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Kapitel 33

 

~ Second Chance

 

I'm not afraid, of what I have to say

This is my one and only voice

So listen close, it's only for today

 

Die lange fällige Aussprache zwischen Dean und Joe, die beide vermutlich lieber bis zum Nimmerleinstag rausgeschoben hätten, kam schon am zwei Tage später. Sie hatten die Szenen in Thranduils Hallen beendet und waren nun im Düsterwald angekommen. Das Set für diese speziellen Szenen war in der K-Stage aufgebaut worden und sah ein bisschen so aus, als hätten die Set-Designer beim Aufbauen Drogen genommen. Überall waren grellbunte Farbkleckse auf den Bäumen verteilt, die nach Joes bescheidener Meinung wirkten, als hätte man ein Gemälde von Salvador Dalí mit einem von Andy Warhol gemischt.


Als sie zwischen den künstlichen Stämmen hindurchging, konnte sie sich gut vorstellen, wie verwirrend es für die Zwerge sein musste, hier zu sein und nicht zu wissen, wo man genau hingehen sollte. Diese Szene kannte sie noch sehr gut aus dem Buch, was sie damals in der Schule gelesen hatten und später dann auch in ihrem persönlichen Bücherregal gestanden hatte. Jetzt mitten drin zu stehen in diesem Wald, der das Schicksal dieser Fahrt so sehr beeinflusst hatte, war irgendwie seltsam.

Doch dann tauchte von irgendwoher Dean in seinem Kostüm auf und ihre Hochstimmung war verflogen. Irrwitzigerweise hatte sie gehofft, ihm heute nicht über den Weg laufen zu müssen, doch das war nur ein Wunschgedanke gewesen. Wie sollte das schon möglich sein, wenn sie beide den ganzen Tag an ein und demselben Ort waren?

Graham begrüßte sie allerdings als erstes, als er sie entdeckte. Mit ihrer grauen Fleecejacke, den hellen Jeans und den zusammengebundenen Haaren wirkte sie ziemlich fehl am Platz im Düsterwald. Das hinderte den großen Schotten im Dwalin-Kostüm allerdings nicht daran, sie fest zu drücken. Dabei löste sich die Spange, mit der sie ihre Mähne am Hinterkopf hochgesteckt hatte, und ihre blonden Wellen fielen ihr über die Schulter. Errötend löste sie sich wieder von Graham.

„Entschuldige“, sagte er, bückte sich nach der Klammer und reichte sie ihr. Schnell nahm sie die Klammer entgegen und begann wieder damit, ihre Haare einzudrehen, während Graham ihr noch einmal zuzwinkerte und dann zu den anderen Zwergen hinüber ging. In diesem Moment, indem sie das Haarutensil zwischen die Zähne geklemmt hatte, trat Dean vor sie hin.

Er hatte sich exakt überlegt, was er sagen wollte, denn er wusste genau, dass er das nicht mehr länger aufschieben konnte, sich bei ihr zu entschuldigen. Und als er sie gesehen hatte, wusste er, dass er niemals mehr den Mut dafür aufbringen würde, wenn er es nicht sofort tat.

Jetzt guckte sie ihn leicht blöd von unten an und wartete darauf, dass er etwas sagte. Etwas peinlich berührt hob er seine rechte Hand. „Hi“, sagte er, kam sich am im selben Moment total dämlich vor, tat so, als müsse er mit der erhobenen Hand etwas an seiner Perücke überprüfen und trat dabei von einem Bein aufs andere.

Einen Moment lang hielt sie inne in ihrem Tun und musterte ihn. Wie die anderen war auch er schon seit halb fünf Uhr morgens hier und steckte bereits vollständig in seinem Zwergenkostüm. Das, was er jetzt trug, unterschied sich noch nicht sehr von dem, was er zu Beginn der Dreharbeiten getragen hatte. Es wirkte nur abgerissener, denn natürlich konnten die Zwerge nach all den Strapazen, die sie schon erlebt hatten, nicht mehr aussehen wie aus dem Ei gepellt. Sie waren immerhin nicht James Bond.

Jedes Mal, wenn sie in das Art Department kam und jemand die Kostüme mit Schmirgelpapier, Drahtbürsten oder Scheren bearbeitete, versetzte ihr das einen gehörigen Stich. Aber sie wusste auch, dass es realistisch aussehen musste. Trotzdem mochte sie es nicht, wenn solch schöne Arbeiten einfach wieder zerstört wurden.

Deswegen hielt sie sich jetzt an diesem Gedanken fest, während Dean einen zweiten Anlauf wagte, etwas zu sagen. Dabei fiel ihr auf, wie nervös er auf einmal wirkte. Und das erleichterte es ihr seltsamerweise, ihm gegenüber zu treten. Denn eigentlich hatte sie immer gedacht, dass Männer in ihrer Gegenwart zum Über-Macho mutierten. Dass es mal einen geben würde, der genauso unsicher war wie sie im Moment einer Konversation, machte ihr ein bisschen Hoffnung.

„Ich wollte mich entschuldigen“, brachte er schließlich heraus. Als er es gesagt hatte, fühlte er sich unheimlich erleichtert und Joe bemerkte, dass er die Schultern danach straffte und wirkte, als wäre ihm ein enormes Gewicht abgenommen worden. „Du weißt schon, für diese Sache.“ Das letzte Wort betonte er dabei so, als wäre es der Name von Lord Voldemort und man dürfte es nicht allzu laut aussprechen.

Das war aber auch gar nicht mehr nötig, denn Jed und Mark hatten die beiden entdeckt, wie sie hier am Rande des Sets standen und versuchten, die peinliche Stille zu überspielen, die sich zwischen ihnen gebildet hatte. Nun hörten sie von weiter hinten, wie die beiden Spaßvögel laute Kussgeräusche machten. Beiden, Joe und Dean, schoss augenblicklich das Blut in die Wangen und vermutlich wäre Deans Make-up-Artist durchgedreht, hätte er ihn jetzt gesehen. Verlegen kratzte er sich am Hinterkopf.

Als Joe immer noch nichts gesagt hatte, suchte er den Blickkontakt, überging dabei gekonnt, was sich hinter ihm abspielte, und sagte leise, sodass ihn die anderen nun wirklich nicht mehr hören konnten: „Es wäre toll, wenn du etwas dazu sagen könntest. Ich komme mir sonst ziemlich blöd vor.“ Mit einem warmen Lächeln nahm er seinen Worten die Schärfe und brachte sie ebenfalls dazu, ihre Mundwinkel leicht nach oben zu ziehen.

Sie hatte lange darüber nachgedacht, was an diesem Abend wirklich passiert war, als sie alleine auf dem Weg nach Hause gewesen war. Und irgendwie war sie zu dem Schluss gekommen, dass sie es gar nicht so schlimm fand - zumindest im Nachhinein. In der Situation selbst war es unsagbar peinlich gewesen, doch mittlerweile, wenn sie sich Dean genauer betrachtete, konnte sie sich sogar vorstellen, ihn wirklich mal zu küssen.

Natürlich noch nicht jetzt und auch nicht unter diesen Umständen. Dazu müsste sie ihn erst etwas besser kennenlernen und wissen, ob er es auch wirklich ernst mit ihr meinte. Immerhin wollte sie nichts überstürzen. Das hatte sie schon oft genug in ihrem Leben getan, auch wenn man das so nicht mehr vermuten würde.

Daher nahm sie all ihren Mut zusammen und nickte. Dabei senkte sie die Augen auf seine übergroßen Schuhe, mit denen er fast einen Kopf größer war als sie. „Okay“, hauchte sie, dann sah sie ihn wieder an.

„Okay was?“, fragte er sicherheitshalber nach, weil er nicht genau wusste, was sie damit wohl meinen könnte, und neigte den Kopf noch etwas weiter nach unten, weil sie so leise sprach, dass er sie kaum verstehen konnte, obwohl er direkt vor ihr stand. Er wollte ihr nicht zu nahe damit treten, doch er wollte ihnen auch selbst die unangenehme Situation ersparen, noch einmal nachfragen zu müssen, denn irgendwie ahnte er, dass ihr das all ihren Mut nehmen würde, den sie immer so mühsam zusammenkratzen musste.

„Entschuldigung angenommen.“ Als sie das sagte, sah sie ihm endlich in die Augen, was ihn fast dazu veranlasst hätte, einen kleinen Luftsprung zu machen, doch er konnte sich gerade noch so beherrschen.

Stattdessen grinste er nun völlig ungeniert und dabei wusste er noch nicht einmal, wieso er sich so sehr freute. Vielleicht war es die Erleichterung, dass sie ihm verziehen hatte. Vielleicht war es aber auch die Tatsache, dass sie ihn angelächelt hatte, was ihm irgendwie ein seltsam flaues Gefühl gab.

Doch eigentlich war es auch völlig egal. Er freute sich einfach. Und wenn er seine gute Laune beibehielt, konnte er sogar noch einen Schritt wagen. „Schön“, sagte er, was nicht ganz der Wahrheit entsprach. „Klasse!“ oder „Super!“ hätte es wohl eher getroffen. Doch er wollte sie nicht verschrecken. Daher übte er sich lieber in zurückhaltender Gelassenheit. „Wie wäre es denn, wenn wir das Ganze noch einmal ausdiskutieren? Bei einem Kaffee oder so. Was hältst du davon? Dann kann ich deinen Kaffee bezahlen und mein schlechtes Gewissen damit noch ein bisschen mehr erleichtern.“

Das überrumpelte sie doch etwas und sie konnte nicht verhindern, dass sie ihn mit weit aufgerissenen Augen eine Weile anstarrte und dabei wieder nichts sagte. Bis er sich verlegen räusperte. Das machte ihr erst wieder bewusst, was sie da gerade getan hatte, und sie errötete schon wieder. Verlegen strich sie sich eine ihrer kürzeren Haarsträhnen hinter die Ohren, die es nicht bis in die Haarklammer geschafft hatten. „Ähm“, machte sie, „wann denn?“

„Ich bin Ende September für zwei Wochen in Auckland“, sagte er nachdenklich, „weil die neue Staffel meiner Serie gedreht wird. Mitte Oktober bin ich wieder zurück. Dann könnten wir gehen.“

Aus dem Regiezelt hörten sie, dass Peter das Set zur Ordnung rief. Sie drehten sich beide zu der Stimme um, die aus den Lautsprechern kam, dann sahen sie sich wieder an.

Da es im Moment erst Mitte September war, heiße das, dass sie insgesamt vier Wochen hatte. Das klingt fair, dachte sie. Dann hätte sie genügend Zeit, sich seelisch darauf vorzubereiten. Jetzt mit ihm auszugehen hätte sie vermutlich nicht überstanden. Dann wäre sie entweder gar nicht erst hingegangen oder wäre nach spätestens einer halben Stunde durch das Klofenster ausgebüxt. So aber würde sie Emily um Hilfe bitten, sie darauf einzustellen, dass sie nicht direkt wieder die Flucht ergriff.

„Dean!“ Peters Stimme hallte durch die Stage und alle Augen richteten sich auf die beiden. Er rief, dass er sofort kommen würde, denn die anderen waren schon auf ihren Positionen, dann drehte er sich noch einmal zu Joe um. „Einverstanden?“

Unangenehm berührt, weil sie nun wirklich alle anstarrten und darauf warteten, dass sie etwas sagte, schnürte sich ihr plötzlich die Kehle zu. Ihr Hals wurde ganz trocken und sie begann wieder zu schwitzen. Wieso musste das schon wieder passieren? Und er war schon wieder Schuld an dem Ganzen. Am liebsten hätte sie Nein gesagt, doch sie konnte gar nichts mehr sagen in diesem Moment. Daher schaute sie nur wieder auf seine Schuhe und verbarg damit ihre Angst.

Dean jedoch fasste das Ganze als ein Ja auf, berührte sie kurz an der Schulter zum Zeichen dafür, dass er nun wieder gehen würde, und verschwand zwischen den Bäumen. Als sie merkte, dass er nicht mehr vor ihr stand, schlich sie sich hinunter vom Set. Sie achtete dabei sorgsam darauf, wohin sie ihre Füße setzte, und kam schnell an die Tür, die sie nach draußen führte. Sie hätte gern die Klinke gedrückt, doch es leuchtete bereits die Lampe darüber. Und so musste sie hierbleiben, bis die erste Klappe wieder fiel.

Als es endlich soweit war, suchte sie schnell das Weite. Sie rannte fast aus dem großen Gebäude heraus und hörte erst damit auf, als sie vor dem Art Department ankam, wo sie verschwitzt die Hände auf die Knie stützte, um erst einmal wieder Luft zu holen. Bevor sie aber wieder ganz zu Atem gekommen war, hörte sie das verräterische Knistern ihres Walkie Talkies, das sie, seitdem sie für Peter arbeitete und nicht mehr für Richard, immer bei sich tragen musste, damit man sie immer erreichen konnte, falls etwas passierte.

Genervt legte sie den Kopf in den Nacken und starrte in den blauen Himmel empor, der sich offenbar endlich dazu entschlossen hatte, freundlicher dreinzuschauen als noch die letzten Wochen. Der Sommer würde also endlich kommen!

„Johanna?“, sagte jemand am anderen Ende. „Bist du noch in der Stage? Wir brauchen dich im Art Department.“

Joe wusste nicht, wem die Stimme gehörte, doch sie war ihr dankbar, denn so hatte sie eine offizielle Ausrede, nicht am Set sein zu müssen. Also begab sie sich nach drinnen und suchte denjenigen, der sie suchte. Im Großraumatelier wurde sie fündig. Peter King, der oberste Perückenmacher, stand mit einer seiner Kunstwerke vor einer Puppe mit einem Kostüm, hatte die Hände missmutig verschränkt und trommelte ungeduldig mit einem Fuß auf dem Boden herum. Dabei war nicht zu erkennen, ob er sich über die Kostümbildner oder sich selbst ärgerte.

Schüchtern trat Joe zu dem Pulk an Menschen, der sich hier versammelt hatte. Mit dabei waren zwei von den Schneiderinnen, von denen sie wusste, dass sie für das besagte Kostüm verantwortlich waren, Ann, Tami Lane und Philippa, die das Walkie Talkie in der Hand hatte und Joe offensichtlich auch gerufen hatte. Ein ziemlich hohes Aufgebot für ein lächerliches Kostüm, dachte die Designerin noch, dann räusperte sie sich, um auf sich aufmerksam zu machen, was ihr in diesem Moment echt mehr als nur gegen den Strich ging. Ihr blieb heute auch wirklich gar nichts erspart.

Philippa, die die Stirn in Falten gelegt hatte, lächelte gleich erfreut. Auch Peter wirkte erleichtert und irgendwie wurde Joe das Gefühl nicht los, dass sie hier die Streitschlichterin spielen sollte. Eine Rolle, die natürlich absolut ihrem Idealbild entsprach!

„Da bist du ja!“, rief die Producerin erfreut und kam auf sie zu. „Du musst uns unbedingt helfen.“ Als sie das sagte, fiel Joe der säuerliche Blick von Ann auf, was die kleine blonde Frau noch zusätzlich in eine Zwickmühle brachte. Sie wollte auf gar keinen Fall ihre eigene Kollegin in die Pfanne hauen! Andererseits wollte sie auch nicht Philippa auf die Füße treten. Hoffentlich ließ sich eine andere Einigung finden. Oder sie musste sich einfach übergeben. Am besten direkt auf das Kostüm. Dann gab es auch keine Diskussionen mehr.

Etwas angewidert von sich selbst schüttelte sie den Kopf, um diese absurden Gedanken loszuwerden. Dann straffte sie ihre Schultern, so gut sie konnte, und sah Philippa an. „Was ist denn passier?“ Das klang nicht halbwegs so überzeugend, wie sie es geplant hatte, doch sie rief sich immer wieder Emilys Standpauke ins Gedächtnis und versuchte sich so selbst Mut zu machen. Bei Dean eben hatte sie jämmerlich versagt. Vielleicht würde sie ja zumindest im beruflichen Aspekt Fortschritte machen können.

Wie aufs Stichwort warf Peter die Hände in die Luft, gab einen Laut des Unmutes von sich und hielt dann die Perücke, die er mitgebracht hatte, vor das Kostüm von Dáin Eisenfuß, das auf dem Ständer hing und alle anzuklagen schien. „Na das hier ist passiert!“ Er setzte der Puppe die Perücke auf und wartete auf eine Reaktion. Die blieb allerdings aus, denn Joe verstand absolut nicht, was gemeint sein könnte.

Das wurde Ann schnell klar und so setzte sie zu einer Erklärung an. „Wir hatten eben die erste Anprobe mit Billy Connolly und dabei ist aufgefallen, dass sich seine Perücke mit dem Fellkragen seines Kostüms beißt.“

„Nicht beißt“, warf Peter ein, „sie verheddert sich darin! Das können wir so nicht bringen. Das sieht total unglaubwürdig aus. Wer hat das Kostüm überhaupt entworfen?“

Ann und Joe sahen sich einen Moment hilflos an, dann sagte Ann: „Ich glaube, dass das Bobs Idee war. Aber er ist noch krank.“

„Glaubst du denn“, wollte Philippa wissen, „dass es ihm etwas ausmachen würde, wenn wir es ändern? Immerhin können wir das so nicht lassen. Schlimm genug, dass Balin sich lächerlich gemacht hat mit seinem Bart. Wenn Dáin Eisenfuß heldenhaft in die Schlacht reitet, kann er sich nicht mit seinem Bart im Fellkragen seines Wams verstricken. Wie würde das denn aussehen?“

Eine der beiden Schneiderinnen prustete los. „Er reitet auf einem Schwein“, sagte sie. Doch niemand sonst fand das Ganze lustig, also verstummte sie schnell wieder und tat so, als wäre sie gar nicht da.

Schließlich richteten sich die Augen wieder auf Joe und Ann. Die ältere Designerin verschränkte die Arme und musterte die Perücke eine Weile. Mit den zwei kleinen Zöpfen, die links und rechts vom Mund abstanden und mit Metall und Horn an den Enden verstärkt wurden, sodass sie wie die Hauer eines wilden Ebers aussahen, waren in der Tat nicht sehr vorteilhaft. Doch das Konzeptdesign war bereits abgenickt worden. Es jetzt zu ändern wäre eine Untat.

Die Lösung war denkbar einfach. Nach einer kurzen Diskussion einigte man sich darauf, den Fellkragen wieder abzunehmen und stattdessen einen Mantel zu nähen, der nicht vorne zugeknöpft werden musste, sondern Halt an den Schultern fand. Das besänftigte dann auch Peter und er nahm seine Perücke wieder mit.

Erleichtert, dass es keinen größeren Streit gegeben hatte, schloss Joe danach ihre Bürotür von ihnen und ließ sich erschöpft auf ihren Stuhl fallen. Sie stützte kurz den Kopf in die Hände und warf einen Blick auf die Uhr. Dabei stellte sie fest, dass es schon Mittag war und sie Hunger hatte. Also suchte sie Emily auf und schleppte sie kurzerhand mit in die Kantine, wo sie ihr brühwarm davon erzählte, dass Dean sie auf einen Kaffee eingeladen hat.

Emily starrte ihre Freundin mit großen Augen an. Dann brach sie in Begeisterungsstürme aus. „Aber das ist doch fantastisch!“ Damit löste sie aus, dass sich ein paar Leute nach ihnen umdrehten, zu denen glücklicherweise noch nicht die Zwerge gehörten. Sonst hätten die Männer vermutlich alle sofort gewusst, worüber die beiden Frauen sprachen.

Als Joe nicht auf Emilys Freudenschreie reagierte, hielt die Schneiderin irritiert inne. „Aber das ist doch fantastisch, oder?“, setzte diese nach und sah die Blonde eindringlich an.

„Ich weiß nicht so recht“, antwortete Joe und rang die Hände. „Meinst du, ich kann das?“

„Was denn?“

„Na, mit ihm reden. Und so. Ich hatte seit einer Ewigkeit kein Date mehr. Das Letzte ist bestimmt schon ein halbes Jahrzehnt her. Ich erinnere mich gar nicht mehr daran, wie so etwas abläuft. Abgesehen davon sind Beziehungen am Arbeitsplatz immer zum Scheitern verurteilt. Das geht doch nie gut!“

Mitfühlend legte Emily ihrer Freundin eine Hand auf den Unterarm und drückte kurz zu. „Liebes“, sagte sie sanft, „du sollst ihn weder direkt nackt ausziehen noch ihn vom Fleck weg heiraten. Das ist nur ein Date. Ihr trinkt etwas, ihr redet, ihr lernt euch kennen. Mehr nicht.“

Joe seufzte tief. „Ja, genau“, sagte sie ironisch, „weil ich das so gut kann: reden.“

„Das wird schon! Lass dich einfach aus dem Moment heraus tragen. Und wenn es euch gefallen hat, könnt ihr ein zweites Date arrangieren.“ Sie sah ihrer Freundin so lange ins Gesicht, bis diese sich geschlagen gab und leicht nickte. „Und wenn du Hilfe brauchst, rufst du mich einfach an!“

Begeistert darüber, dass Joe es tatsächlich versuchen wollte, wollte Emily sich ihrem Hühnchen widmen, das ziemlich labberig und leblos auf dem Teller vor ihr lag. Doch Joe sagte: „Anrufen? Soll ich in dem Café den Kellner unauffällig fragen, ob er dir Bescheid geben soll, oder wie stellst du dir das vor?“

Die Gabel hielt auf halbem Wege zum Mund inne. „Äh, nein“, antwortete Emily ehrlich verwirrt. „Ich hatte eher daran gedacht, dass du mich mit deinem Handy anrufst. Dabei fällt mir ein, dass ich deine Nummer gar nicht habe.“

„Das liegt daran, dass ich kein Handy habe.“

Klirrend schepperte die Gabel auf den Teller zurück. Hätte Emily den Bissen tatsächlich gegessen, hätte sie sich nun daran verschluckt. „Du hast was nicht?!“

„Ich habe kein Handy. Wozu auch? Ich habe ein Festnetztelefon. Und wer mich erreichen will, der soll es darüber versuchen.“ Die Designerin zuckte unbeeindruckt mit den Schultern. Diese Debatte hatte sie schon mit Aidan geführt. Nicht ganz so ausführlich, aber im Prinzip war es auf dasselbe herausgekommen.

Emily ordnete ihr Besteck sorgfältig neu, dann schob sie den Teller ein Stück von sich, sodass sie die Ellbogen aufstützen konnte. Sie faltete die Hände ineinander und sah ihre Freundin darüber hinweg an, als wäre sie die Schuldirektorin persönlich. Nur die Brille und der strenge Dutt fehlten dazu noch. „Liebes, in welchem Jahrhundert lebst du denn, bitte? Am Wochenende gehen wir in die Stadt und kaufen dir so ein Teil. Es kann doch nicht sein, dass du nicht mobil erreichbar bist.“

Die Blonde seufzte ergeben. Sie würde ihrer Freundin sowieso nichts entgegensetzen können. Das wusste sie. Dazu war Emily viel zu entschlossen. Ihre Gedanken an das bevorstehende Upgrade ihres bisher so zurückgeblieben Technikstandes wurden ohnehin völlig zerstreut, als Dean mit den anderen Zwergen die Kantine betrat. Ihre Augen fanden sich fast von alleine und Joe konnte ein Grinsen nicht unterdrücken, als er sie nun anlächelte, vermutlich in Bezug auf die Vorfreude ihres Dates. Dass sie eigentlich noch gar nicht offiziell zugesagt hatte, wollte sie dabei mal außer Acht lassen.

Denn plötzlich kribbelte es wieder in ihrem Bauch und die Vorfreude erfasste auch sie. Vielleicht würde es doch nicht so schlimm werden, wie sie zuerst befürchtet hatte.

 


***
 

 

Etwas unsicher spielen deine Hände mit der Teetasse vor dir. Es kommt nicht oft vor, dass er dich aus der Reserve lockt, doch heute ist es passiert. Nick starrt dich aus seinen unergründlichen Augen an und wartet auf eine Antwort. Doch du bist zu überrascht, um sie ihm geben zu können.

„Du hast doch immer gewusst, dass es so kommen würde“, stellt er nüchtern fest und lehnt sich im Sessel zurück. Du sitzt ihm gegenüber auf dem Sofa, vor dir auf dem Couchtisch liegen deine Ordner für die Uni, die du seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr angefasst hast, weil dir etwas anderes wichtiger war. Jetzt bereust du es irgendwie.

Natürlich hast du es immer gewusst, dass es so kommen könnte, doch tief in deinem Herzen hast du gehofft, dass sie keinen solchen Erfolg mit der Band haben würden, denn dann müsste er jetzt nicht gehen.

„Und was bedeutet das jetzt für uns?“, fragst du leise, fast flüsternd, weil du Angst vor der Antwort hast. Eigentlich willst du es nicht wissen, doch du musst es wissen, weil du sonst vermutlich nicht schlafen kannst. Nie wieder.

Er beugt sich wieder vor, sieht dich genau an. Und er hat wieder diesen Blick drauf, den du so sehr an ihm liebst. Er lässt dich alles vergessen, lässt deine Knie weich werden und Schmetterlinge in deinem Bauch tanzen. Ein Gefühl, was du gerne hast, was du aber bisher nur mit ihm in Verbindung bringst. Heute sind die Schmetterlinge allerdings flügellahm. Sie hüpfen nicht wie sonst, denn es ist nicht mehr Liebe und Leidenschaft, die sie antreiben, sondern Angst. Immer wieder diese Angst.

„Die nächsten zwölf Monate sind wir in den USA, um die Platte aufzunehmen. Doch dazwischen wird sicher Zeit sein, sich zu besuchen. Ich komme, wenn ich kann. Und wenn du Semesterferien hast, kommst du zu uns.“ Er sagt das, als wäre es nichts, als würde der Flug nichts kosten und als würde dich nicht dieser Kater hier halten, den du versorgen musst und den du so sehr liebst, weil er das einzige Lebewesen ist, was dich noch mit deiner Mutter verbindet.

Und trotzdem nickst du. Du sagst ihm, dass du es versuchen willst, dass du eure Beziehung nicht so einfach aufgeben willst. Und er stimmt dir zu. Auch er meint es ehrlich damit. Doch ihr beide könnt nicht ahnen, dass das Leben andere Pläne mit eurer Zukunft hat.

© by LilórienSilme 2015

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