LilórienSilme
~ Fanfiction-Autorin ~
Kapitel 32
~ Der Schwur
Die Übergabe hatte perfekt geklappt. Während Carim seine Ware eingesammelt hatte, hatte Delia mit dem Pferd auf ihn gewartet. Er war ziemlich genau um Mitternacht mit einem in seinen Mantel gewickelten Bündel aufgetaucht und sie hatte nicht schlecht gestaunt. So viel Mut, in ein fremdes Haus einzusteigen, ohne ein Geräusch zu machen hindurch zu schleichen, das Zimmer der ältesten Tochter zu finden und sie schließlich dort herauszuholen, hatte sie ihm eigentlich gar nicht zugetraut.
„Wie ist es gelaufen?“, hatte sie aufgeregt gefragt. In ihrer Eile hatte sie gar nicht darauf geachtet, wie groß das Bündel eigentlich war. Sie hatte ein paar Spitzen silberner Haare aus dem Mantel herausschauen sehen und nickte zufrieden, als Carim das Bündel über den Sattel gelegt hatte.
Sorgsam hatte er sie festgebunden, denn er hatte nicht gewollt, dass sie herunter fiel. Er wollte auf keinen Fall, dass ihr etwas zustieß. Auch wenn er sie hatte betäuben müssen. Vermutlich würde sein schlechtes Gewissen ihn damit noch Jahre lang verfolgen.
„Eigentlich hatte ich vor“, hatte er zurückgeflüstert, „auf ein offenes Fenster oder eine unverschlossene Türe zu warten. Doch das Glück war mit hold. Sie kam einfach so aus der Türe spaziert und ist mir buchstäblich in die Arme gelaufen.“ Den Teil mit seinem Bruder hatte er absichtlich verschwiegen. Und das anerkennende Nickten Delias hatte ihm Recht gegeben.
Und so hatte er sein Pferd, oder besser gesagt das Pferd seines Bruder, aus der Siedlung hinaus geführt, um keinen Lärm zu verursachen, und war erst etwa eine halbe Meile davon entfernt aufgestiegen. Nun ritt er in gemächlichem Tempo den Klippen entgegen.
Er fragte sich bereits, was sein Vater für ein Gesicht machen würde, wenn er mit der erhofften Beute heimkehrte. Vermutlich würde er ihn mit offenen Armen empfangen und ihn von nun an nur noch seinen Erben nennen.
Ganz in seine erfreulichen Gedanken vertieft merkte er erst zu spät, dass sein Bündel hinten auf dem Sattel sich regte. Er hörte ein Stöhnen, drehte sich um und konnte sie gerade noch auf dem Pferd festhalten, bevor sie unsanft auf dem Boden gelandet wäre. Sofort hielt er an und saß ab. Innerlich nannte er sich selbst einen Narren, dass er nicht daran gedacht hatte, sie im Morgengrauen erneut zu betäuben. Jetzt war es zu spät.
„Was...?“, drang die gedämpfte Stimme von Mîram durch den Stoff des Mantels. Sie zappelte darin herum, um sich zu befreien, schaffte es jedoch nicht. Dann schrie sie: „Hilfe! Hilfe, ich bin gefangen! Hilfe!“
Carim sah sich um, doch zu seinem großen Glück war weit und breit niemand zu sehen. Er war die ganze Nacht durchgeritten, ohne zu rasten, und hatte somit vielleicht schon ein Viertel des Weges hinter sich gebracht. Genau konnte er es natürlich nicht sagen, doch wenn sein Orientierungssinn ihn nicht völlig im Stich gelassen hatte, war es so.
Er versuchte ihre Schreie erst zu ignorieren, doch schon nach ein paar Augenblicken hielt er es nicht mehr aus und öffnete den Mantel ein Stück. Sofort blickten ihn zwei Augen erschrocken an. „Schon gut“, sagte er genervt. „Hör auf zu schreien.“
„Lass mich hier raus!“ Mîram war nie ein sehr selbstbewusstes Kind gewesen. Immer hatte sie sich hinter mir oder ihrer großen Schwester versteckt. Doch mit den Jahren hatte sie Courage entwickelt, die nun danach verlangte, genutzt zu werden. Sie strampelte gegen ihr Gefängnis an, versuchte mit dem Fuß eine Öffnung zu finden oder die Arme nach oben zu reißen. Doch es gelang ihr nicht. Sie war mit dem Mantel am Sattel festgebunden und es bestand keine Chance, hier von alleine heraus zu kommen.
Carim erschrak für einen Moment, als sie ihn so anherrschte. Doch dann fasste er sich wieder. Er würde sich doch von einem kleinen Mädchen nicht herumkommandieren lassen. „Ich lasse dich heraus, wenn du aufhörst du schreien“, sagte er, verschränkte die Arme vor der Brust und sah sie herablassend an.
Das war gar nicht so einfach, da sie immer noch auf dem Pferd lag und ihn damit um etwa einen ganzen Kopf überragte. Doch er versuchte sich nichts anmerken zu lassen.
Von seiner ungebeugten Haltung unbeeindruckt wand sie den Kopf so, dass sie ihn nicht mehr ansehen musste, und verstummte. Dies wertete er als Zustimmung und lockerte das Seil, mit dem er sie festgebunden hatte. Sofort bekam sie die Hände frei, wühlte sich aus dem Mantel heraus, sprang vom Pferd und lief davon.
Doch sie hatte nicht damit gerechnet, dass ihre Beine in der Zeit, in der sie gefesselt war, eingeschlafen waren, und so fiel sie der Länge nach, nach nur zwei Schritten, hin. Sie schaffte es noch, sich mit den Armen abzufangen, doch der Aufprall schmerzte trotzdem.
Carim ging langsam um das Pferd herum, während er beobachtete, wie sie sich versuchte auf die Beine zu kämpfen. Als er bei ihr war, stellte er sich genau vor sie und blickte sie ruhig an. Er verzog keine Miene, sondern wartete auf eine Reaktion ihrerseits. Diesen Gefallen wollte sie ihm jedoch nicht tun, also blieb sie liegen.
„Nun“, sagte er und holte den Mantel wieder. „Wir können dieses Spiel auf zwei verschiedene Arten spielen.“ Sie schnaubte verächtlich, doch er achtete nicht darauf. „Entweder du bist brav, ich binde dir die Handgelenkte auf dem Rücken zusammen und wir reiten gemeinsam auf diesem Pferd. Dann haben wir beide keine Scherereien. Oder du verhältst dich weiterhin wie ein ungezogenes Kind, ich muss dich wieder betäuben und das alles geht noch einmal von vorne los. Wie hättest du es gerne, Kindchen?“
Absichtlich stufte er sie so herunter, um sich selbst ein bisschen mehr Autorität zu verleihen. Doch vermutlich war sie nicht viel jünger als er.
Sie ließ sich jedoch nicht beirren und versuchte weiterhin auf die Beine zu kommen. Leider war dieses Unterfangen nicht von Erfolg gekrönt, da sie ihr nicht zu gehorchen schienen. Schließlich stützte sie sich auf die Arme, sodass sie den Kopf in den Nacken legen und ihn ansehen konnte. „Wer bist du und was willst du von mir?“
Diese Frage hatte er befürchtet. Lange hatte er überlegt, ob er ihr offenbaren sollte, was er mit ihr vorhatte. Doch er wusste nicht, wie sie reagieren würde. Aber angesichts der Tatsache, dass sie offenbar nicht gedachte, sich ihm zu unterwerfen, hatte er auch keine Ahnung davon, wie sie reagieren würde, wenn er weiterhin schwieg.
Er entschied sich, ihr zumindest schon mal seinen Namen zu verraten. „Mein Name ist Carim. Und dein Name ist Mîram, habe ich Recht?“
„Und wenn schon“, schnaubte sie erneut und ließ sich wieder fallen. Es hatte keinen Sinn, weiterhin so zu tun als würde sie das alles nicht kümmern. Am liebsten hätte sie sich weinend zusammen gerollt und darauf gehofft, dass ihre Eltern sie bald finden würden. Wenn ihr Vater wüsste, wo sie war, würde er sicherlich keine Sekunde zögern und nach ihr suchen.
Doch was, wenn er nicht wusste, wo sie war, schoss es ihr durch den Kopf. Sie wusste selber nicht einmal, wo sie sich gerade befand. Sie war nie mehr als eine Meile von der Siedlung weggewesen. Wie konnte sie da erwarten zu wissen, wo sie sich gerade aufhielten und wohin er sie bringen würde. Verzweifelt blickte sie sich um so gut sie konnte, und versuchte etwas Bekanntes zu entdecken. Doch das einzige, was sie erkannte, waren die Pelóri am Horizont. „Wo bringst du mich hin?“, fragte sie nun etwas kleinlauter.
Ihre verängstigte Stimme weckte Mitleid in ihm. Was hatte er sich nur dabei gedacht, sie so brutal zu behandeln. Vorsichtig packte er sie unter den Armen und half ihr beim Aufstehen. Er setzte sie aufrecht hin und stützte sie, wie ein kleines Kind. Als sie sich wieder gefangen hatte und selbstständig sitzen konnte, sah sie ihm tief in die Augen. Noch nie hatte sie solch blaue Augen gesehen. Ihre eigenen waren dagegen blass wie der Morgenhimmel. Er jedoch hatte Augen wie das Meer.
Carim schüttelte den Kopf, als er merkte, wie sie ihn ansah. Auch er hatte fasziniert in ihre Augen geblickt und hatte sich vorgestellt, wie eine Möwe über den Himmel glitt, auf der Suche nach Land. Aus der Ferne hatte er sie schon faszinierend gefunden, doch als er ihr so nahe kam, zog sie ihn augenblicklich in seinen Bann.
Schnell räusperte er sich, um die peinliche Stille, die entstanden war, zu überbrücken. „Ich bringe dich zu meinem Vater. Er wird entscheiden, was mit dir zu geschehen hat.“
„Und wer ist dein Vater?“
Er erhob sich und tat so, als müsse er den Sattelgurt nachziehen, um ihr nicht in die Augen zu sehen, während er es sagte. „Mein Vater ist Delos von den Klippen.“
Mîram schnappte nach Luft. Sie hatte zahlreiche Geschichten über ihn gehört und auch die eine, die uns allen zum Verhängnis zu werden drohte. Sie wusste, welcher Elb zu diesem Namen gehörte, welche Geschichte zu diesem Namen gehörte. Und ganz plötzlich schien sich eine eiskalte Hand um ihr Herz zu schließen und nahm ihr die Luft zum Atmen.
Wieso brachte man sie zu ihm? Was hatte der Junge mit ihr vor? Wollte er sie zu ihm bringen, damit man mich, ihre Mutter, mit ihrer Hilfe erpressen konnte? Oder wollte man gar nur ihren Kopf nach Valmar zurückschicken?
Tränen sammelten sich in ihren Augen. Todesangst griff nach ihr, als sie sich diese Dinge ausmalte, und sie packte Carims Tunika mit beiden Händen, zerrte daran und blickte ihm flehend ins Gesicht. „Nein!“, sammelte sie. „Bitte, bring mich zurück! Wenn dein Vater erfährt wer ich bin, wird er mich töten.“
Sofort ging Carim in die Knie, löste ihre zarten Hände von dem Stoff seiner Kleidung und nahm ihre Hände in seine. Eine eigenartige Wärme schien von ihrem Körper auszugehen, die von ihm Besitz ergriff. „Das wird er nicht“, sagte er entschlossen. Er umfing ihre beiden Fäuste mit seiner linken Hand, die andere erhob er um ihr beruhigend über die Haare zu streicheln. „Er wird dir kein Leid zufügen. Das verspreche ich dir!“ Dabei sah er ihr fest in die Augen, wie zum Zeichen dafür, dass er seine Worte jederzeit und vor jedem wiederholen würde.
Bang barg sie ihr Gesicht an seiner Schulter, die Tränen durchnässten sein Gewand. Erst wusste er nicht, was er tun sollte, doch als sie nicht aufhören konnte zu weinen, legte er beide Arme um sie, zog sie zu sich heran. „Ich verspreche dir, dass mein Vater keine Hand an dich legen wird. Der einzige, der dich berühren darf, bin ich. Und wer das missachtet, wird dafür bezahlen.“