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Kapitel 30

~ Entführung

 

Die Vorbereitungen für die Ausführung des Plans liefen bereits seit ein paar Tagen. Delia hatte sich alles genauestens überlegt und nun mussten sie und Carim nur noch auf eine günstige Gelegenheit warten.

 

„Bist du dir sicher, dass wir es so tun wollen?“, fragte er, als sie abends gemeinsam am Tisch saßen und ihr Abendessen zu sich nahmen. Wieder schien er nicht besonders großen Appetit zu haben, denn er aß ein paar Bissen, dann schob er den Teller wieder von sich. Ihm behagte es nicht, diesen Plan auszuführen. Es bereitete ihm sogar regelrechte Bauchschmerzen.

 

Als Delia ihm eröffnet hatte, dass sie keinen Diebstahl, sondern eine Entführung plante, war ihm das Herz gehörig in die Stiefel gerutscht. Doch als er erfahren hatte, wen er entführen sollte, war ihm schier der Atem gestockt. „Ein kleines Mädchen?“, hatte er ungläubig gerufen und sogleich eine Schelte dafür erhalten, weil er zu laut geworden war.

 

„So klein ist sie gar nicht mehr“, hatte Delia gesagt. „Außerdem hat es dein Vater selbst geschrieben: das Liebste, was sie besitzt. Und lieber als die eigenen Kinder hat man nichts.“

 

Carim hatte verächtlich geschnaubt. „Und woher weißt du das so genau? Du hast doch gar keine Kinder.“ Er hatte Glück gehabt, dass er so gute Reflexe hatte, sonst hätte Delias Hand ihn vermutlich direkt im Gesicht erwischt. So hatte er ihrem Schlag ausweichen können, hatte die Hände gehoben und gesagt: „Schon gut, schon gut. Wie sieht das Mädchen aus?“

 

Sie hatte sich wieder in ihrem Sessel zurück gelehnt, die Hände aneinander gelegt und ihn darüber hinweg gemustert. Ein für ihn nicht zu deutendes Lächeln hatte ihren Mund umspielt und es hatte ihm auf eine gewisse Art und Weise Angst eingejagt. „Du kannst sie gar nicht verfehlen“, hatte sie gesagt, war jedoch von ihm sogleich unterbrochen worden.

 

Ich kann sie gar nicht verfehlen?“, hatte er gesagt und war aufgestanden. Wieder hatte er die Hände in die Luft gehoben. „Einen Moment. Soll das etwa heißen, dass ich alleine diesen großartigen Plan durchführen darf? Du wirst mir nicht helfen?“

 

„Das haben wir doch schon besprochen.“ Genervt hatte sie mit den Augen gerollt. „Du wirst das Mädchen entführen und ich werde hier die Stellung halten, bis du mit deinem Vater und seinen Schwertern und Speeren zurückkehrst. Das einzige, wobei ich dir noch helfen kann, sind die Vorbereitungen. Die Entführung selbst musst du alleine durchführen. Ich werde dir dein Pferd bereit stellen, genau hinter der Großen Halle. Mehr kann ich nicht für dich tun, sonst könnte ein Verdacht auf mich fallen. Und das möchte ich um jeden Preis verhindern.“

 

Noch immer wurde er wütend, wenn er daran zurück dachte. Sie ließ ihn völlig alleine damit und er musste sich die Hände schmutzig machen, während sie gemütlich in ihrem Haus darauf wartete, dass sein Vater sie auslösen würde von dieser Bürde.

 

„Natürlich bin ich mir sicher“, sagte sie, griff nach dem letzten Stück Brot, tunkte es in den Eintopf und verspeiste es genüsslich. „Der Plan ist so gut wie unfehlbar. Selbst für dich.“

 

Dieses Mal sparte er sich, darauf zu reagieren. Er war zu müde, um einen Streit auszufechten. Wenn er den Tag über in seinem Versteck verbrachte, fühlte er sich abends immer wie gerädert. Dort oben konnte er keine Sekunde ausruhen. Er war die ganze Zeit über angespannt, um eine möglichst angenehme Position zu finden. Doch abends fühlte er jeden Muskel. Er fühlte sogar Muskeln, von denen er vorher noch nicht einmal etwas geahnt hatte.

 

„Sag mir noch einmal, wie das Mädchen aussieht“, bat er, obwohl er es bestimmt schon an die zehn Mal gehört hatte. Doch noch immer konnte er es nicht glauben. Er wollte es einfach nicht glauben.

 

Delia schluckte ihren letzten Bissen hinunter, lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und sah ihn an. Sie beobachtete ihn genau, während sie ihm die Beschreibung des Mädchens noch einmal aufsagte. Sie hatte bemerkt, dass er sie schon einmal gesehen haben musste. Und sie musste ihm gefallen haben, so entsetzt wie er beim ersten Mal reagiert hatte, als sie es ihm gesagt hatte. „Sie ist groß gewachsen für ihr Alter, schlank, hat blaue Augen und silberne Haare. Wie gesagt: du kannst sie gar nicht verfehlen.“

 

„Das befürchte ich auch“, sagte er. Sein Kopf sank auf seine Arme und er stieß einen tiefen Seufzer aus. Der Preis, den er für die Liebe seines Vaters zahlte, war sehr hoch. Vielleicht war er sogar zu hoch.

 

Doch dann rief er sich zur Ordnung. Er hatte das Mädchen erst einmal am Brunnen gesehen. Er hatte noch nicht einmal mit ihr gesprochen. Wie konnte er dann wissen, dass sie das war, was er in ihr sah? Vielleicht war sie auch ganz anders, unfreundlich, unhöflich und verzogen.

 

Aber tief in seinem Herzen wusste er, dass sie ganz und gar nicht so war. Sie sah aus wie eine wohlerzogene junge Dame, die intelligent war. Und der besorgte Blick, den er bei ihr gesehen hatte, als sie Wasser aus dem Brunnen geholt hatte, deutete darauf hin, dass sie jemanden hatte, den sie liebte. Vielleicht ihre Schwester oder ihr Bruder, ihr Vater, ihre Mutter, oder, wenn er daran glaubte, dass ihm nichts Gutes vergönnt war, ein Junge, dem ihr Herz gehörte. Und vermutlich würde er es bald herausfinden.

 

„Du wirst jetzt den Tisch abräumen“, sagte Delia und holte ihn damit aus seinen Gedanken heraus. „Dann wirst du dich bereit halten, wie auch schon die Nächte zuvor. Leg dich hinter ihrem Haus auf die Lauer und beobachte es. Und wenn die Gelegenheit günstig ist, greifst du zu. Dein Pferd wird, wie immer, gesattelt und bepackt auf die warten. Wenn der Morgen graut, kehrst du noch vor dem ersten Licht in mein Haus zurück. Verstanden?“

 

„Wir machen das jetzt schon seit drei Nächten“, sagte er genervt, stellte die Teller zusammen und trug sie zur Waschschüssel. „Langsam weiß ich, wie der Plan aussieht.“ Sie warf ein Tuch nach ihm, was er geschickt auffing und über das Becken hing.

 

„Dann stell dich nicht dümmer, als du bist“, fauchte sie. „Ich habe das Gefühl, dass es heute günstig ist. Ich konnte einen Streit im Haus mit anhören. Vielleicht haben wir heute Nacht Glück. Und jetzt verschwinde!“ Bevor noch mehr Gegenstände nach ihm fliegen konnten, huschte er zur Tür hinaus. Er drückte sich an die Hauswand in den Schatten und horchte in die Dunkelheit. Mittlerweile kannte er den Weg auswendig und hätte ihn beinahe mit verbundenen Augen gefunden. Und so dauerte es auch nicht lange, bis er schließlich wieder in demselben Busch wie schon die Nächte zuvor verschwand, sich so klein machte, wie er nur konnte, und seine Augen auf das Haus vor ihm heftete.

 

Drinnen im Haus war es jedoch schon ruhig. Er konnte noch den schwachen Schein des Feuers sehen, der durch das rückseitige Fenster drang. Ansonsten war alles dunkel. Die Fensterläden im oberen Stockwerk waren bereits geschlossen und es schien, als würde alles schlafen. Er machte sich für eine weitere ereignislose Nacht bereit, als er plötzlich etwas hörte.

 

Eines der oberen Fenster ging auf und eine Gestalt schob ihren Kopf hinaus. Zunächst erkannte er nichts, doch als die Gestalt sich auf den Sims schwang und die Beine nach unten baumeln ließ, erkannte er seinen Bruder. Carims Herz zog sich zusammen, als er Sahîrim dort oben sah. Am liebsten wäre er zu ihm gelaufen, hätte ihm alles erzählt und ihn angefleht, mit ihm zurück nach Hause zu kommen. Doch er wusste, dass das nicht geschehen würde. Sein Bruder sah jedes Mal, wenn er Wasser holte, viel zu glücklich aus, als dass er dies alles wieder hinter sich gelassen hätte. Irgendetwas musste er gefunden haben, was ihn hier festhielt.

 

Vorsichtig ließ Sahîrim sich nach unten gleiten, hielt sich mit den Händen so lange am Sims fest, bis er völlig lang gestreckt hinunter hing. Dann ließ er vorsichtig los. Er landetet leichtfüßig auf dem Boden, machte dabei nicht das geringste Geräusch. Doch anstatt sofort das Weite zu suchen, wie Carim es erwartet hatte, blickte er unverwandt nach oben.

 

Sie mussten beide eine Weile warten, bis sich endlich etwas tat. Doch dann erschien ein zweiter Kopf im Fenster. Carim konnte nichts erkennen, weil derjenige eine Kapuze trug, doch sein Bruder schien genau zu wissen, auf wen er dort wartete. Er streckte der Gestalt seine Arme entgegen und winkte ihr aufmunternd zu. Zögerlich schob die Gestalt nun ihre Beine über das Fensterbrett in die Nacht.

 

„Nun komm schon“, flüsterte Sahîrim hinauf. „Ich werde dich auffangen. Es kann dir nichts geschehen.“ Er nickte noch einmal bekräftigend, dann endlich ließ die Gestalt auf dem Fensterbrett los. Behände fing Sahîrim sie auf und Carim musste feststellen, dass es ein Mädchen war. Ob sie der Grund war, warum sein Bruder sich hier so wohl fühlte?

 

Sie musste der Grund sein, denn Carim wurde offenbar Zeuge eines Fluchtversuches. Sein Bruder war gerade dabei die Hand des Mädchens zu nehmen und mit ihr davon zu laufen, als von oben eine dritte Gestalt ihren Kopf zum Fenster hinaus steckte. Carim biss sich auf die Zunge, um nicht genervt aufzustöhnen. Hier ging es ja zu wie auf einem Marktplatz. Und das zu nachtschlafender Zeit.

 

„Tiri!“, zischte die dritte Gestalt von oben und sein Bruder und seine Begleiterin hielten inne. „Das kannst du nicht tun.“ Carim erschrak. Das dort oben war das Mädchen vom Brunnen!

 

„Sei still, Mîram“, zischte nun ihrerseits das Mädchen mit der Kapuze. „Du wirst Vater und Mutter noch wecken. Geh wieder ins Bett zurück.“

 

„Nein, du darfst nicht gehen!“, flüsterte Mîram eindringlich und machte Anstalten, sich ebenfalls aus dem Fenster zu schwingen. Es wäre einfach gewesen, wenn sie die Türe benutzt hätten, dachte Carim amüsiert. Das hätte vermutlich weniger Aufmerksamkeit erregt.

 

Das Mädchen mit der Kapuze löste sich von seinem Bruder und trat unter das Fenster. „Bitte, Mîram, geh wieder ins Bett zurück. Du darfst uns nicht aufhalten.“

 

„Wieso nicht? Ich will nicht, dass du gehst. Du bist meine Schwester!“

 

Das Mädchen mit der Kapuze seufzte tief. Sie hatte geahnt, dass es so kommen würde. Bereits heute Mittag nach dem Streit mit ihrem Vater hatte sie gewusst, dass es nicht so leicht werden würde, wie sie sich das vorgestellt hatte. Doch sie hatte sich das hier alles sehr genau überlegt und wollte es nicht mehr anders haben. „Hör zu, es wird uns nichts geschehen. Wenn Vater merkt, dass wir weg sind, wird er seinen Irrtum sicherlich einsehen. Und ehe du bis Drei zählen kannst, sind wir wieder zurück.“

 

Doch Mîram war nicht anders als ihre Schwester. Sie wollte keinen Zoll nachgeben. Aber sie wusste, dass sie Nefertirî nicht aufhalten konnte. Nicht jetzt. Doch vielleicht würde sie sie morgen früh überzeugen können, wieder nach Hause zu kommen.

 

Mîram tat resigniert. „Dann versprich mir“, flüsterte sie zu ihrer Schwester hinunter, „dass ihr zurück kommt.“

 

„Ich verspreche es dir!“, flüsterte Nefertirî hinauf, kreuzte ihre Finger über der Brust, warf ihrer Schwester noch eine Kusshand zu und ließ sich dann von Sahîrim in die Nacht entführen.

 

Was ging hier nur vor sich? Carim hatte gebannt zugesehen. Sein Bruder entführte die Tochter des Hauses und kam damit durch? Was er bisher von Delia über den Hausherren Legolas gehört hatte, war nichts Gutes. Vermutlich war es sogar das letzte Mal, dass er seinen Bruder lebend gesehen hatte. Denn offenbar war der Vater sehr darauf bedacht, seine Kinder zu schützen. Er würde nicht zulassen, dass ihnen etwas geschah. Wenn er also erfuhr, dass seine Tochter verschwunden war, würde er bestimmt wissen, wem er das zu verdanken hatte.

 

Es war hier in der Siedlung kein Geheimnis, dass Legolas viel hatte durchmachen müssen, bevor er sein Glück im Westen gefunden hatte. Jeder schien zu wissen, dass ihm seine Kinder Alles bedeuteten. Carim hatte ihn einmal gesehen, wie er mit einem kleinen Bündel, offensichtlich ein Neugeborenes, auf dem Arm über den Brunnenplatz spaziert war. Dabei hatte er dem Kleinen etwas vorgesungen und es angesehen, wie ein Vater seine Kinder ansehen sollte. Carim selbst hatte diesen Blick nie bei seinem Vater gesehen. Und da hatte er begriffen, dass für diesen Elb die Familie über allem anderen stand. Er würde die Entführung seiner Tochter, auch wenn sie auf freiwilliger Basis geschah, nicht leichtfertig hinnehmen, dessen war sich Carim sicher.

 

Gerade, als er beschlossen hatte, seinem Bruder zu folgen um ihn vor einer riesengroßen Dummheit zu bewahren und ihm vermutlich sein Leben zu retten, sah er aus dem Augenwinkel eine Bewegung. Das Mädchen vom Brunnen, Mîram war ihr Name, hatte kurz nach dem Verschwinden des Liebespaares wieder ihren Kopf ins Haus zurück gezogen und war damit in der Dunkelheit verschwunden. Doch nun tauchte sie wieder auf.

 

Offenbar war sie zur Haustür hinaus geschlichen, denn nun drückte sie sich um die Ecke des Hauses, sah sich dabei hektisch um. Sie hatte nicht, wie ihre Schwester, eine Kapuze über ihr silbriges Haar gebunden, sodass es im vollen Mondlicht wie ein Wasserfall schimmerte. Fasziniert beobachtete Carim das Farbenspiel auf ihrem Schopf. Wenn das Licht richtig hinauf fiel, konnte er für den Bruchteil eines Augenblicks einen Regenbogen glitzern sehen.

 

Solch ein Haar hatte er noch nie gesehen. Das musste das Mädchen sein, von dem Delia gesprochen hatte. Er hatte es vom ersten Augenblick an gewusst, da sie erwähnte, dass das Mädchen silbernes Haar hatte.

 

Zunächst hatte er mit seinem Schicksal gehadert und sich gefragt, wieso das schwere Los immer auf ihn fiel. Doch dann hatte er begriffen, dass sich für ihn damit eine einmalige Gelegenheit bot, ihr nahe zu kommen. Anders hätten sie vermutlich nie miteinander sprechen oder sich begegnen können, gehörten sie doch zwei verfeindeten Lagern an. So jedoch war er in der Lage herauszufinden, wer sie war und ob sie diejenige war, für die er sie die ganze Zeit, in seinen Träumen, gehalten hatte.

 

Vorsichtig kroch er aus seinem Versteck hervor, immer darauf gedacht, kein Geräusch zu machen. Eine solche Gelegenheit würde er nicht wieder bekommen. Wenn er jetzt nicht handelte, würde es zu spät sein.

 

Und so schob er sich an den Zweigen des Busches, der sein Versteck war, vorbei, duckte sie in den Schatten des Hauses hinter ihm und wartete darauf, dass Mîram hinter der Ecke hervor kam.

 

Ihre Augen waren die ganze Zeit nach vorne gerichtet. Sie konnte nicht glauben, dass ihre Schwester sie einfach so zurück ließ. Dabei waren sie sich doch immer so nahe gewesen. Wieso verließ sie sie nun? Und das auch noch für einen Elb, den sie kaum kannte. Mîram war wütend und traurig zugleich, dass sie für ihre Schwester nicht mehr an erster Stelle stand. Doch wenn sie ihnen hinterher ging, würde Nefertirî sehen, wie lieb sie sie hatte. Und dann würde sie zurück kommen, sie würde mit ihr wieder nach Hause kommen.

 

Langsam kam sie um die Ecke des Hauses herum, sah sich dabei noch einmal gründlich um, um sicher zu gehen, dass sie niemand sah. Doch in den Häusern um sie herum herrschte überall bereits Dunkelheit und Stille. Jetzt konnte sie nur noch hoffen, dass sie niemanden im Haus geweckt hatte, als sie den Türriegel bei Seite geschoben hatte.

 

Sie zog ihren Mantel noch etwas fester um sich und ging los. Doch bevor sie den Gartenzaun des nächsten Hauses erreicht hatte, verschwanden der Mond und die Sterne über ihr und Finsternis umfing sie.

© by LilórienSilme 2015

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