sie seine Gegenwart genossen hatte, und dass sie ihm ebenfalls dafür dankte, dass er sie mitgenommen hatte. Doch nichts davon kam über ihre Lippen. Wie versteinert saß sie da.

Und offenbar schien er das als Zustimmung zu werten, denn plötzlich beugte er den Oberkörper über den Schaltknüppel hinweg auf sie zu. Seine Augen wanderten zwischen ihren und ihrem Mund hin und her. Viel zu spät begriff sie, was das zu bedeuten hatte. Doch sie konnte im letzten Moment noch ausweichen, lehnte sich nach hinten und schlug hart mit dem Hinterkopf an die Scheibe der Beifahrertür.

Das ließ sie vor Schreck wieder nach vorne schnellen, gleichzeitig mit Dean, der besorgt das Gesicht verzog und ihr helfen wollte, was dazu führte, dass sie sich die Köpfe anschlugen. Es krachte heftig, beide wurden in ihren Sitz zurückgeworfen und hielten sich reflexartig die Stirn. Dann wurde ihr bewusst, was da gerade passiert war.

Sie schlug sich die andere Hand vor den Mund. „Oh Gott“, stammelte sie, suchte nun fahrig nach dem Türgriff und wollte sofort aussteigen.

Eigentlich wollte sie sich lieber in Luft auflösen, sich unter der Fußmatte verstecken oder vom Autositz aufgesaugt werden. Doch natürlich geschah nichts davon. Stattdessen fand sie den Türgriff, betätigte ihn und schwang die Beine nach draußen.

Dummerweise hatte sie vergessen, dass sie noch angeschnallt war. Der Schwung, den sie zum Aussteigen hatte nutzen wollten, wandte sich nun gegen sie und sie wurde buchstäblich wieder in ihren Sitz geschleudert. Mit einem lauten „Ufff“, was ihr die Luft aus der Lunge presste, landete sie auf ihren vier Buchstaben. Mit hochrotem Gesicht fummelte sie beidhändig am Gurtöffner, was eine gefühlte Ewigkeit dauerte. Dann endlich hörte sie das erlösende Klicken und sie konnte aussteigen.

Ohne einen Blick zurück warf sie die Autotür zu, stampfte steifbeinig auf ihre Haustür zu, holte mit zitternden Fingern ihren Schlüssel hervor und verschwand im Flur, bevor Dean auch nur Luft geholt hatte.

Als die Haustür ins Schloss fiel, rieb er sich noch immer die Stirn. Verdutzt starrte er auf die Stelle, an der sie verschwunden war, und es dauerte eine Weile, bis er fassen konnte, was da gerade passiert war. Doch hatte er nicht etwas in ihren Augen gesehen?

Drinnen fluchte Joe einmal laut und war in diesem Moment unendlich dankbar dafür, dass Emily ausgezogen war. Ihre Handtasche flog in hohem Bogen in die Garderobenecke und ihre Schuhe gleich hinterher. Erschöpft sank sie schließlich mit dem Rücken gegen die Haustür und rutschte daran herunter, bis sie auf dem Boden saß. Den Kopf in den Händen bergend schloss sie die Augen und versuchte zu vergessen, was gerade passiert war.

Sie wusste genau, dass es dieses Mal ihre Schuld gewesen war. Sie alleine hatte das Ganze versaut und nun würde sie sich entschuldigen müssen. Denn eigentlich hatte sie diesen Kuss gewollt. Doch irgendwie hatte sie sich plötzlich überrumpelt gefühlt. Das ging ihr alles viel zu schnell. Und außerdem kam sie sich immer noch wie eine Betrügerin vor. Das Ganze war ein ausgemachtes Desaster! Sie gab sich selbst eine glatte Zehn in der Kategorie „Größte Dummheit des Jahrtausends“, wenn nicht sogar eine Elf.

Wütend auf sich selbst schlug sie ihren Kopf ein paar Mal gegen das harte Holz, dann fiel ihr ein, dass er es vielleicht draußen noch hören konnte, wenn er noch nicht abgefahren war, und sie ließ es bleiben. Stattdessen stand sie nun auf und lugte durch den Türspion.

Das asiatische Coupé stand noch immer da, doch da es bereits dunkel war, konnte sie nicht sehen, was im Inneren des Wagens passierte. Eine Weile noch beobachtete sie es, dann schließlich heulte der Motor wieder auf und die Rücklichter flogen die Straße hinab.

Das würde eine Katastrophe werden, wenn sie sich morgen wieder in den Studios begegnen würden!

Mit einem schlechten Gewissen von hier bis Sibirien krabbelte Joe schließlich ins Bett. Ihr dicker Kater Kaiser drückte seinen flauschigen Körper an ihre Seite und sie nahm ihn dankbar, dass er ihr ein bisschen Geborgenheit schenkte, mit unter die Bettdecke.

Als am nächsten Morgen der Wecker klingelte, wollte sie erst gar nicht die Augen aufmachen. Die Nacht war ebenso mies gewesen wie ihr Verhalten vom vorigen Abend und so machte sie sich erst einmal keine Gedanken darüber, dass sich ihr Hals etwas geschwollen anfühlte. Als sie jedoch beim Zähneputzen bemerkte, dass sie gar nicht mehr schlucken konnte, wurde sie doch ein wenig aufmerksamer. Vorsichtig befühlte sie die weichen Stellen an ihrem Hals, die direkt seitlich unter ihrem Kinnknochen lagen, und musste feststellen, dass es dort leicht hart war. Der erneute Versuch, etwas Wasser zu trinken, scheiterte kläglich.

„Oh nein“, stöhnte sie. „Man sollte lieber aufpassen, was man sich wünscht.“

Der Arzt später bestätigte ihr, was sie sich bereits gedacht hatte: Sie hatte eine Mandelentzündung. Er schrieb ihr ein Antibiotika auf und verordnete ihr für die gesamte Woche strenge Bettruhe. Missmutig wählte sie zu Hause die Nummer von Richards Büro. Doch erst nach dem dritten Versuch nahm endlich jemand ab.

„Hallo?“

Es war Tania Rogers, Richards Frau, die den Hörer abgenommen hatte. Von den Schmerzmitteln, die sie ebenfalls eingenommen hatte, schon leicht euphorisch, störte sich die Designerin jedoch nicht daran. Stattdessen sagte sie mutiger, als sie sich eigentlich fühlen durfte: „Hallo Tania, hier ist Johanna Taylor.“

Sie meldete sich für die gesamte Woche krank und kroch dann wieder mit einer großen Tasse Kamillentee zwischen ihre Kissen. Keine zwei Minuten später war sie wieder eingeschlafen.

In den Studios wurde Ann schließlich von Tania darüber informiert, dass Joe nicht kommen würde. „Sag es doch bitte Peter und bleib gleich dort, um ihn zu fragen, ob er dich vielleicht anstelle von Joe am Set gebrauchen kann“, schlug die Frau vom WETA-Chef vor und Ann nickte.

Peter war noch immer mit der Main Unit in der K Stage, um die Szenen mit den Spinnen zu filmen. Am Samstag hatte man die Schauspieler in Kokons eingewickelt und sie so ein paar Stunden liegen gelassen, bis die Technik komplett aufgebaut worden war, um sie zu filmen. Diejenigen, die zuerst dran gewesen waren, hatten fast drei Stunden dort gelegen und waren froh gewesen, als sie endlich das klebrige Zeug hatten verlassen dürfen. Die Erleichterung, die die Zwerge also verspürt hatten, als sie ihren Gefängnissen entkommen waren, war demnach echt gewesen. Nun waren noch die letzten Takes im Düsterwald dran, bevor es zurück in die Minen von Moria ging.

„Joe ist krank?“, hörte man plötzlich Peters Stimme durch den Lautsprecher schallen, denn er hatte vergessen, dass er noch das Headset anhatte.

Sofort flog Deans Kopf herum und bevor er merkte, dass er sich damit verraten hatte, spürte er, wie sich Archys Blick in sein Rücken bohrte. Er wollte schon zu einer Erklärung ansetzen, doch Graham ging dazwischen. Er warf einen Blick auf Mark und Jed, die mit Martin herumalberten und vermutlich ohnehin schon die Ohren gespitzt hatten, und formte lautlos mit den Lippen: „Nicht hier.“

Dass er einmal dazwischen gehen musste, hatte er sich auch nicht träumen lassen. Später auf dem Weg zur Kantine jedoch verhielten sich die beiden ganz normal. Keiner wollte, dass jemand etwas davon erfuhr. Das würde Joe auf gar keinen Fall wollen.

„Fährst du nachher zu ihr?“, fragte Graham etwas besorgt und senkte die Stimme noch weiter. Doch Dean schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte er, „ich glaube nicht, dass das eine gute Idee wäre. Hat einer von euch ihre Handynummer? Dann rufe ich sie vielleicht mal an.“

Beide mussten jedoch den Kopf schütteln. Als Dean wenig später bei Emily nachfragte, sagte die, dass sie mit Joe zwar ein Handy kaufen war und die Nummer habe, sie aber nicht wüsste, ob ihre Freundin das Teil schon in Betrieb genommen hatte. „Aber du kannst bei Weta ihre Festnetznummer erfragen. Die müsste dort hinterlegt sein.“ Sie sah ihm an, dass er betrübt war, konnte aber nicht genau sagen, weswegen. Und nachfragen wollte sie aus Rücksicht nicht.

Doch selbst als Dean sich schließlich ihre Nummer besorgt hatte, zögerte er, sie zu wählen. Würde sie überhaupt mit ihm sprechen wollen? Hatte sie ihn tatsächlich küssen wollen, oder hatte er sich das vielleicht nur eingebildet?

Er konnte nur hoffen, dass sich alles klären würde, sobald er aus Auckland zurück war. Denn sobald am Samstag die letzte Klappe fiel, würde er in sein Auto steigen und losfahren. Und da es unwahrscheinlich war, dass sie diese Woche noch auftauchte, würde er wohl warten müssen, bis er wieder zurück in Wellington war. Ihm standen also drei Wochen Ungewissheit bevor.

© by LilórienSilme 2015

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