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Kapitel 31

~ Keine Spuren hinterlassen

 

„Was meinst du damit, alle drei sind weg?“ Verstört blickte ich meinen Gemahl an. Ich konnte nicht verstehen, was er sagte. Wieso waren drei Kinder verschwunden? Welches Dritte könnte er meinen?

 

Und dann, als Legolas weiter schwieg, fiel mir die Stille im Haus auf. Normalerweise war Mîram ein Mädchen, das immer sehr früh wach war. Meist kam sie bereits zur sechsten Stunde nach unten in den Wohnraum und begann damit, das Frühstück vorzubereiten. Doch heute war es schon nach Sieben und sie war immer noch nicht herunter gekommen. „Aber wie“, begann ich, konnte den Satz jedoch nicht zu Ende sprechen. Ich wollte mir gar nicht erst ausmalen, was letzte Nacht passiert sein konnte.

 

Wie hatten wir es nur nicht hören können, dass unsere Kinder fort waren? Vermutlich hatten sie eine Zeit abgepasst, in der Silme friedlich geschlafen hatte. Und wie bei jeden Eltern, die ein Neugeborenes bei sich hatten, nutzten wir jede Minute, in der es nicht unsere Aufmerksamkeit bedurfte.

 

Legolas war mit wenigen Schritten bei mir, setzte sich auf die Lehne des Sessels und streichelte über mein Haar. „Mach dir keine Sorgen, meleth-nîn. Ich habe keinerlei verdächtige Spuren entdecken können. So, wie es aussieht, hat sie ihren Mantel genommen und ist einfach heraus spaziert.“

 

Er deutete auf unsere Haustüre und dabei fiel mir wieder ein, was ich heute Nacht bemerkt hatte. Doch ich hatte es als ein Versehen abgetan. „Unsere Türe war nicht von innen verriegelt, als ich heute hinunter kam“, sagte ich. „Glaubst du, sie ist einfach hinaus gegangen? Vielleicht hat sie den beiden geholfen, aus ihren Zimmern zu entfliehen und ist mit ihnen einfach ausgeritten, weil sie uns Angst einjagen wollen.“ Hoffnung keimte in mir, doch ich hatte ein ungutes Gefühl tief in meinem Herzen.

 

„Hoffen wir einfach“, sagte er und drückte mir einen Kuss auf den Scheitel, „dass sie heute Abend wieder nach Hause kommen.“

 

Doch sie kamen nicht. Weder Nefertirî, noch Mîram, noch Sahîrim. Auch fehlte nur eines der Pferde und es kam mir doch reichlich merkwürdig vor, dass sie alle drei auf einem Pferd davon geritten waren. Ich beschloss also, Rochanu nach ihnen suchen zu lassen. Der Herr über die Ställe war natürlich sofort bereit und noch vor Sonnenuntergang brach er auf. Seine Gemahlin Lalwen wirkte nicht sehr erfreut darüber, doch sie sagte nichts.

 

Ich legte ihr eine Hand auf den Arm. „Es tut mir leid, dass ich dir deinen Mann nehme heute Nacht.“ Ich sah sie dankbar an und streichelte über den Stoff ihres Kleides. Sie war eine zierliche Elbe, doch sie hatte einen festen Willen.

 

„Es ist schon in Ordnung“, sagte sie. „Ich würde nicht anders handeln, wenn es um meine Kinder gehen würde.“ Mit diesen Worten zog sie ihren einzigen Sohn näher zu sich heran. Es versetzte mir immer noch einen kleinen Stich, wenn ich daran zurück dachte, dass Legolas und ich uns so sicher waren, einen Jungen zu erwarten. Und nun würde ich vermutlich nie wieder einem Kind das Leben schenken können, so mühlselig war Silmes Geburt gewesen.

 

Doch ich rief mich selbst zur Ordnung. Dass ich überhaupt drei Kinder geboren hatte, war ein Wunder. Nein, es waren sogar gleich derer drei. Wie konnte ich da nur daran denken, dass ein Wunder weniger wert war, weil es kein Junge geworden war? Ich liebte meine Silme sehr, denn sie erinnerte mich an meine Mutter. Und vermutlich hätte ich sie nicht mehr lieben können, wenn sie wie mein Vater gewesen wäre.

 

Ich verabschiedete mich von Lalwen, dann ging ich mit meiner Tochter hinaus aus der Stadt und zum Máhanaxar. Dort ließ ich mich auf die Knie nieder, breitete mein Schultertuch auf dem weichen Rasen aus, der bereits feucht war von der Abenddämmerung, und legte Silme darauf nieder. Dann begann ich, ein Gebet zu sprechen.

 

Ich betete zu Varda, dass sie mir meine Kinder wohlbehalten wiederbringen und dass sich alles doch noch zum Guten wenden möge. Ich betete für Sahîrim, dass er seine innere Stärke finden und entscheiden könnte, was Richtig und was Falsch war. Und ich betete für Lalwen und Rochanu, dass sich beide bald wieder heil in die Arme schließen konnten.

 

Als ich geendet hatte, war es bereits dunkel und Silme rief nach ihrer Mahlzeit. Sie war noch so winzig und zerbrechlich, dass ich es kaum über mich brachte, sie aus den Augen zu lassen. Nur gelegentlich, wenn mich ihr Weinen erschöpfte, überließ ich sie ihrem Vater.

 

Zu Hause wartete bereits das Abendessen auf mich. Meine Cousine Ithil-dî war zu uns gekommen und hatte etwas gekocht, denn Legolas hatte sie von unserer Situation in Kenntnis gesetzt. Auch ihr Gemahl Telperion und ihr Sohn Thalion saßen mit uns zusammen. Doch ich konnte nichts herunter bringen. Zu tief saß die Sorge um meine beiden Mädchen. Und zu sehr waren meine Gedanken mit dem Ablauf der letzten Nacht beschäftigt. Noch immer konnte ich nicht begreifen, was geschehen war.

 

Wären nur meine Älteste und Sahîrim verschwunden, wären die Umstände etwas klarer gewesen. Das hätte zwar noch nicht erklärt, wie sie aus ihren Zimmern gekommen waren, doch zumindest wäre die Intention der beiden gewiss gewesen. Sie fürchteten, dass wir sie auseinander bringen wollten. Doch das hatten wir gar nicht vor. Zumindest hatte ich es nicht vor.

 

Natürlich war es ein Schock für uns gewesen zu erfahren, wer Sahîrim tatsächlich war. Doch nur sein Name machte ihn nicht gleich zu einem Scheusal. Er liebte meinte Tochter, das konnte ich in seinen Augen sehen. Und wie konnte jemand, der aufrichtig liebt, böse sein?

 

Auch in der Nacht fand ich keinen Schlaf. Ich legte mich von einer Seite auf die andere, bis ich es nicht mehr aushielt. Ich wollte Legolas nicht wecken und so ging ich zu der Wiege, nahm meine Tochter hinaus und ging mit ihr nach unten. Sie schlief friedlich in meinen Armen weiter, und so nahm ich in meinem Sessel Platz.

 

Das Feuer glomm nur noch und ich konnte die Schatten an den Wänden sehen. Sie schienen zu tanzen, mich zu locken oder mich fern halten zu wollen, ganz wie es ihnen in diesem und in jenem Moment gefiel. Ich beobachtete sie eine Weile, bis meine Augen müde wurden und ich sie schloss.

 

Doch auch meine Träume brachten mir keine Ruhe. Ich sah das Leid vergangener Tage, die Schmerzen der Krieger auf dem Feld, das Leid der Hinterbliebenen, die Trauer der Einsamen. Ich konnte selbst im Traum spüren, dass uns etwas bevor stand. Und das sah ich nicht nur, weil Varda es mir gesagt hatte. Jetzt konnte ich es selbst sehen. Ich konnte sehen, wie eine Armee sich auf unsere Siedlung zubewegte, wie sie über uns herfielen, die Unbewaffneten niederstreckten und gegen die Bewaffneten nur noch ärger vorgingen. Und zum Schluss blieb nur noch ein Gesicht mir vor Augen stehen.

 

Silmes Schrei weckte mich. Doch selbst als meine Augen wieder aus der Ferne des Schlafes wiederkehrten, stand noch immer Sahîrims Gesicht vor mir. War er es, der den Tod und das Verderben über uns bringen würde?

 

Ich legte die Kleine an meine Brust und dachte darüber nach. Ich hatte meine Voraussicht verloren. Vielleicht war es nur ein einfacher Traum gewesen, der die Realität mit der Fantasie verbannt. Vielleicht war es nur ein Albtraum gewesen und mehr nicht. Doch so richtig wollte ich das nicht glauben.

 

Als das erste Licht des Tages anbrach und Legolas zu mir herunter gekommen war, übergab ich ihm unsere Tochter und machte mich auf den Weg zu den Ställen. Aber Rochanu war noch nicht zurück gekehrt. Die Box seines Reittiers war noch leer und so legte ich meinen Kopf an die Stirn des mir am nächsten stehenden Pferdes. Ich spürte seinen Atem und roch seinen Duft.

 

Wie sehr ich Alagos, meine Stute aus Mittelerde, vermisste, wurde mir erst jetzt richtig bewusst. Sie war eine treue Begleiterin für mich gewesen und ich hatte sie im Osten zurückgelassen. Ob sie es mir übel nahm? Oder hatte sie wohlmöglich dort ihr Glück gefunden? Ich hoffte es so sehr.

 

Das aufgeregte Getrappel von Pferdehufen schreckte mich aus meinen Gedanken auf und ich sah Rochanu im ersten Sonnenstrahl heranpreschen. Sein Gesicht glänzte von Schweiß und seine Haare klebten an seiner Stirn. Sein Gesicht war gerötet und ich musste nicht erst fragen, bevor ich wusste, was der Ausdruck in seinen Augen zu bedeuten hatte.

 

„Du hast sie nicht gefunden“, sagte ich zu ihm. Er hörte, dass es keine Frage, sondern eine Feststellung war. Doch er schüttelte zur Bekräftigung den Kopf. „Nein, Herrin. Es tut mir leid.“ Er saß von seinem Pferd ab, führte es in den Stall und in seine Box. Dort begann er es mit Stroh trocken zu reiben und berichtete mir, was er gesehen hatte. „Ich bin ihrer Spur etwa zwei Stunden lang in die Ebene gefolgt. Doch ich verlor sie in einem Wäldchen. Dort war sie kaum noch sichtbar durch die Bäume und ich musste umkehren.“

 

Er hielt inne und sah mich eindringlich an. Das war noch nicht alles, was er zu berichten hatte, dachte ich. Und er bestätigte meinen Verdacht, als er fortfuhr. „Als ich auf dem Rückweg war, bemerkte ich eine zweite Spur, die meinen Weg kreuzte. Ein einzelner Reiter, jedoch schwer beladen, ritt Richtung Nordwesten. Ich fragte mich, wer zu so später Stunde noch in diese Richtung unterwegs war, denn diese zweite Spur lag eindeutig über der ersten.“

 

„Bist du auch dieser Spur gefolgt?“

 

Er nickte. „Das bin ich, Herrin. Doch als ich weitere zwei Stunden geritten war, war mir klar, wohin diese Spur führte.“ Sein Blick hielt meine Augen fest und ich ahnte nichts Gutes. „Dieser Reiter ist zu den Klippen unterwegs, Herrin.“

 

Ich musste diese Nachricht erst einmal verdauen. Was konnte das nur bedeuten?

 

Zu Hause übergab Legolas mir wieder unsere Jüngste. „Ich hatte schon Angst, du kommst auch nicht wieder“, sagte er mit leichter Ironie in der Stimme und küsste mich auf die Wange. Ich gab ihm einen spielerischen Klaps auf den Oberarm. „Darüber solltest du keine Scherze machen, Liebster.“

 

„Natürlich, entschuldige.“ Er gab mir einen richtigen Kuss und immer noch konnte ich das Kribbeln spüren, wenn sich unsere Lippen berührten. Das hatte sich auch nach über vierzig Jahren Ehe nicht geändert.

 

Während ich mich setzte spürte ich, wie Silme sich in meinen Armen wand. Sie schien Hunger zu haben und musste neu gewickelt werden. „War Delia noch nicht hier?“, fragte ich verwundert, als ich die Überbleibsel unseres Abendessens noch im Spültrog sah. Legolas schüttelte den Kopf. „Ich habe sie seit vorgestern Abend nicht mehr gesehen. Auch gestern war sie nicht hier.“

 

Das musste ich völlig vergessen haben. Ich war so sehr in die Sorge über meine Kinder vertieft, dass ich nicht bemerkt hatte, dass unser Hausmädchen nicht gekommen war. Natürlich war sie keine Dienstmagd, sondern kam, wann sie Zeit für meinen Haushalt entbehren konnte. Doch normalerweise war sie recht zuverlässig.

 

„Ich werde nachher nach ihr sehen“, versprach mein Gemahl mir und setzte Wasser zum Kochen auf. Doch wieder konnte ich nicht viel herunter bringen. Schließlich gab ich auf und brachte Silme nach oben in ihr Bettchen. Als ich danach wieder herunter kam, sagte ich: „Irgendetwas geht doch hier vor sich“, und begann, auf und ab zu laufen. „Unsere Kinder sind verschwunden und Delia ist auch nicht hier. Und Rochanu hat mir berichtet, dass gestern Nacht zwei Spuren aus der Siedlung hinaus geführt haben. Was, in Erus Namen, kann das nur bedeuten?“

 

„Davon hast du mir noch gar nichts berichtet“, sagte er. Interessiert musterte er mich.

 

Ich atmete ein paar Mal tief durch, dann setzte ich mich wieder. Es nützte nichts, wenn ich mich nun aufregte. „Erst ist er der Spur von Nefertirîs Stute, die er gut kennt, gefolgt. Doch er hat sie in einem Wäldchen verloren. Auf dem Rückweg jedoch fiel ihm auf, dass eine zweite Spur die erste kreuzte. Und diese führte zu den Klippen.“

 

Erst sagte er nichts, vermutlich weil er darüber nachdenken musste. Dann sah er mich wieder an. „Was denkst du?“, fragte er.

 

„Ich denke, dass hier etwas nicht stimmt. Entweder haben sich Nefertirî und Sahîrim noch in der Stadt getrennt und sind in verschiedene Richtungen geritten, um mögliche Verfolger zu verwirren. Oder“, und ich wagte kaum, es auszusprechen, „jemand hat eine meiner Töchter aus ihrem Bett heraus entführt.“ Ich schlug mir die Hände vor mein Gesicht, den Tränen nahe. Sofort war er bei mir, legte einen Arm um meine Schultern und sagte: „Aber nein, Liebste. Es gibt noch viele andere Möglichkeiten. Vielleicht hat Delia Mîram nur auf einen nächtlichen Ausflug mitgenommen.“

 

„Ohne uns zu fragen? Das halte ich für sehr unwahrscheinlich.“

 

„Nun, dann... Dann weiß ich es auch nicht.“ Resignierend seufzte er. Auch er schien mit seiner Weisheit am Ende zu sein. Was konnten wir nur tun?

 

Bevor wir jedoch zu einer Lösung kommen konnten, öffnete sich die Türe und Delia erschien. Sie wirkte vollkommen gelassen und lächelte mich an. Doch mein Blick ließ ihr das Lachen auf den Lippen erstarren. „Was ist denn geschehen, Herrin?“

 

Anstatt einer Antwort stellte ich ihr eine Gegenfrage. „Wo bist du gestern gewesen?“

 

Sie stutzte leicht, machte sich innerlich zur Abwehr bereit. Hatten wir etwa irgendetwas von ihrem Plan erfahren? Doch sie konnte es sich nicht vorstellen. Sie musste so lange die Form wahren, wie es nur irgend möglich war. „Ich bitte um Entschuldigung, Herrin, doch gestern verlangte mein eigener Haushalt nach mir. Es tut mir leid, falls ich Euch damit im Stich gelassen haben sollte. Ich werde sogleich mit der Arbeit beginnen!“ Und zum Zeichen dafür, dass es ihr aufrichtig leid tat, krempelte sie sich ihre Ärmel hoch und ging auf den Spülzuber zu.

 

Resignierend barg ich meinen Kopf in meinen Händen. Legolas erhob sich wieder, ließ jedoch eine Hand beruhigend auf meinem Rücken liegen. „Es tut mir leid, Delia“, sagte ich und sah wieder auf. „Ich hätte dich nicht rügen sollen. Es ist nur so, dass ich einen schlechten Tag und eine noch schlechtere Nacht hinter mir habe. Natürlich hast du noch andere Aufgaben als mir im Haus zu helfen. Es tut mir wirklich leid.“

 

„Aber nicht doch, Herrin!“ Ihr Gesicht hatte sich wieder aufgehellt, doch irgendetwas lag in ihren Augen, was ich nicht ergründen konnte. „Es ist schon in Ordnung“, sagte sie und verschwand mit dem Eimer, um Wasser zu holen.

 

Was ich nicht sehen konnte, war ihr Grinsen, als sie uns den Rücken zugekehrt hatte. Ihre Augen verdunkelten sich und sie zeigte ihre Zähne. Der teuflische Plan ging auf. Während Carim mit dem Mädchen unterwegs zu den Klippen war, herrschte in Valmar bereits Verwirrung. Wenn sie es geschickt anstellte, würde bis zu Delos‘ Eintreffen ein heilloses Durcheinander herrschen. Und dann würde ihnen die Siedlung und alles andere wie eine reife Frucht in die Hände fallen.

© by LilórienSilme 2015

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