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Kapitel 33

~ Albtraum

 

Der Morgen kam schleppend, die Sonne schaffte es kaum, sich durch die dicke Wolkendecke zu schieben und warf daher nur spärliches Zwielicht auf die Klippen. Der Sturm hatte sich über Nacht mehr und mehr zusammengeballt. Dunkle, fast schwarze Wolken jagten unter der dunkelgrauen oberen Wolkendecke daher, warfen sich im Wind hin und her und vollzogen seltsame Sprünge.

 

Kurz nach Tagesbeginn setzte dann der Regen ein. Es war, als hätte jemand eine Schleuse im Himmel geöffnet und ließ nun alles, was sich angestaunt haben konnte, hindurch. Binnen weniger Sekunden war der Boden aufgeweicht und schlammig, das Stroh der Dächer pitschnass und Elb und Tier suchten Schutz unter Vordächern.

 

Delos warf einen prüfenden Blick aus dem Fenster und runzelte die Stirn. So etwas hatte er hier in Valinor nicht mehr erlebt, seit die Elbenfürsten zurückgekehrt waren. Es würde seinen Plan jedoch nicht zum Scheitern verurteilen. Dazu würde sich die Erde selbst auftun und ihn verschlingen müssen.

 

Und doch machten sich Zweifel in ihm breit. Hatte er vielleicht etwas übersehen? Hatte er etwas nicht gedacht, etwas vergessen oder gar zu viel getan? Im Kopf ging er alle Punkte noch einmal genau durch, wog alles ab, versuchte an jede Eventualität zu denken und beschloss schließlich, dass es nichts gab, womit er nicht rechnen würde. Sein Sohn würde bald zurückkehren und dann würde er das haben, was nötig war, um Valmar zu befreien. Und wenn es das Letzte war, was er tat!

 

„Herr?“ Nellas Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Noch immer wusste niemand, wohin Díhena verschwunden war. Sie war einfach über Nacht aus dem Haus abhanden gekommen, als hätte sie der Erdboden verschluckt, und war nicht wieder aufgetaucht. Niemand hatte sie gesehen, wie sie das Dorf verlassen hatte und keiner hatte ein Wort von ihr gehört, wohin sie hatte gehen wollen. Es war, als wäre sie nie hier gewesen. Selbst er fragte sich manchmal, ob er sich nur eingebildet hatte, sie hier bei sich beherbergt zu haben.

 

Ungeduldig wandte er sich zu ihr um. „Was ist?“, fragte er unwirsch und sah, wie sie unter seiner Stimme zusammenzuckte. Er genoss das Gefühl, sie völlig in der Hand zu haben. Sie war wie ein kleines Kind, das noch lernen musste, wie es sich zu benehmen hatte. Und er zeigte ihr nur zu gerne, dass sie noch sehr unerfahren war.

 

Sie verneigte sich kurz vor ihm, um ihre Unsicherheit ein bisschen zu überspielen, was ihr jedoch leider nicht gelang, und sagte schließlich: „Es steht alles bereit, Herr.“ Er zeigte ihr mit einer Handbewegung an, dass sie gehen könne und sie wandte sich um und verließ den Raum, ließ ihn wieder alleine. Nachdenklich starrte er abermals aus dem Fenster. Nun warteten sie nur noch auf Carim. Wenn er zurück kam, würden sie alle ihre Pferde besteigen und Richtung Valmar reiten. Dann würde der Krieg beginnen.

 

Kurz fragte er sich, ob seine Frau das vielleicht so gewollt hätte, als sie damals Hals über Kopf aus der Stadt geflohen waren. Milui war eine sanfte Seele gewesen, hatte nie jemandem etwas zu leide tun wollen. Und doch hatte sie sterben müssen, weil die Anstrengungen der Geburt und der Flucht ihren Tribut gefordert hatten.

 

Delos straffte sich. Natürlich hätte sie es so gewollt. Auch nachdem sie nun schon vor so vielen Jahren von ihm gegangen war, wusste er trotzdem, was sie gewollt hätte. Und sie hätte es gewollt, dass es ihren Söhnen an nichts mangelte. Dass Sahîrim sich nun gegen sein Geburtsrecht entschieden hatte, dagegen würde er nichts tun können. Vielleicht besann sich ein Ältester auch wieder darauf, wo er herkam, wenn er Valmar erst einmal wieder zurückerobert hatte. Das würde sich noch zeigen. Auszuschließen war es nicht. Immerhin übte Macht eine unglaubliche Anziehungskraft aus. Doch das würde die Zeit zeigen.

 

Da ihn nichts mehr am Fenster hielt, erhob Delos sich, verschränkte die Arme hinter dem Rücken und schritt durch den Wohnraum seines Hauses. Auf dem Dach hörte er das Plätschern des Regens und eigentlich hätte es ihn beruhigen müssen, doch es machte ihn eher nur noch rastloser. Wo blieb Carim nur? Er war bereits vor so vielen Tagen aufgebrochen. Mittlerweile müsste er doch zurück sein. Konnte es Schwierigkeiten gegeben haben?

 

Um sich abzulenken kehrte er in sein Arbeitszimmer zurück. Auf einer Truhe lag sein Langschwert, ein Bogen und daneben stand ein Köcher mit Pfeilen. Auf dem Schreibtisch lagen zwei Dolche. Kurz genug, um sie in der Kleindung zu verbergen, aber lang genug, um einem Gegner das Herz zu durchbohren. Ihre Klingen waren breit und gebogen, aus poliertem Metall und ohne Verzierungen.

 

Alle Waffen, die für diesen einen Kampf hergestellt worden waren, entbehrten jeglichen Schmuck. Die Klingen waren glatt und scharf, die Griffe aus hartem, poliertem Holz ohne Steine oder Ähnlichem. Die Schwerter trugen alle keine Namen, geschweige denn, dass man sie auf den Klingen verewigt hätte. Alles hatte sehr schnell gehen müssen. Und doch war gute Qualität ein Muss gewesen. War das Kriegswerkzeug minderwertig, ließ Delos es einschmelzen und neu herstellen. Und jedes einzelne Stück hatte er in Händen gehabt, um es auf seine Tauglichkeit zu prüfen. Er wollte sicher gehen, dass alles perfekt war.

 

Auf einem Gestell am Fenster hatte er seine Rüstung platziert. Er hatte sie nach einer Zeichnung aus einem alten Buch herstellen lassen, die ihm besonders gut gefiel. Hier in Valinor hatte es eigentlich nie viel Kriegsgerät gegeben in den letzten Jahrhunderten. Die Götter waren so sehr auf Frieden bedacht und auch den Elben, die hier gelebt hatten, war es nicht mehr in den Sinn bekommen zu kämpfen. Bis heute, dachte er und ein Lächeln verdunkelte sein Gesicht.

 

Mit einer beinahe zärtlichen Bewegung strich er über den Brustpanzer seiner Rüstung. Er sah aus wie eine lange Weste, die bis zu den Oberschenkeln reichte. Unter der glatten, dunklen Lederoberfläche war dünnes Metall eingearbeitet, die ihn vor Schlägen schützen sollte. Die Ränder waren schwarz umsäumt. Und oben schütze ein hoher Kragen seinen Hals.

 

Darunter würde er ein dickes Hemd tragen, was ebenfalls mit Metall verstärkt war. Auch seine Hose war dicker, trug jedoch keine Verstärkungen, da diese ihn beim Kämpfen gehindert hätten. Seine Beine würden durch die lange Weste und die hohen Stiefel genug geschützt sein. Für vollständige Metallrüstungen hatten sie keine Zeit und kein Material gehabt. Dazu hätten sie erst das Erz aus dem Fels schlagen müssen und das hatte Delos nicht gewollt. Es hätte ihn unnötig Zeit gekostet. Vermutlich würden seine Krieger ohnehin kaum Schutz benötigen, denn sie waren hervorragend ausgebildet worden in der kurzen Zeit.

 

Normalerweise hätte so ein Feldzug eine viel größere Vorbereitungszeit benötigt. Doch diese war ihm nicht vergönnt gewesen. Durch die Untreue seines ältesten Sohnes war er gezwungen gewesen, schnell zu handeln. Zu hoch war die Gefahr, dass Sahîrim Geheimnisse ausgeplaudert hätte, die niemanden etwas angingen. Hätte er mehr Zeit gehabt, hätte seine kleine Armee eine weitaus höhere Schlafkraft haben können. Doch er hoffte darauf, dass wir in Valmar noch unvorbereiteter waren. Er glaubte das Überraschungsmoment auf seiner Seite zu haben.

 

Als es wieder dunkel wurde, merkte Delos erst, dass er bereits den ganzen Tag über nichts zu sich genommen hatte. Er ließ Nella etwas vorbereiten, doch als das Essen vor ihm stand, konnte er es nicht anrühren. Es war ihm plötzlich, als würde das Fleisch vor ihm auf dem Teller verbrannt riechen. Der beißende Gestank verbrannter Haare und Nägel mischte sich darunter und es wurde ihm übel.

 

Die eine Hand vor den Mund haltend, die anderen vor seinem Magen verkrampft, erhob er sich, stieß dabei an den Tisch und fegte den Teller samt Inhalt hinunter, dann rannte er nach oben in sein Schlafgemach.

 

Geräuschvoll übergab er sich in seinen Nachttopf und es dauerte eine Weile, bis das Zittern in seinem Körper aufhörte. Seine Hände verkrampften sich um den Rand und der Schweiß brach ihm aus all seinen Poren aus. Verwirrt und verstört würgte er, bis nichts mehr kam. Dann ließ er sich nach hinten fallen und starrte an die Decke.

 

Woher war dieser plötzliche Anfall gekommen? So etwas hatte er doch noch nie durchmachen müssen. Als er an den Geruch des Essens auf seinem Teller dachte, wurde ihm jedoch gleich wieder übel. Kam es daher? Hatte das Fleisch wirklich so gerochen?

 

Doch wieso wurde ihm davon gleich so schlecht? Woher kannte er diesen Geruch nur und welch schlechte Erinnerungen verband er damit, dass sie in seinem Kopf nicht mehr abrufbar waren? Es war, als hätte sein Gedächtnis zu diesem Zeitpunkt nicht funktioniert, einen blinden Fleck auf seinen Erinnerungen hinterlassen, der es ihm unmöglich machte, dort etwas zu sehen oder überhaupt zu erkennen. Nicht einmal Silhouetten konnte er erahnen.

 

Irgendwann musste der Schlaf über ihn gekommen sein, denn als er wieder zu Bewusstsein kam, schwebte ein Gesicht über ihm. Es war Nella, die ihn besorgt musterte. Sie hatte bereits den Nachttopf gesäubert und ihm eine Decke unter den Kopf gelegt, damit er nicht auf dem nackten Boden lag. Und es kam ihm auch so vor, als hätte er schon eine Weile hier gelegen, denn sein Körper war steif und ungelenk. Was war nur passiert?

 

„Geht es Euch wieder besser, mein Herr?“, fragte Nella besorgt. Kleine Falten hatten sich zwischen ihren Augenbrauen gebildet, als sie auf ihn herab sah. Er streckte die Hand nach ihr aus und sie half ihm beim Aufrichten. Sofort drehte sich alles in seinem Kopf und er musste Halt am Bettpfosten suchen. Verwirrt griff er sich an den Kopf.

 

Es dauerte eine Weile, bis das flaue Gefühl im Magen und die dunklen Punkte, die vor seinen Augen getanzt hatten, verschwunden waren. Dann sah er Nella direkt ins Gesicht. „Was hast du in mein Essen gemischt?“

 

Seine Stimme knallte wie ein Peitschenhieb durch die Luft. Die junge Elbe zuckte unweigerlich zusammen und entging nur so dem wütenden Schlag, den Delos hatte austeilen wollen. Dass er sie verfehlt hatte, machte ihn jedoch nur noch rasender. Sie machte ein paar Schritte zurück, da sie das Funkeln in seinen Augen ausgebrochen beängstigend fand und sich nicht erklären konnte, was ihn zu so einem Ausbruch verleitet haben könnte.

 

„Nichts!“, rief sie daher sofort und warf sie Arme schützend und in einer abwehrenden Haltung hoch. „Bitte glaubt mir, es lag nicht am Essen!“

 

Wieder machte sie einen Schritt zurück, doch er folgte ihr. Als seine Hand jedoch den Bettpfosten los ließ, gaben seine Knie unter ihm nach und er stürzte. Sie nutzte die Gelegenheit und floh. Vermutlich würde er ihr ohnehin folgen, sobald er konnte, und dann würde er ihr den Schlag verpassen, der sie eben nicht getroffen hatte.

 

Tränen strömten über ihre Wangen. Wie hatte es nur soweit kommen können? Nun verstand sie, wieso Díhena das Weite gesucht hatte. Niemand konnte es lange mit ihrem Herrn aushalten. Selbst seine Söhne schienen das begriffen zu haben. Verwirrt und zu Tode verängstig lief Nella hinaus auf den Hof und suchte sich dort eine Ecke, in der sie sich verkriechen konnte. Dort lag sie, nass bis auf die Knochen und schluchzend, bis der Morgen kam.

 

Delos versuchte währenddessen noch immer, sein Gleichgewicht zurück zu erlangen. Seine Beine gaben jedoch immer wieder unter ihm nach und schließlich gab er es auf, kroch zurück zum Bett zurück, zog sich daran hoch und legte sich hinein. Als er wenig später in einen unruhigen Schlaf verfiel, stieg ihm der seltsame Geruch abermals in die Nase.

 

Dieses Mal jedoch konnte er etwas erkennen. Es war, als würde sich Nebel oder Rauch davon machen, vom Wind verweht werden und die Landschaft gereinigt zurücklassen. Vor ihm türmte sich ein Scheiterhaufen auf, so groß wie ein Haus, unmöglich zu erklimmen, mit spitzen Pfählen zwischendurch und keiner Möglichkeit weit und breit, das Feuer, was darauf brannte, zu löschen. Und doch sagte ihm eine innere Stimme, dass er den Brand ersticken musste.

 

Mit bloßen Händen griff er nach den glühenden Scheiten, versuchte einen herauszuziehen, doch verbrannte sich nur selbst das eigene Fleisch. Er schrie vor Schmerzen auf, warf sich auf die Knie und trommelte mit den Fäusten auf dem Boden herum, bis sie aufplatzten und bluteten.

 

Er schrie weiter und weiter, heiße Tränen brannten in seinen Augen, bis seine Kehle schlussendlich aufgab und kein Laut mehr heraus kam. Und doch hörte er noch den Nachhall seiner Stimme und erst jetzt begriff er, was er gerufen hatte. So lange schon hatte er ihren Namen nicht mehr laut gesagt, hatte verdrängt, was damals geschehen war. Und doch war mit einem Mal wieder alles allgegenwärtig: ihr Blut an seinen Händen, der Wahn in ihren Augen, ihr geschwollener Leib, der sich unter den Tritten ihrer beider Kinder zu bewegen schien.

 

Dann das Aufblitzen einer Klinge, noch mehr Blut auf seiner Haut, das Schreien eines Kindes, der Erlöschen des Sternenlichts in ihren Augen.

 

Das alles strömte auf ihn ein, ließ ihn schluchzen und zucken, bis er nur noch ein Häufchen Elend war, das sich am Boden zusammenrollte und auf den Tod zu warten schien, nur ihren Namen noch auf seinen aufgesprungenen Lippen: „Milui…“

 

Schweiß gebadet schreckte Delos aus dem Schlaf. Seine Hände schmerzten noch immer, als hätte er das Feuer wirklich berührt und nicht nur davon geträumt. Und tatsächlich war sein Kissen und sein Gesicht ganz nass von den Tränen, die er im Traum geweint hatte.

 

Wütend fuhr er sich mit einem Zipfel seiner Decke über die Augen, bis sie wieder trocken waren. Dann stieg er aus dem Bett und rannte nach unten. Der Regen hatte noch immer nicht aufgehört, doch die Wolkendecke war dünner geworden. Das Licht des Morgengrauens war heller als gestern noch. Und er beschloss, dass heute sein Krieg beginnen würde.

 

Entschlossen betrat er sein Arbeitszimmer, zog seine Rüstung an und legte seine Waffen um. Dann trat er in den Hof hinaus, hinein in den Regen, und lenkte seine Schritte zum Stall. Mit seinem gesattelten Pferd ritt er wenig später durch das Dorf. Er sagte kein Wort, doch alle, die ihn erblickten, wussten, dass heute der Tag gekommen war. Schweigend kehrten sie in ihre Häuser zurück, küssten ihre Kinder, umarmten ihre Frauen ein letztes Mal, dann zogen auch sie Rüstung und Waffen an und traten ebenfalls hinaus in den Regen.

© by LilórienSilme 2015

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