top of page

Kapitel 31

 

~ Dead Ringer

 

I don't know who you are or what you do

Or where you go when you're not around

I don't know anything about you baby

But you're everything I'm dreaming of

 

Joe hatte Emily davon überzeugen können, auch mit zu der Party zu kommen, weil sie große Angst davor hatte, dort allein hinzugehen. Selbst, wenn sie mit Aidan ging. Oder vielleicht gerade deswegen. Das konnte sie selbst nicht so ganz deuten. Einerseits mochte sie ihn sehr gerne, doch andererseits würde sie ihn manchmal lieber geknebelt an einen Stuhl fesseln, damit er endlich mal stillsaß und den Mund hielt.


„Bist du sicher, dass ich mitkommen soll?“, fragte Emily nun schon bestimmt zum Hundertsten Mal an diesem Abend, während Joe noch immer nicht fertig mit ihrem Outfit war. Seit einer gefühlten Ewigkeit hatte sie sich keine so große Mühe mehr mit ihrem Äußeren gegeben. Was veranlasste sie dazu, derart auszuflippen?

Und weil ihre Nerven quasi blank lagen fauchte sie nur kurz: „Ja, und jetzt sei still!“

Ihre Freundin verstand den Wink und hob abwehrend die Arme, während sie das große Badezimmer im ersten Stock verließ und nach unten ging, um dort auf die Designerin zu warten.

Eigentlich hatte sie John mitnehmen wollen, doch der hatte leider arbeitsbedingt absagen müssen. Außerdem erhielt er als Nicht-Teammitglied vermutlich ohnehin keinen Zugang zu den Studios. Auf Aidans Party war er damals nur gewesen, weil ein Kumpel, der am Set als Bildhauer arbeitete, eingeladen gewesen war. John selbst war ein einfacher Bürohengst innerhalb einer großen Versicherung, der die Arbeiten am Set zwar aufregend, aber ziemlich brotlos fand. Zum Glück war das kein ausschlaggebender Grund für Emily, ihn nicht zu mögen. Im Gegenteil, ihr gefiel dieser Ausgleich zu ihrem sonst so handwerklichen Beruf.

Als Joe endlich die Treppe herunterkam, hatte sie keine Zeit mehr, sich Emilys Meinung zu ihrem Aussehen abzuholen, denn Aidan stand bereits vor der Haustür und klingelte Sturm. Er war zu spät dran und hatte darauf gehofft, dass die Frauen schon fertig waren, doch natürlich hatte er sich geirrt. „Frauen sind fast nie pünktlich fertig“, witzelte Emily und holte ihren Mantel.

Ihre blonde Freundin stolperte gerade, sich im Laufen die Hausschuhe von den Füßen streifend, in die kleine, offene Garderobe im Flur und öffnete einen Schrank, der Emily vorher noch nie wirklich aufgefallen war. Er fügte sich mit seinen glatten Türen und seiner Form so sehr in die Nische ein, dass man schon um die Ecke des kleinen Mauervorsprungs schauen musste, um ihn zu entdecken. Deswegen klappte ihr auch die Kinnlade herunter, als sie nun sah, was sich darin befand.

Über eine Höhe von bestimmt zwei Metern und einer Breite von einem Meter waren an die sechzig Paar Schuhe verteilt, die von schicken, schlichten Pumps über bequeme Ballerinas bis hin zu gefährlich hohen Partyschuhen reichten.

„Wow“, konnte Emily nur sagen und ließ dabei den Mund offen stehen. Joe suchte sich unterdessen etwas heraus, was zu ihrem Jeansrock, dem roten Blazer und dem dunkelblau und weiß gestreiften Top passte. Dazu trug sie ihre Haare in einem seitlichen Bauernzopf, der knapp unter dem Ohr wieder gewollt aufriffelte, sodass ihr die Spitzen lose auf der rechten Schulter hingen. Als Ohrringe trug sie kleine Anker, um den Hals eine goldene Kette, die wie ein Tau aussah.

Auch Aidan war leicht irritiert, hatte er die Designerin doch selten in etwas anderem als Jeans, Turnschuhe und Pulli oder Strickjacke gesehen. Gelegentlich hatte sie ihre schlichte Aufmachung mit einem bunten Tuch aufgepeppt, aber das war auch schon das Höchste der Gefühle gewesen. Daher nickte er ihr anerkennend zu. „Schick! Gefällt mir.“ Dabei schenkte er ihr sein breitestes Grinsen, was die Grübchen in seinen Wangen betonte.

Er selbst hatte sich auch etwas in Schale geworfen, trug ein weißes Shirt mit einem Aufdruck, dazu ein dunkelblaues Sakko, Jeans und einen Schal. Seine wieder länger werdenden Haare hatte er nach hinten gekämmt. Er trat ein, nachdem Emily ihm geöffnet und ihn dann wegen des Schuhschranks stehen gelassen hatte, und schloss die Tür.

„Hast du umgeräumt?“, fragte er interessiert und betrat das Wohnzimmer. Dabei sah er sich um und ließ sich schließlich auf dem Sessel nieder.

„Nein“, antwortete die Hausbesitzerin aus dem Schrank heraus. „Ich hab nur mal Frühjahrsputz betrieben.“ Sie hatte sich endlich für rote Pumps mit einer weißen Schleife vorne drauf entschieden und schlüpfte behände in sie hinein. Dabei starrte Emily abwechselnd ihre Freundin und den überdimensionierten Schuhschrank an, dem aber offenbar keinerlei weitere Beachtung geschenkt wurde.

Daher wedelte sie ungeduldig mit der Hand vor Joe herum, als die sich in eine weitere Unterhaltung mit Aidan über die Hausordnung verstricken wollte. „Entschuldigung“, sagte sie mit einem leichten Quietschen in der Stimme, „aber können wir uns noch einmal dem Schrank widmen? Wieso weiß ich davon nichts? Wieso hast du all diese tollen Schuhe und trägst sie nicht? Die sehen total unbenutzt aus.“

Joe zuckte hilflos die Schultern. Diese Frage hatte sie sich auch schon oft gestellt. Aber ein Laster musste jede Frau schließlich haben. Da es bei ihr weder Schmuck noch Taschen waren, waren es irgendwie Schuhe geworden.

Während sie nun doch endlich zum Auto gingen, versuchte Joe sich an einer Erklärung: „Schuhe passen irgendwie immer.“

„Ist das alles?“ Emily wirkte enttäuscht, als sie auf die Rückbank kletterte und ihrer Freundin den Beifahrersitz neben Aidan ließ. Doch Joe zuckte nur wieder hilflos die Schultern. Dass sie einem männlichen Wesen plötzlich auf so engem Raum so nah war, ließ sie ihre neu gewonnenen Selbstsicherheit wieder vergessen und sie rutschte zurück die alten Mustern, indem sie den Kopf zwischen die Schultern zog, sich brav anschnallte und bis zu den Studios kein Wort mehr sagte.

Dort angekommen half Aidan ihr galant aus dem Wagen, nachdem er auch Emily herausgeholfen hatte. Doch Joe hatte auf einmal gar keine Lust mehr, auf diese Party zu gehen. Ihre Füße schienen an der Fußmatte des Audi festzukleben, ihre Hände waren schwitzig und ihre Schultern zitterten unkontrolliert. Wieso war sie jetzt so schrecklich nervös? Eigentlich hatte sie sich doch auf die Party gefreut. Wieso nur musste sich ausgerechnet jetzt wieder ihre starke Unsicherheit großen Menschenmassen gegenüber regen und wie das Monster unter dem Bett hervorkriechen, sobald man sich sicher und geborgen fühlte? Was war passiert? Hatte Aidans schlichte Anwesenheit diesen Emotionsschub ausgelöst oder war es etwas anderes? Machte sie die Aussicht, auf jedem anderen an diesem Abend zu treffen, so kribbelig?

Hätte sie die Antwort gewusst, wäre sie ein ganzes Stück weiter gewesen. Doch so konnte sie sich nur von ihrer Freundin und dem jungen, gutaussehenden Schauspieler aus dem Wagen und in Richtung der Kantine zerren lassen. Beide ignorierten dabei ihren Protest.

Vor der Tür blieben sie schließlich doch kurz stehen, damit alle etwas verschnaufen konnten. Dabei stemmte Emily ungeduldig die Hände in die Hüften und sah ihre Freundin durchdringend an. „Was ist denn los mit dir? Wieso willst du denn jetzt nicht dahin gehen?“

„Ja“, pflichtete Aidan ihr bei, „das wird sicher lustig!“ Er legte die Stirn in Falten. „Vielleicht braucht sie ja ein bisschen Alkohol, um sich etwas lockerer zu machen. Was meinst du?“ Er sah Emily fragend an, die bestätigend mit dem Kopf nickte. „Gute Idee!“, sagte sie. „Sobald wir drinnen sind, besorge ich dir ein Glas Sekt. Der steigt schnell in den Kopf und löst dabei Spannungen und die Zunge.“

Im Gegensatz zu Emily schüttelte Joe aber nun heftig ihren Zopf, sodass er von einer Seite zur anderen gewirbelt wurde. „Nein, lieber nicht. Ich...“, sie zögerte, warf einen Blick nach hinten, „ich gehe besser wieder nach Hause. Ihr werdet sicher keinen Spaß mit mir haben heute Abend.“

„So ein Unsinn!“ Aidans Geduld war fast am Ende. Also packte er Joe bei den Händen und stemmte sich mit seinem Gewicht gegen ihres, was nicht sonderlich schwierig war, da er mindestens zwanzig Kilo mehr wog als sie. „Willst du nicht mit Richard feiern?“

Die Designerin stutzte. Eigentlich wollte sie das schon, aber irgendetwas hielt sie davon ab, über die Schwelle zu treten, hinter der sie schon laute Musik und ausgelassenes Gelächter hörte. „Das ist es nicht...“, setzte sie zu einer Erklärung an.

„Aber was ist es dann?“

In dem Moment öffnete sich die Tür zur Kantine und Richard kam heraus. Seine Wangen waren leicht gerötet und er wirkte, als hätte er entweder schon etwas getrunken oder gerade herzhaft gelacht, aber vermutlich war es beides. Seine Augen glänzten vor Freude auf, als er die drei sah. „Hallo!“, rief er mit seiner tiefen, dröhnenden Stimme und kam auf sie zu, um sie alle gleichzeitig zu umarmen. Dabei streifte sein mit Alkohol geschwängerter Atem Joes Wange. Sie hatte gar keine Zeit mehr zu protestieren, als er sie auch schon packte und nach drinnen zog. Wieso er rausgekommen war, hatte er bei ihrem Anblick wohl vergessen.

Drinnen schwappte ihnen der typische Party-Geruch entgegen, ein Gemisch aus Bier, anderem Alkohol, salzigem Knabberzeug und Schweiß. Das alles wurde von einer schrillen Musik überlagert, die von überall her gleichzeitig zu kommen schien. Und erst, als sie sich etwas genauer umgesehen hatten, fiel ihnen auf, dass es eine Bühne gab, auf der zwei Leute standen, die diese seltsame Musik erzeugten.

Bevor jemand etwas sagen oder tun konnte, schlenderte ein Kellner an ihnen vorbei, der ein Tablett mit kleinen Plastikbechern trug, in denen klare Flüssigkeit schimmerte. Richard nahm mit seinen großen Händen vier Stück davon auf einmal und reichte jedem einen. „Prost!“, sagte er. „Auf mich und Martin!“

Er wollte den Shot schon herunterkippen, als Martin hinter ihm auftauchte und besserwisserisch dazwischenwarf: „Das hießt: Martin und mich, du Esel!“ Auch er nahm sich eins von den kleinen Dingern, kam zu den vieren, die noch immer im Eingangsbereich herumstanden, und prostete ihnen zu. Mit zusammengekniffenen Augen tranken sie alle aus.

Etwas später hatten sich alle mehr oder weniger in dem großen Raum verteilt und unter die bereits anwesenden Gäste gemischt. Es war laut, es war stickig und es war voll, doch jeder schien sich zu amüsieren. Die Band, die sie beim Eintreten gesehen hatten, hatte sich als Andy Serkis und ein anderer Typ entpuppt, die wie von Sinnen auf ihren Saxophonen spielten und dazu mit dem Fuß über ein Keyboard den Rhythmus angaben. Mittlerweile hatten sie jedoch schon alles gegeben und die Musik kam nun von einem Laptop, den einer aus dem Art Department an die Verstärker angeschlossen hatte.

Andy hatte sich zur Orlando gesellt, der mit Lee, Luke und Evi zusammenstand. Die Zwerge hatten sich zu einer zweiten, größeren Gruppe zusammengerottet und standen um Martin herum, der wie ein Spielball in der Mitte hin und her pendelte und mit jedem nacheinander anstieß. Nur Richard hatte sich mit Joe neben Aidan und Emily an die Bar gesetzt, um etwas zu trinken.

Dean, der zwischen Graham und Adam stand, hatte Joe direkt bemerkt, als sie den Raum betreten hatte. Nicht, dass er sie gleich gesehen hätte, es war eher ein Gefühl gewesen, das er gehabt hatte. Doch dass sie mit Aidan gekommen war, verursachte ihm irgendwie Bauchschmerzen. Seit dem Gespräch mit Richard hatte er ein ungutes Empfinden, wenn er die beiden zusammen sah.

Doch woher kam das nur? Immerhin hatte sich nichts geändert. Oder etwa doch? War er vielleicht eifersüchtig? Und selbst wenn er sich das eingestehen würde, was natürlich völliger Unsinn war, war ihm immer noch nicht ganz klar, wieso das so plötzlich kam. Sein aktuelles Verhalten entbehrte jede Logik.

Er hatte das Gerücht gehört, dass Joe angeblich etwas mit Robert, seinem Vorgänger, gehabt haben sollte, doch so ganz hatte er sich das nie vorstellen können. In seinen Augen war sie nicht der Typ, der sich auf etwas einließ, was nicht klar geregelt und fest war. Deswegen konnte er sich auch nicht vorstellen, dass sie etwas mit Aidan anfing. Und doch waren sie hier zusammen erschienen. Sie hatten zwar noch Joes Freundin dabei gehabt, doch das konnte genauso gut nichts bedeuten.

Allerdings könnte es auch alles bedeuten.

„Alles in Ordnung, Deano?“ Graham ließ seinen schweren Arm auf Deans Schulter niederkrachen, was ihn beinahe in die Knie zwang. Schnell setzte er ein Lächeln auf, was, wie er hoffte, ungezwungen wirkte, doch an Grahams Gesichtsausdruck sah er, dass er scheiterte.

Der große Schotte folgte dem Blick des blonden Kiwi. Als er Joe und Richard an der Bar entdeckte, glättete sich seine zuvor in Falten gelegte Stirn. „Machst du dir Sorgen?“, fragte er, wartete aber keine Antwort ab, sondern fuhr direkt fort. „Musst du aber nicht. Jedenfalls nicht bei Richard.“ Er zwinkerte ihm verschwörerisch zu.

Doch Dean schüttelte nur den Kopf. „Ich mache mir keine Sorgen!“ Er konnte nur hoffen, dass alle anderen viel zu sehr mit Martin und seinen Scherzen beschäftigt waren, um diese Unterhaltung mitanzuhören. Er wollte sich gar nicht vorstellen, was Mark oder Jed wohl dazu sagen würden, wenn sie merkten, dass er…

Ja, was eigentlich? Empfand er etwas für Joe? Aber wieso? Sie war weder vom Äußerlichen sein Typ noch vom Wesen her. Sie sah zwar gut aus, aber normalerweise bevorzugte er starke Frauen, die wussten, was sie wollten. Mit eingeschüchterten Kleinkindern konnte er nichts anfangen. Und doch spürte er diesen wohlbekannten Stich in der Brust, wenn er sah, dass Richard Joe beruhigend eine Hand auf ihr Knie legte.

Und natürlich bemerkte Graham das. Sein lautes „Ich glaube dir kein Wort“-Lachen dröhnte durch die Kantine und lenkte Richards Aufmerksamkeit auf sie. Dabei trafen sich kurz die Blicke des Briten und des jungen Neuseeländers und Dean war, als würde Richard genau wissen, was gerade in ihm vorging.

Mit hochrotem Kopf kippte Dean seinen letzten Drink, verkündete schnell, dass er sich etwas Neues holen würde, und verschwand dann wieder. Nachdem er seinen nächsten Drink beinahe in einem Zug runtergespült hatte, wurde das Gewicht der Bänder, die sich um seinen Brustkorb geschlungen zu haben schienen, etwas weniger unerträglich. Der Alkohol ließ seinen Geist etwas leichter werden und die negativen Gedanken verschwanden.

Dabei jedoch schob sich wieder dieses seltsame Gefühl nach vorne, das ihn seit neustem überkam, wenn er Joe ansah. Wütend über sich selbst, weil sich sein Körper offensichtlich gegen seinen Geist verschworen hatte, biss er sich auf die Zunge. Diese Party verlief ganz und gar nicht so, wie er gehofft hatte!

Mit jedem weiteren Wort, das er mit den anderen wechselte, und mit jedem weiteren Schluck, den er trank, wuchs die Idee, ein Gespräch mit ihr suchen zu wollen. Je mehr Alkohol er in sich hineinschüttete, desto mehr verschwanden seine Hemmungen ihr und seinen eigenen Zweifeln gegenüber, und desto wahnsinniger wurden seine Ideen, was er wohl als nächstes sagen könnte. Die Art, wie sie auf diesem Stuhl saß, so klein und eingeschüchtert, das machte ihn fast verrückt. Am liebsten wäre er hingegangen, hätte sie von dem Barhocker in seine Arme gerissen und ihr einen Kuss aufgedrückt, bis sie keine Luft mehr bekam. Doch ein Blick auf Richard, der neben ihr saß, ließ ihn fast wieder nüchtern werden.

Sein Kollege beobachtete ihn schon eine ganze Weile. Und jedes Mal, wenn Dean erneut zu Joe hinübersah, wurde der ältere Brite nervöser. Was hatte sein junger Co-Star nur vor? Wollte er sie wieder vor allen Leuten blamieren? Es war schon etwas, was einem achten Weltwunder gleichkam, dass Joe überhaupt mit ihnen vor die Tür gegangen war.

Schützend drehte er sich noch ein bisschen weiter um, bis er mit seinem breiten Rücken nun beinahe Joes gesamte Gestalt verbarg. Das würde Dean hoffentlich zeigen, was er von seinem Mienenspiel hielt, ohne dass es zum Debakel kommen musste. Er hätte gerne Aidan zur Seite genommen und ihm aufgetragen, seinen Filmbruder nach Hause zu bringen. Doch Aidan war damit beschäftigt, sich bei Emily einzuschleimen, die die Aufmerksamkeit des gutaussenden Iren sichtlich genoss. Dass ihre beste Freundin sich dabei wie das fünfte Rad am Wagen fühlen musste, weil Emily nicht nur einen festen Freund zu Hause hatte, sondern auch hier auf ungeteilte Aufmerksamkeit eines anderen Mannes genoss, entging ihr offensichtlich.

„Möchtest du noch etwas trinken?“, fragte er Joe daraufhin charmant, um sie ein bisschen von dem Geturtel links neben sich abzulenken. Vielleicht würde ja ein neues Gespräch in Gang kommen.

Zu seinem Erstaunen nickte sie und hob ihr Bier. Er nahm ihre leere Flasche entgegen und ging hinüber zur Bar, um zwei Neue zu bestellen. Vielleicht würde sie durch den weiteren Konsum auch ein bisschen lockerer werden.

Seine Abwesenheit ausnutzend löste sich Dean sofort aus der Gruppe der Zwerge, als er sah, dass Richard sich entfernte. Schneller, als seine Füße es wollte, hastete er auf Joe zu. Er wollte ihr so viel sagen, sich bei ihr entschuldigen, ihr sagen, dass er sie mochte, sie in den Arm nehmen und anschließend nach Hause tragen. Doch alles, was er herausbrachte, war: „Deine Beine!“

Joe war zurückgewichen, als er ihr immer näher kam, sich fast über sie beugte, bis sie nur noch an der Theke hinter sich Halt finden konnte. Das hatte ihn dazu gebracht, auf ihre Oberschenkel zu starren, die ausnahmsweise Mal nicht in einer Jeans oder Jogginghose steckten, sondern in Nylonstrümpfen. Was sie geritten hatte, einen Rock zu tragen, wusste sie nicht mehr, doch sie bereute es in diesem Moment so sehr wie noch nie in ihrem Leben, nicht einfach zu Hause geblieben zu sein. Wieso musste das immer ihr passieren? Das konnte doch wieder nur in einer Katastrophe enden.

Zu ihrem Entsetzen aber hörte sie sich sagen: „Was ist mit meinen Beinen?“ Innerlich schrie sie sich selbst jedoch nur zu, als bestünde sie in diesem Moment aus zwei Persönlichkeiten: Halt die Klappe, Joe! Halt einfach die Klappe!

Nach den richtigen Worten suchend wedelte Dean mit seiner Hand vor ihrem Gesicht herum. „Du weißt schon“, lallte er leicht, was Joe zeigte, wie sehr er schon betrunken war. „Diese Art, wie du damit gehst… Das ist mehr als nur Gehen.“

Verwirrt zog sie ihre linke Augenbraue nach oben, was seine Aufmerksamkeit auf ihr Gesicht lenkte. „Und deine Augen!“ Er zeigte mit seinem Finger darauf. „Die können so viel mehr als nur gut gucken. Verstehst du?“

„Nein“, sagte sie laut, ehrlich verwirrt.

Doch nicht nur über ihre plötzliche Fähigkeit, eine fast vernünftige Unterhaltung zu führen, war sie verwirrt. Sie war auch tatsächlich ziemlich irritiert von Deans Aussagen. Wie viel hatte er getrunken? Und wie viel hatte sie selbst getrunken, dass sie ihn auch noch dazu ermutigte, weiterzureden? Sie musste das nächste Bier ganz dringend auslassen.

Der junge Kiwi seinerseits kam jedoch jetzt erst in Fahrt. Seine eigenen Augen tasteten nun ihr Gesicht ab, sogen jedes Detail in sich auf, bis er davon überzeugt war, ein Phantombild von ihr zeichnen zu können, auch wenn er gar nicht zeichnen konnte. Bis er bei ihren Lippen ankam.

Schlagartig war sein Gehirn wie leergefegt. Er wusste nicht mehr, wer er war, wie er hierhergekommen war und wo „hier“ überhaupt war. Das einzige, was er noch wusste, war, dass er sie küssen wollte. So langsam, als hätte jemand die Slow-Motion-Taste auf einem Videorekorder gedrückt, kam er ihr noch etwas näher. Dabei flüsterte er mit seinem Bieratem: „Und deine Lippen, die können so viel mehr als nur Trinken.“

Im letzten Moment schaffte Joe es, ihm auszuweichen. Dabei stieß sie Emily an, die sich gleich zu ihr umdrehte. Auch Aidan fragte sich, was da wohl los war, und folgte dem Blick seiner Flirtpartnerin. Und genau in dem Moment, in dem Joe zum Sprechen ansetzte, kehrte ein leicht wütender Richard mit zwei Bier in der Hand zu ihren Hockern zurück. So konnten alle vier Anwesenden hören, was die blonde Designerin in diesem Moment sagte.

„Und dein Gehirn kann scheinbar im Moment weniger als nur Denken.“

Unisono klappte allen die Kinnlade herunter.

Eine Weile war es so still in ihrer Ecke des Raumes, dass es wirkte, als habe sich eine Blase aus Schweigen über sie gelegt und schirmte sie vom restlichen Geschehen ab. Dann wurde Joe als erste wieder wach. Ohne weiter darüber nachzudenken, was da gerade passiert war, griff sie sich ihre Tasche und stürmte nach draußen. Dabei ließ sie die anderen verwirrt zurück.

Als sie gegangen war, musste Dean ein paar Mal hart schlucken. Er kratzte sich am Kopf, als wäre er gerade aus einer Trance erwacht. Richards Blick dabei ausweichend entschuldigte er sich halbherzig und ging zu den anderen Zwergen zurück. Den Rest des Abends versuchte er zu verdrängen, was passiert war. Doch irgendwie gelang ihm das nicht so ganz. Als er später auf dem Weg nach Hause war, beschlich ihn das Gefühl, dass er dieses Mal vielleicht tatsächlich zu weit gegangen war. Etwas hatte sich verändert. Und wenn er Pech hatte, würde danach nichts mehr so sein wie vorher.

© by LilórienSilme 2015

  • facebook-square
  • Instagram schwarzes Quadrat
  • Twitter schwarzes Quadrat
bottom of page