LilórienSilme
~ Fanfiction-Autorin ~
Kapitel 32
~ Pflaster
Ich hatte schon längst keine Hoffnung mehr
Doch jemand hat dich geschickt, von irgendwo her
Ich wusste nicht mehr genau was zählt
Nur: es geht nicht mehr weiter, wenn die Liebe fehlt
Dean war froh, dass sie in dieser Woche nicht ständig am Set anwesend sein mussten, wenn die Szene zwischen Thorin und Thranduil im Thronsaal des Elbenkönigs gedreht wurde, denn er hatte immer noch ein schlechtes Gewissen Joe gegenüber. Seit dem Wochenende hatte er sie nicht gesehen, was entweder auf einen Zufall zurückzuführen war, oder aber auf die Tatsache, dass sie ihm aus dem Weg ging und sich absichtlich unsichtbar machte.
Er konnte es ihr nicht verdenken. Vermutlich wäre er selbst in Grund und Boden versunken, wenn er sie gesehen hätte. Die ganze Sache vom letzten Samstag war ihm im Nachhinein doch recht peinlich.
Was seine lieben Mitzwerge natürlich nicht davon abhielt, ihn ständig damit aufzuziehen, wie dämlich er sich doch benommen hatte, als er versucht hatte, sie zu küssen und sie dabei fast vom Stuhl gerissen hatte. Besonders Mark schien es Spaß zu machen, Deans Bewegungen zu imitieren und Jed dabei als hilfloses Opfer zu missbrauchen. Die beiden kugelten sich meist am Ende irgendwo herum und kamen aus dem Lachen nicht mehr heraus, während Dean selbst mit hochroten Kopf gute Miene zum bösen Spiel machte. Die Blöße, dass ihn das Ganze doch ziemlich unangenehm berührte, wollte er sich nicht geben. Lieber tat er so, als wäre gar nichts gewesen.
Natürlich hatte auch Andy, der Gollum-Darsteller und Regisseur der 2nd Unit, das ganze Debakel mitbekommen und ließ den Jungs daher den Spaß, bevor er das Set zur Ordnung rief und mit der Szene begann.
Zur Mittagspause hin setzte Dean sich dann ein bisschen von der Gruppe ab, weil er beim Essen keine Lust hatte, ständig dem Hohn und Spott der anderen ausgesetzt zu sein, und suchte sich mit Aidan einen separaten Tisch. Der dunkelhaarige Ire war zwar auch nicht die Art Gesellschaft, die er bevorzugt gesucht hätte, doch heute durfte er nicht zimperlich sein.
Daher schwieg er, als sie sich gesetzt hatten, und aß stoisch sein Mittagessen. Bis Aidan schließlich der Kragen platzte. Den ganzen Vormittag hatte er diesen Ausdruck bei seinem Filmbruder bemerkt, den er nicht ganz deuten konnte, wenn er ihn anblickte. Irgendetwas schien der blonde Kiwi zu verbergen, aber Aidan kam einfach nicht darauf, was es sein könnte. Daher ließ er sein Besteck laut scheppernd auf den Rand seines Tabletts fallen und sah Dean abwartend an. „Also?“ Seine Augenbrauen wanderten dabei nach oben.
Dean kaute seinen Bissen in Ruhe zu Ende, bevor er Aidan fragend ansah. „Was, also?“
„Also, was ist los mit dir?“
„Nichts.“
Aidan lachte freudlos. „Na klar, das kannst du deiner Oma erzählen! Ich seh doch, dass etwas nicht stimmt. Und ich sehe auch, dass es etwas mit mir zu tun hat. Denn die Geschichte mit Joe haben Mark und Jed ja schon zur Genüge ausgereizt heute.“
„Pfft“, machte Dean nur und schob sich eine weitere Gabel Reis in den Mund. Er hatte keine Lust darüber zu reden. Sein Verhalten war ohnehin absolut lächerlich. Wieso sollte er eifersüchtig auf Aidan sein? Dazu gab es überhaupt keinen Grund. Oder doch?
„Siehst du das etwa genauso wie Richard?“, fragte Aidan schließlich, als Dean sich immer noch nicht dazu durchgerungen hatte, etwas zu erwidern. Der Blonde zog aber nur fragend die Augenbrauen hoch. „Was sehe ich wie Richard?“
„Dass ich etwas von Joe will? Ist es das?“
„Nein“, antwortete er zu schnell und Aidan riss nun begreifend die Augen auf. Bevor er jedoch etwas sagen konnte, hob Dean abwehrend die Hände. „Nein, ist es wirklich nicht! Ich…“ Doch ihm fiel keine gescheite Erklärung mehr ein. Also ließ er die Hände sinken, die noch nach Silikon und Kleber rochen, obwohl er sie schon zwei Mal gewaschen hatte, bevor er in die Kantine gekommen war. „Okay, ist es doch.“
Eine Weile sagte keiner der beiden etwas, sie sahen sich nur in die Augen, versuchten abzuschätzen, was der andere dachte. Schließlich gab Aidan auf. Er seufzte tief. „Dann magst du sie wirklich, oder?“
Am liebsten hätte sich der Blonde die Haare gerauft, doch er wusste, dass man ihn dann vermutlich umgebracht hätte, wenn er nach der Pause noch einmal in die Maske musste, um sich die Perücke richtig aufsetzen zu lassen. Daher rang er nur hilflos die Finger. „Ich weiß nicht, ob ich sie mag. Das ist alles so verwirrend.“
„Was ist verwirrend?“
„Diese ganze Situation! Ich komme hierher als Ersatz für jemanden an, der aus ‚privaten Gründen‘“, er malte imaginäre Anführungszeichen in die Luft, „die Dreharbeiten beenden musste. An meinem ersten Tag läuft mir dieser blöde Gaul weg, genau vor die Füße dieses Mädchens, das kein Wort mit mir redet. Dann blamiere ich sie gefühlte Dutzend Male, ihre schüchterne Art geht mir gehörig auf den Wecker, sodass ich anfange, sie für mein persönliches Unglück verantwortlich zu machen. Und plötzlich…“ Er brach ab. Wann war eigentlich der Moment gekommen, an dem er begonnen hatte, sie zu mögen? Und wieso, zum Teufel, mochte er sie überhaupt?
Wieder schwieg er. Dieses Mal jedoch so lange, dass Aidan schon dachte, er wäre mit offenen Augen eingeschlafen. Dann sagte er: „Und plötzlich ist alles anders.“ Er atmete tief ein und aus. „Bisher habe ich so etwas noch nicht erlebt, so eine große Produktion. Das ist alles so neu für mich. Und ich fühle mich immer noch ein bisschen unzulänglich.“ Dieser Gefühlsausbruch kam einem Geständnis gleich und wäre sein Gegenüber ein Psychiater gewesen, hätte er sicher begeistert Beifall geklatscht.
Aber Aidan nickte nur lächelnd. „Ja“, sagte er, „das Gefühl hab ich auch. Man steht als Jüngster zwischen all diesen Schauspielern, die einem beim Spielen teilweise die Gänsehaut über den Rücken treiben, und muss selber schauen, dass man in ihrer Mitte nicht untergeht. Das kann einem schon Angst machen. Und dann erhält man auch immer diese ungeteilte Aufmerksamkeit der gesamten Crew. Sobald man etwas möchte, gibt es jemanden, der es einem holt. Wenn man da nicht aufpasst, kann man einen gehörigen Höhenflug bekommen. Ich meine, wenn wir nicht fahren können, holt man uns sogar ab! Das ist absolut krass.“ Seine dunklen Augen leuchteten begeistert.
Als er jedoch sah, dass seine Ansprache Dean eher weniger aufgeheitert hatte, legte er ihm beruhigend eine Hand auf den Unterarm. „Machst du dir etwa Sorgen?“
„Ein bisschen schon“, gestand der Kiwi. „Ich meine, der Gedanke kommt einem schon, dass man völlig unzulänglich ist, wenn man Martin so spielen sieht.“ Er warf dem Bilbo-Darsteller, der ein paar Tische von ihnen entfernt saß, einen vielsagenden Blick zu. Aidan nickte zustimmend, lächelte dabei aber. Offenbar hatte er weniger Angst als Dean und betrachtete es eher als eine große Herausforderung und ein Abenteuer, was er bestreiten wollte. Und dabei wollte er möglichst viel mitnehmen.
„Und was ist jetzt das Problem mit Joe?“, wollte Aidan schließlich wissen. Nun widmete auch er sich seinem Essen, was er bisher für ihn untypisch nicht angerührt hatte.
Dean fuhr sich mit der Hand über sein Kinn, strich über die falschen Barthaare und spürte das Ziehen an seiner Haut. „Wenn ich das mal wüsste.“
„Ich kann dir leider nicht ganz folgen, Bruder. In deinem Kopf ist das alles sicher total logisch angeordnet, aber ich bin hier draus.“ Er fuchtelte, um seine Worte zu untermalen, heftig mit den Armen. Das entlockte Dean endlich ein Lächeln.
Er seufzte tief und legte sich die Worte zurecht, die er nun als nächstes sagen wollte. So ganz wusste er nicht, ob Aidan sie verstehen würde, doch er wollte es zumindest versuchen. Immerhin hatte der blöde Kerl gefragt. Also musste er auch damit rechnen, dass er eine Antwort bekam.
„Ich denke“, begann er, „das Problem an der Sache ist, dass ich nicht verstehe, wieso ich sie mag. Ich weiß, dass ich sie mag, aber ich weiß nicht, warum. Sie entspricht nicht dem Typ, den ich sonst bevorzuge, verstehst du?“ Aidan nickte. „Sie ist das genaue Gegenteil: schüchtern, klein, hilflos. Und dass sie nicht antwortet, wenn man sie direkt etwas fragt, macht mich quasi wahnsinnig!“
„Vielleicht ist es ja genau das.“
„Was?“
„Dass sie so hilflos ist. Das weckt in dir den Beschützer. Und die Art, wie sie dich wahnsinnig macht… na ja…“ Aidan biss sich auf die Unterlippe.
Ungeduldig streckte Dean die Arme nach vorne. „Was?“
„Du kennst doch dieses Sprichwort: Liebe und Hass liegen dicht beieinander. Und vielleicht ist das ja bei Wut und Zuneigung genauso.“ Er grinste schief, als Dean verwirrt die Stirn kraus zog. Mit so etwas hatte er jetzt nun nicht gerechnet. Und weil er nicht wusste, was er darauf erwidern sollte, lud er sich seine Gabel voll und aß.
Nach zwei Bissen jedoch fühlte er sich plötzlich, als müsste er jeden Moment platzen. Sein Appetit war ihm vergangen und ihm wurde leicht übel, wenn er den noch fast vollen Teller vor sich betrachtete. Angewidert schob er ihn von sich und lehnte sich auf dem Plastikstuhl zurück. Dabei beobachtete er Aidan schweigend, der ungeniert weiter futterte.
War es überhaupt wichtig, wieso er sie mochte? Wenn dem tatsächlich so war, dann nützte es auch nichts, sich dagegen zu wehren. Wenn er es akzeptieren konnte, würde er sich vielleicht wieder auf wichtigere Dinge konzentrieren können und nicht durch die Gegend laufen wie ein zugedröhnter Hippie, der ständig mit seinen Gedanken woanders war.
Doch wenn er diese Gefühle akzeptierte, was war dann der nächste Schritt?
„Ich würde sagen“, meinte Aidan, als sie nach dem Essen wieder auf dem Weg zurück zum Set von Seestadt waren, „du fragst sie nach einem Date.“
Verblüfft hielt Dean inne und sah den Kíli-Darsteller an. „Und was ist mit dir?“
„Was soll mit mir sein? Ich werde sicher nicht die Anstandsdame bei euch spielen.“ Er lachte auf. „So weit kommt es noch!“
Dean schüttelte den Kopf. Jemand kam mit Fílis Armen zu ihm, hielt sie ihm hin und er schlüpfte hinein. Dabei strömte die Prothese diesen widerlichen Gestank nach künstlicher Haut, Schweiß und Wachs aus. „Nein, ich meinte: was ist mit dir?“ Er senkte die Stimme in der Hoffnung, dass man ihn nicht verstehen würde. „Ich dachte, du magst sie auch.“
„Sicher“, sagte Aidan ungeniert, „aber nicht so, wie du und Richard denken. Der sich übrigens als ihr Papa aufspielt, wenn du verstehst, was ich meine.“ Er zog die Augenbrauen finster zusammen. „Ich betrachte Joe eher als asexuell. Wie eine Schwester. Von der ist man auch immer erschrocken, wenn man aus Versehen entdeckt, dass sie Brüste hat.“
In diesem Moment rollte von rechts eine rote Walze an und Stephen Hunter sagte, verdeckte von seinem Bombur-Kostüm: „Brüste? Wo sind Brüste?“ Er sah sich dabei hektisch um, als hätte er Angst, dass ihm etwas Wichtiges entgehen könnte. Dann verschwand er wieder zwischen Fischerhäusern. Dean und Aidan blieben lachend zurück. Als ihr Lachanfall vorbei war, sah Dean seinen irischen Kollegen kurz an, legte ihm dann eine Hand auf die Schulter und sagte: „Danke, Mann.“
„Keine Ursache! Immerhin sind wir Brüder.“ Er zwinkerte ihm zu, dann folgte er Stephen, um seine Position vor der Waffenkammer der Menschenstadt einzunehmen.
Joe hockte derweil auf dem Boden und fummelte am Saum von Thranduils Robe herum. Lee Pace, der Schauspieler des großen Elbenkönigs, hatte versehentlich darauf getreten, als er die Stufen zu seinem Thron hochgestiegen war.
Die Begegnung mit diesem großen Mann hatte Joe sich noch kleiner fühlen lassen, als sie es ohnehin schon tat. Mit ihren 1,53 Meter überragte er sie um genau 43 Zentimeter, was ein ganz schönes Stück war. Sie reichte ihm gerade mal so mit ihrem Haaransatz bis zur Brust und hätte er auch noch so ein breites Kreuz wie Richard besessen, hätte sie sich bei ihm sicher vor Angst in die Hosen gemacht. Doch seine schlaksige Gestalt schüchterte sie nicht ganz so sehr ein. Trotzdem hätte sie prima als Scaledouble mit ihm als Reverenz arbeiten können.
Bei der Szene, die sie schon seit gestern drehten, ging es um die Konfrontation zwischen Thorin und Thranduil. Zwei Könige begegneten sich zum ersten Mal Auge in Auge und jeder der beiden versuchte nun mehr oder weniger sein Revier abzustecken. Für Lee war es seine erste Szene überhaupt, doch es schien ihm Spaß zu machen.
Auch Richard fühlte sich sehr wohl mit ihm. Der Dialog gefiel ihm gut und gehörte schon jetzt zu einer seiner Lieblingsszene, dicht gefolgt von der, als die Zwerge die Tür im Berg entdeckt hatten und die direkt nach der Drehpause im Sommer gespielt worden war.
„Das tut mir wirklich leid“, sagte Lee nun, als er auf Joe herunterblickte. Seine Idee, während des Dialogs die Stufen hochzusteigen und so seine Dominanz gegenüber dem Zwerg zu demonstrieren war irgendwie nicht das Wahre gewesen, stellte er nun fest. Obwohl es Pete zu gefallen schien. Doch dieser Mantel war so lang, dass er nicht gehen konnte, ohne draufzutreten.
Joe winkte ab. Sie hatte sich so etwas beinahe gedacht, als sie Thranduils großzügige Garderobe angelegt hatte. Er besaß die meisten Kostüme, quasi eins für jede Gelegenheit plus natürlich seine Rüstung, die er zum Kampf tragen würde. „Ich kann es kürzen“, sagte sie, doch Pete sprang dazwischen.
„Aber dann sieht es nicht mehr so gut aus“, bemerkte er und runzelte dabei die Stirn. Er hatte eine Hand an sein Kinn gelegt und musterte das Problem besorgt. Eigentlich hatte es so einfach ausgesehen. Jedenfalls hatte er weniger damit gerechnet, dass die Kostüme Probleme machen würden. Eher hätte er gedacht, dass Richard und Lee nicht miteinander harmonieren würden. Doch diese Besorgnis erschien ihm nun als völlig unbegründet. „Haben wir keine Alternative?“
Die junge Designerin hielt in ihrer Arbeit inne. Sie konnte weder den Mantel kürzen, weil er dann knapp über Lees Knöchel geendet hätte, was vermutlich absolut lächerlich aussehen würde, noch konnte sie den Stoff ausstellen. Das hätte sogar noch schlimmer ausgesehen als ein zu kurzer Mantel. „Wie willst du die Szene drehen? In einem durch oder mit Unterbrechung?“
Der Regisseur ahnte, worauf sie hinauswollte, musste ihr aber die Hoffnung nehmen. „Es wirkt besser, wenn es in einem durch läuft. Wir können nicht erst den ersten Teil abdrehen und dann den zweiten dranhängen. Das macht die ganze Stimmung kaputt.“
Joe kaute an ihrer Unterlippe herum. Dabei ließ sie ihren Blick schweifen, in der Hoffnung, etwas zu finden, was ihr helfen würde. Doch leider konnte sie nichts entdecken. „Dann versucht es erst einmal so“, sagte sie, während sie die zwei Rockschöße mit zwei Sicherheitsnadeln nach oben steckte, sodass Lee mehr Beinfreiheit hatte beim Treppensteigen.
Danach lief es auch besser und Joe bekam richtig Gänsehaut, als sie die Szene beobachtete. Richards Stimme, wie sie durch die Stage donnerte, kam ihr ziemlich gewaltig vor. Und zum ersten Mal verspürte sie ein bisschen Angst, wenn sie ihm in die Augen sah. Doch sobald die Kamera auf Stand-by stand und er wieder Richard war und nicht mehr Thorin, war dieser Moment verflogen.
Peter ordnete eine kleine Pause an, wobei Joe sich wieder an Lees Kostüm zu schaffen machte. Vorsichtig entfernte sie die Sicherheitsnadeln wieder. Dabei strich sie zärtlich über den silbergrünen Stoff, in der Hoffnung, dass die Spitzen der Nadeln keine Löcher hinterlassen hatten. Dann hockte sie sich auf die unterste Stufe des Throns, stützte den Kopf in die Hände und überlegte, wie sie verhindern konnte, dass der große Amerikaner sich auf der Treppe langmachte.
Sie ließ dabei wieder ihren Blick schweifen, beobachtete Richard eine Weile, wie er sich in einer Ecke des Sets auf den nächsten Take vorbereitete und dabei seltsam in sich gekehrt wirkte, und zählte schließlich, mehr aus Langeweile, die Markierungen für die spätere digitale Erweiterung des Thronsaals, weil ihr einfach nichts einfallen wollte.
Plötzlich machte es klick in ihrem Kopf. Wie von der Tarantel gestochen sprang sie auf und rannte zu Pete, der in seinem Regiezelt saß und sich mit seiner 3D-Brille die letzte Szene noch einmal ansah. Sie platzte dort mitten rein und sorgte fast dafür, dass der rundliche Kiwi von seinem Sofa hüpfte. „Was ist los?“, rief er erschrocken aus. „Ist was passiert?“ Die Angst, etwas könnte kaputt gegangen sein, was seinen Zeitplan noch mehr durcheinander brachte, stand ihm ins Gesicht geschrieben.
Doch Joe winkte schnell ab. „Nein“, sagte sie, revidierte ihre Aussage aber gleich wieder. „Also doch, schon, ja.“ Sie stammelte vor sich hin, rang dabei die Hände und versuchte dem Blick des Regisseurs auszuweichen, denn sie kam sich plötzlich wieder sehr dilettantisch vor. Das lag nicht unbedingt an Pete selbst, sondern eher an der Tatsache, dass sie sich wieder wie in der Schule fühlte, wenn sie vorne an der Tafel etwas vortragen musste. Dieses Gefühl, dabei nicht nur etwas völlig falsch zu machen, sondern sich dabei auch noch zu blamieren, war ihr immer im Gedächtnis geblieben und würde vermutlich auch nie ganz von ihr abfallen.
Die beruhigende Hand, die sich plötzlich dabei auf ihren Unterarm legte, verunsicherte sie daher so, dass sie aufhörte zu stammeln. Erschrocken blickte sie hoch und sah in die warmen braunen Augen des Regisseurs, der sie aufmunternd anlächelte. „Ganz ruhig“, sagte er, „du hast alle Zeit der Welt.“
Sie versuchte auf ihn zu hören, doch so ganz wollte es nicht klappen. Daher verstärkte er den Druck leicht. „Tief durchatmen“, sagte er. „Ein, dann aus. Und jetzt versuchst du es noch mal.“
Wie von ihr verlangt atmete sie einfach ganz tief ein und dann wieder aus. Sie schloss kurz die Augen, versuchte sich dabei daran zu erinnern, was sie sagen wollte, und öffnete sie wieder. Da Pete sie immer noch so ansah wie vor ein paar Augenblicken, schien sich ihr Herzschlag auch mit einem Mal wieder etwas zu verlangsamen. Wäre er nur damals dagewesen, als sie völlig verlassen und allein vor ihrer Klasse gestanden hatte und sich fast in die Hose gemacht hätte!
„Mir ist etwas eingefallen“, begann sie leise und langsam, um sich jedem Wort bewusst zu werden, „wie wir das Problem mit dem Mantel umgehen können.“
Eine Weile später, nachdem Joe selbst den Mantel doch noch gekürzt hatte, bis er Lee gerade bis zu den Knöcheln reichte, und ihn eigenhändig mit orangenen Punkten versehen hatte, schien die Szene wie von selbst zu laufen. Lee wurde in seiner Performance nicht eingeschränkt und später konnte man den Saum am Computer dank der Markierungen so verlängern, dass er seine Wirkung auf der großen Leinwand nicht verfehlen würde. So musste sich niemand mehr darum Gedanken machen.
Zufrieden betrachtete Joe die Nahaufnahme von Thranduil auf seinem Thron. Richard stand neben ihr. Er nahm eine Regung aus dem Augenwinkel wahr und stellte überrascht fest, dass die Designerin lächelte. Väterlich legt er ihr einen Arm um die Schultern und zog sie zu sich heran. Da er körperlich nicht besonders agil gewesen war heute, verströmte er nicht seinen üblichen strengen Geruch. Sie konnte nur den Stoff, das Silikon, den Kleber und sogar einen Hauch seines Duschgels riechen. Sofort stellten sich die Härchen auf ihren Armen auf.
Dieses Mal jedoch war es anders. Sie wollte nicht vor ihm fliehen, wie sie es bei Dean vorgehabt hatte, weil ihre Gefühle sie überwältigt hatten, als er ihr zu nahe gekommen war. Im Gegenteil wollte sie sich eher noch enger an ihn drücken und seine beruhigende Nähe spüren. Doch nicht, weil sie sich plötzlich zu ihm hingezogen fühlte. Nein, in diesem winzigen Augenblick, in welchem er ihr leise „Gut gemacht“ ins Ohr flüsterte und sein Atem dabei ihren Nacken streifte, glaubte sie, eine tiefe Verbundenheit mit ihm zu erkennen.
Sie wusste, dass von ihm nicht dieselbe Bedrohung ausging, wie von anderen Männern, die in den meisten Frauen nur etwas sahen, was sie mit nach Hause und ins Bett nehmen wollten. Er hatte auch nicht diese Intention, überhaupt irgendwie körperlichen mit ihr zu werden. In diesem Moment wusste sie, dass er einfach nur ein Freund für sie sein wollte. Und sie wusste, dass sie das auch wollte.