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Kapitel 3

 

~ Misunterstood

 

I know what you're thinking about me

Looking for the right track always on the wrong track


Am nächsten Tag einen Parkplatz zu finden, war weitaus schwerer. Joe musste einen gefühlten Kilometer vom Eingang entfernt parken und am liebsten wäre sie gar nicht erst zu der Besprechung gegangen, doch Peter hatte ihr zu Hause eine Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter hinterlassen, dass er sie gerne dabei hätte. Und wer war sie, dass sie sich dagegen wehrte?

Vermutlich hätte sie es tun können, doch sie hatte nicht genug Mut dazu, sich gegen den Regisseur zu behaupten. Vielleicht hätte er ihr das sogar zugestanden, sich fernzuhalten, doch sie konnte ihn ja noch nicht einmal nach der Uhrzeit fragen. Wie sollte sie ihn dann bitten, einfach weiter arbeiten zu dürfen?

Schlecht gelaunt, weil sie sich selbst zu etwas zwang, wozu sie eigentlich keine Lust hatte, stieg sie aus und knallte die Autotüre ein bisschen fester zu, als notwendig gewesen wäre. Sofort drehten sich zwei Köpfe zu ihr herum, die in ihrer Nähe ebenfalls aus einem Auto gestiegen waren, allerdings aus einem Taxi. Dank der vielen Menschen, die heute zusätzlich in den Studios herumwuselten, war es sogar für die weißen Elektrocars unmöglich, direkt vor dem Eingang zu parken. Joe konnte nur hoffen, dass sich die Schauspieler nicht zu fein waren, die paar Meter zu laufen.

Der Kleinere der beiden Männer grinste, als er sah, was für ein Gesicht die junge Dame zog. Er selbst hatte offenbar glänzende Laune, denn seine dunklen Augen blitzten spitzbübisch unter einer dunklen Lockenpracht hervor. „Hey Lady!“, rief er zu ihr herüber und fing sich einen Schubser von dem Größeren ein. „Das Auto kann auch nichts für Ihre schlechte Laune.“ Dabei lachte er ihr zu, in der Hoffnung, sie zu einem Kommentar zu bewegen. Doch da hatte er die Rechnung ohne Joe gemacht.

Wie es für sie typisch war, lief sie knallrot an, rammte den Schlüssel unsanft in das Schlüsselloch, schloss ab und rannte förmlich an den beiden vorbei in Richtung Eingang. Dabei hoffte sie, dass sie den neugierigen Blicken des jungen Kerls, der sie angesprochen hatte, entgehen konnte. Sie war zwar schüchtern und manchmal auch stumm, aber blind war sie nicht.

Endlich drinnen angekommen versteckte sie sich hinter ihrer großen Ledertasche, in der sie ihren Skizzenblock, sowie ein Notizbuch spazieren führte. Außerdem hatte sie immer einen Zwölferpack Buntstifte dabei, um sich, wenn nötig, direkt etwas aufzumalen oder zu schreiben, wenn ihr eine Idee kam. Es war ihr schon ein paar Mal passiert, dass sie plötzlich am Straßenrand anhalten musste, weil ihr ein Einfall nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte. Und erst, wenn sie ihn auf Papier gebannt hatte, quälte er sie nicht mehr so sehr.

Richard hatte es sich schon mit seinem eigenen Notizbuch in der Nähe vom Kopfende des Tisches gemütlich gemacht, wo bereits Fran Walsh Platz genommen hatte. Die Ehefrau von Regisseur Peter Jackson passte so sehr zu ihrem Mann, dass man sich eigentlich den einen ohne den anderen nicht vorstellen konnte. Auch sie hatte eine unbändige dunkle Mähne auf dem Kopf, die sie noch mehr betonte, indem sie meistens das Oberhaar noch zu einem hohen Pferdeschwanz band. Heute trug sie zusätzlich zu ihrer schicken neuen Brille noch einen Bleistift im Haar.

Sie schenkte Joe im Vorbeigehen ein freundliches Guten-Morgen-Lächeln, die es nur scheu erwiderte. Zu Fran hatte sie kaum Kontakt gehabt, seitdem sie hier angefangen hatte. Auch Carolynne, die ältere Producerin, war ihr kaum bekannt. Sie wusste nur, dass sie verdammt streng sein konnte. Und die Art, wie sie Joe gerade musterte, mit ihrem streng zurückgekämmten Haar, dem mit dem Lineal geschnittenen Pony und der perfekt sitzenden Bluse, ließen in ihr da gar keine Zweifel mehr aufkommen.

Sofort fühlte sich Joe wieder vollkommen fehl am Platz. Sie huschte schnell auf einen Stuhl in der hintersten Ecke, genau zwischen Bob und Ann, und rückte so lange ihre große Tasche auf ihrem Schoß zurecht, bis sie gerade noch so darüber schauen konnte.

Richard ignorierte das seltsame Verhalten seiner Designerin. Er hatte ihr noch einen schönen guten Morgen wünschen wollen, doch nachdem er jetzt nur noch einen blonden Schopf hinter der Tasche sehen konnte, verkniff er es sich, quer durch den Raum zu rufen. Das würde ihr sicher nicht gefallen.

Im Grunde hätte er es tun müssen, alleine, um sie aus der Reserve zu locken. Doch irgendetwas sagte ihm, dass sie danach wohlmöglich kündigen könnte. Und das wollte er auf gar keinen Fall riskieren! Die Entwürfe für Galadriels Kleid waren immer noch nicht fertig und wenn es jemanden gab, der es vollenden konnte, dann Joe Taylor. Oder sie würden das komplette Konzept umstellen müssen und dazu fehlte ihnen eindeutig die Zeit.

Endlich ging die Tür auf und Peter trat ein. Er wirkte dünn und blass, doch niemand sagte etwas. Frans Blick sprach Bände. Vermutlich hatte sie schon wochenlang auf ihn eingeredet, dass er einen Schritt kürzer treten musste, oder zumindest ein paar Aufgaben an andere delegieren sollte. Doch wie Peter nun einmal war, konnte er nichts wirklich aus der Hand geben. Dazu war er ein viel zu großer Perfektionist.

Mit Schwung ließ er sich auf seinen Stuhl fallen, klatschte in die Hände und begann mit den Worten: „Guten Morgen, alle zusammen! Wie ihr sicherlich schon mitbekommen habt, herrscht heute ein bisschen mehr Trubel als sonst.“ Er warf einen kurzen Blick in die Runde und sah halbherzige Versuche, über seinen Witz zu lachen. Mehr hatte er aber auch nicht erwartet. Sie waren alle müde und ausgelaugt. Und dabei hatten die Drehtage noch nicht einmal angefangen!

„Das liegt daran, dass heute die Zwerge angekommen sind. Wir haben also dreizehn Darsteller, die alle ins Boot-Camp wollen.“ Er zögerte kurz.

Nachdem es in den letzten Wochen und Monaten zugegangen war wie im Zoo, war die Ankunft der Schauspieler eigentlich keine große Herausforderung mehr für die Crew. Sie hatten die Zeit überstanden, in der der eine Regisseur aus Zeitgründen hatte absagen müssen und sich der zweite Regisseur noch nicht dazu entschlossen hatte, die Regie zu übernehmen. Viele Leute mochten geglaubt haben, dass, sobald Guillermo del Toro gegangen war, Peter sofort die Zügel in die Hand genommen hätte, doch dem war nicht so. Als er schließlich doch mehr oder weniger dazu gedrängt wurde, weil die Produktion sonst zu sehr ins Stocken oder gar zum Erliegen gekommen wäre, musste auf einmal alles sehr schnell gehen.

Das gesamte Team hatte in den letzten drei Monaten extrem unter Druck gestanden, alles fertig zu bekommen. Da war es eigentlich gar nicht mehr so schlimm, dass es nun endlich losgehen sollte.

Für Joe und die Kostümabteilung hieß das, dass sie heute anfangen konnten, die Rohfassungen der Kostüme auf die Darsteller abzustimmen. Noch wurde alles von Stecknadeln und Klammern zusammengehalten, doch innerhalb von einem Monat musste alles perfekt sein. Von heute ab würde sie nur noch exakt 35 Tage Zeit haben, alles fertig zu schneidern.

Natürlich musste sie nicht alles selber machen, aber trotzdem hatte sie einen engen Zeitplan und ihr wurde jetzt schon ganz schlecht, wenn sie daran dachte, was das für ihr Privatleben bedeutete. Nicht, dass sie sonderlich viele Freunde gehabt hätte, mit denen sie sich hätte treffen können. Oder gar eine Familie. Aber sie hatte zwei Kater zu Hause, die gerne mal die Bude auseinandernahmen, wenn man zu spät nach Hause kam. Da konnten sie wie zwei garstige alte Leute sein, die sich stur stellten, sobald sie nicht das bekamen, was sie wollten. Joe konnte nur hoffen, dass ihr Gehalt ausreichen würde, die Kollateralschäden zu beheben, die dadurch entstanden.

„Heute werden die Schauspieler nur durch das Studio geführt“, fuhr Fran nun fort, weil ihr Mann offenbar noch etwas notieren musste, was er vergessen hatte. „Sie kriegen das volle Programm: Makeup-Trailer, Beutelsend-Set, Kostümabteilung - einfach alles! Und danach kriegt ihr sie dann, Richard.“

„Hast du schon eine Ahnung“, antwortete er, während er sich ebenfalls Notizen machte, „wann das ungefähr sein wird? Ich würde das gerne planen, damit auch noch alle da sind.“

Fran sah ihren Mann an, der aber nur mit den Schultern zuckte. „Macht eine Uhrzeit aus“, sagte er schlicht. „Dann könnt ihr euch danach richten.“

Kurz lehnte Richard sich zu Bob, Ann und Joe rüber. „Was meint ihr?“, fragte er und sah sie alle der Reihe nach an. Joe sagte nichts, sondern versteckte sich weiterhin hinter ihrer Tasche. Es war ihr ohnehin egal. Wenn ihr Chef ihr sagte, dass sie bis Mitternacht arbeiten musste, dann würde sie das tun. Nicht, dass sie nicht früher nach Hause gewollt hätte, doch leider war sie ja nicht sonderlich gut daran, die Konfrontation zu suchen. Daher überließ sie die Entscheidung den anderen.

Schließlich einigte man sich auf den späten Nachmittag. Nach der Besprechung, die dieses Mal recht kurz gehalten wurde, wollte Joe schon wieder aufspringen und abhauen. Doch Peter hielt sie erneut zurück. Dieses Mal wollte er allerdings keine Konzepte von ihr. „Hast du dich schon mal auf dem Set umgesehen?“

Verwirrt schüttelte sie den Kopf. Einerseits war sie überrascht, dass er sie das überhaupt fragte, weil er offenbar Interesse daran hatte, dass sie auch etwas Spaß hier hatte. Andererseits war sie über sich selbst überrascht, dass sie bisher nicht neugierig genug gewesen war, sich auf eigene Faust einmal umzusehen. Vielleicht war sie aber dazu auch einfach nur zu feige gewesen.

„Nein“, sagte sie daher.

„Möchtest du dich denn mal umsehen?“ Dabei warf er ihr einen dieser bedeutungsvollen Blicke zu, die er so gut drauf hatte, und sein Mund verzog sich zu seinem berühmten Grinsen. Wenn sie es nicht besser gewusst hätte, hätte sie gedacht, er würde etwas aushecken. Doch Wieso sollte er ein Interesse daran haben, sie in die Pfanne zu hauen? So einer war er nicht. Das tat er nur mit Leuten, von denen er wusste, dass sie es vertragen konnten.

Als Joe zögerlich nickte, lächelte er ihr offen zu. „Dann mach das ruhig! Du gehörst auch zu Team. Und du solltest schließlich wissen, wo du arbeitest. Nimm dir bis heute Nachmittag ruhig die Zeit, dir mal alles anzuschauen. Es sollte reichen, wenn du um drei wieder im Workshop bist. Dann hast du noch ein bisschen Zeit, bevor die Schauspieler vorbei kommen.“

Dann verabschiedete er sich wieder von ihr. Kurz dachte sie über seine Worte nach und wog das Für und Wider ab. Doch eigentlich hatte sie die Entscheidung schon getroffen. Als sie noch jünger war, hatte sie selbstverständlich alle Der Herr der Ringe-Filme gesehen und teilweise auch verfolgt, was alles in ihrem Heimatland passiert war. Als man ihr dann diesen Job angeboten hatte, hatte sie nur dem Anstand halber kurz darüber nachgedacht. Doch auch da hatte sie die Entscheidung, dass sie es machen wollte, innerhalb eines Herzschlages getroffen. Wer konnte schließlich schon Nein sagen, wenn Peter Jackson rief?

Und so war es auch jetzt. Sie verabschiedete sich schnell von Richard, der ihr erst einen ziemlich verwirrten Blick zuwarf, dann aber ebenfalls lächelte. Er konnte sich vorstellen, dass es ihr gefallen würde, wenn sie einmal aus ihrem Atelier und ihrem Schneckenhaus herauskam. Wobei das Verlassen des Ateliers wesentlich einfacher war. Und vielleicht würden ihr ja ein paar neue Ideen kommen, wenn sie sich erst einmal die verschiedenen Sets angesehen hatte.

Draußen wusste sie zuerst nicht, wohin sie gehen sollte. Doch dann beschloss sie einfach, dem größten Lärm zu folgen. Da war es wahrscheinlicher, dass sie in der Menge untertauchen und sich alles in Ruhe angucken konnte. Und sie hatte Recht.

Ihr Weg führte sie in eine riesengroße Halle, die man eigentlich gar nicht übersehen konnte. Doch irgendwie schien ihr das in der letzten Zeit gut gelungen zu sein. Drinnen stolperte sie gleich nach Mittelerde und sie blieb staunend stehen. Überall hatte man Bäume aufgestellt. Es gab Büsche und Sträucher, sogar einen kleinen Bach, der richtig dahin floss, und eine baufällige Holzhütte, die schon bessere Tage gesehen hatte. Mit offenem Mund stand sie da und starrte.

Wahnsinn, dachte sie. Das sieht wirklich genauso aus, wie ich mir Mittelerde immer vorgestellt habe. Wieso hab ich mich nur nicht schon früher hier umgesehen? Innerlich verfluchte sie sich dafür, dass sie nur an die Arbeit gedacht hatte. Doch sie hatte ihren Job gut machen wollen, wenn man sie schon extra direkt vom College geholt hatte. Jetzt wusste sie allerdings, dass sie ihre Arbeit vermutlich noch besser hätte machen können, wenn sie sich vorher mal angeguckt hätte, wie die Kulissen aussahen. Vielleicht würde sie ja sogar endlich Galadriels Kleid fertigstellen können, wenn sie sich einmal Bruchtal ansah.

Staunend ging sie weiter, den Blick immer hin und her wandernd, weil sie sich einfach nicht entscheiden konnte, wohin sie zuerst gucken sollte. Am liebsten hätte sie drei Köpfe gehabt, um diese ganzen Eindrücke verarbeiten zu können.

„Unglaublich, oder?“, sagte plötzlich eine Stimme dicht neben ihr und sie wäre beinahe vor Schreck in den kleinen Bach neben sich gehüpft. Als sie ihren ersten Schock überwunden hatte, folgte sie den Worten und fand sich einer breiten Brust gegenüber. Der Mann war gute vierzig Zentimeter größer als sie, um die fünfzig und hatte eine Glatze. Sie erkannte ihn gleich wieder, denn er war der zweite Kerl gewesen, dem sie draußen an ihrem Auto begegnet war.

Ungläubig glotzte sie zu ihm hoch, bemerkte dann, was sie tat, und lief wieder rot an, während sie versuchte so zu tun, als würde sie einen der Bäume unheimlich interessant finden. „Jaja“, stammelte sie. Vorsichtig schob sie sich Schritt für Schritt auf den nächsten Ausgang zu, in der Hoffnung, er würde nicht bemerken, dass sie sich davon stahl. Er wirkte sehr nett, doch allein seine Größe genügte, um sie gehörig einzuschüchtern.

Zu ihrem großen Glück aber schien er genauso sehr beeindruckt von dem Set zu sein wie sie selbst. Ungesehen konnte sie sich aus seinem Blickfeld schieben und durch die nahe Tür verschwinden, die sie auch gleich wieder hinter sich schloss. Erleichtert atmete Joe auf. Dabei wischte sie sich den imaginären Schweiß von der Stirn. Schwein gehabt!

Als sie sich umdrehte, blieb ihr aber gleich wieder die Spucke weg. Über ein Dutzend Augenpaare beobachteten sie, wie sie immer noch an der Tür stand. Ihre Erleichterung, die sie verspürt hatte, war mit einem Mal verschwunden. Sofort rutschte ihr ihr Herz in die Hose, die Röte schoss ihr in die Wangen und dieses Mal bildete sich wirklicher Schweiß auf ihrer Stirn.

„Da bist du ja endlich!“

Ein kleiner Mann löste sich aus der Gruppe heraus, die sie die ganze Zeit schon anstarrten, und kam auf sie zu. Er hatte einen unverkennbaren indischen Akzent und sah auch dementsprechend aus. Eine große Nase saß in seinem faltigen Gesicht, darunter hatte er den schmalen Mund zu einem missbilligenden Ausdruck verzogen und die Augen zusammengekniffen, was ihm das Aussehen eines ziemlich grantigen Zwerges verlieh. Der große Stock in seiner Hand trug ebenfalls dazu bei, dass sich Joe wünschte, niemals in diesen Raum gekommen zu sein.

Nun blieb er vor ihr stehen und es überraschte sie ein bisschen, dass er so viel kleiner war als sie selbst. Alle Leute in diesem Raum schienen kleiner zu sein als sie. Was hatte das nur zu bedeuten? Als er ihr den Stock hinhielt, wurde es ihr plötzlich klar.

Oh nein!, dachte sie erschrocken. Das kann ja wohl jetzt nicht sein Ernst sein! Und als sie nicht auf ihn reagierte, packte er sie einfach entschlossen an ihrem freien Handgelenk, an dem Arm, an dem nicht ihre Tasche baumelte, und zog sie mitten in den Raum hinein.

Erst jetzt bemerkte sie, dass sie in eine Art Turnhalle hineingeraten war. An den Wänden hingen diese typischen Leitern zum Klettern, während der Boden mit Matten ausgelegt war. Alle trugen Sportbekleidung, was sie mit ihren Jeans, ihrer weiten gestreiften Bluse und den Sandalen ziemlich von ihnen unterschied. Doch scheinbar war das dem kleinen Inder noch gar nicht aufgefallen.

Jetzt nahm er ihr ihre Tasche ab, warf sie achtlos irgendwo in die Ecke und drückte ihr den Stock in die Hand. „Du bist spät dran“, sagte er nur, dann nahm er einen weiteren Stock vom Boden auf und stellte sich ihr gegenüber auf.

Verwirrt verfolgte Joe das ganze Schauspiel und registrierte nur am Rande, dass alle anderen auf einmal Platz zu machen schienen. Sie stellten sich im Kreis um sie herum auf, als warteten sie darauf, dass gleich etwas passieren würde. Verzweifelt versuchte sie zu verstehen, was hier vor sich ging, kam aber nicht darauf. Sie hatte definitiv etwas verpasst. Was, wurde ihr aber erst klar, als der kleine Inder seinen Stock auf ihren niederkrachen ließ.

Erschrocken sprang sie mit einem spitzen Schrei zurück und ließ ihren Stock fallen. Sofort wurde um sie herum verhalten gekichert. Vermutlich hatten einige damit gerechnet, dass das passieren würde. Aber natürlich hatte es niemand für nötig gehalten, sie vorzuwarnen. Am liebsten wäre sie sofort aus der Halle gelaufen, doch dazu hatte sie gar keine Chance, denn wieder wurde ihr der Stock zurück in die Hand gedrückt und der kleine Mann ging vor ihr in Stellung.

Als sie sich nicht bewegte, sondern ihn stattdessen nur anstarrte, ließ er seine Waffe wieder sinken. „Was ist denn los?“, fragte er, eher genervt, als besorgt. „Du musst dich einfach nur verteidigen. Das kann doch nicht so schwer sein!“

„Ich, äh“, stotterte sie drauf los und verfluchte sich erneut zum gefühlt einemillionsten Mal dafür, dass sie einfach nicht die Zähne auseinander bekam. Wie gerne hätte sie ihm gesagt, dass hier wohl ein gigantisches Missverständnis vorliegen musste, doch als sie den Mund aufmachte, kam wieder nur ein dämliches „Äh“ heraus.

Verdammter Mist!, wetterte sie innerlich. Reiß dich gefälligst zusammen, Joe, und sag ihm, dass du hier nicht hingehörst. Na los! „Ich, äh...“ Sag! Es! Schon!

„Kiran!“

Bevor Joe weiter vor sich hin stottern konnte, hörte sie Peter hinter sich die Türe reinkommen. Der Regisseur hatte ein fettes Grinsen im Gesicht, als er auf den Inder zuging. „Was machst du denn hier, Kiran?“

Der Angesprochene legte seinen Stock vorsichtig weg und kam auf Peter zu. „Ich trainiere!“ Dabei warf er die Hände in die Luft, als wollte er sagen, dass er es nur mit Amateuren zu tun hatte, was in Joes Fall auch ganz sicher stimmte.

Peters Grinsen wurde noch breiter, als er einen Blick auf seine Kostümdesignerin warf, die wohl gerne sofort und auf der Stelle im Boden versunken wäre. „Aber doch nicht mit Joe!“, sagte er und legte schützend einen Arm um sie. „Wenn du ihr die Finger brichst, hast du nichts zum Anziehen, wenn du vor die Kamera trittst.“ Und als Kiran ihn nur weiter verständnislos ansah, fügte er noch hinzu: „Sie arbeitet als Designerin bei Richard. Sie ist kein Scaly.“

Nun endlich schien er zu begreifen, denn seine Augen weiteten sich und nun musste auch er grinsen. „Oh nein“, sagte er und kam auf Joe zu. „Das tut mir furchtbar leid. Das wusste ich nicht! Aber wieso hast du denn nichts gesagt?“

Doch bevor Joe wieder nur einen unqualifizierten Laut von sich geben konnte, schob Peter sie einfach auf die Türe zu. „Schon gut, Joe. Ich kläre das.“

Dankbar nahm sie seine Hilfe an, raffte ihre Tasche an sich und stürmte aus der Halle hinaus, während sie noch spürte, wie alle sie mit ihren verwirrten Blicken verfolgten.


***


Das Licht fällt von draußen auf die Tafel und du kannst kaum erkennen, was der Lehrer dort angezeichnet hat. Doch du siehst genau, dass sein Finger mit der Kreide auf dich zeigt. Er ruft deinen Namen auf. Deine Knie fangen an zu zittern und dein Atem geht auf einmal schneller. Am liebsten würdest du auf der Stelle im Boden versinken.

Doch leider hast du keine andere Wahl. Du musst nach vorne gehen.

Als du dich erhebst, kannst du schon das Gekicher deiner Klassenkameraden hören. Sie wissen genau, was nun kommen wird. Der Lehrer weiß es nicht, denn er ist noch nicht sehr lange an dieser Schule. Es ist erst seine zweite Stunde in deiner Klasse. Doch bereits jetzt scheint er dir das Leben zur Hölle machen zu wollen.

Zögerlich gehst du nach vorne, spürst dabei, wie alle Augen auf dich gerichtet sind. Eigentlich sollte die Aufgabe an der Tafel kein Problem für dich sein, doch die Angst, vor allen anderen zu stehen, lähmt dich. Du kannst kaum Luft holen, so sehr fürchtest du dich, etwas Falsches zu sagen und dich lächerlich zu machen. Helle Punkte tauchen vor deinen Augen auf und du merkst, dass du die ganze Zeit über, während du aus der letzten Bank nach vorne gegangen bist, die Luft angehalten hast. Nun atmest du tief ein und die Punkte verschwinden. Deine Panik legt sich ein wenig, doch nicht genug, als dass deine Hände aufhören würden zu zittern. Der Lehrer drückt dir die Kreide in die Hand, als du nicht danach greifst. „Bitteschön!“, sagte er und deutet auf die Aufgabe. „Erleuchte uns!“

Das Kichern wird lauter. Ein durchdringendes
Pssst bringt sie jedoch wieder zum Schweige. Allerdings nur so lange, bis du den ersten Strich an die Tafel zeichnest.

Deine Finger zittern immer noch, was den geraden Bruchstrich zu einer Schlangenlinie werden lässt. Du schämst dich dafür, doch du kannst nichts dagegen tun.

„Na, komm schon!“, sagt der Lehrer. „Du wirst doch wohl diesen einfachen Bruch lösen können. Das kann doch nicht so schwer sein.“

„Ja, Joey!“, ruft jemand von hinten, den du nicht an der Stimme erkennen kannst. „Das kann doch nicht so schwer sein!“

Wieder lachen alle und dieses Mal wird es dir zu viel. Dir fällt die Kreide aus der Hand und sie zerspringt am Boden in kleine Stücke. Wie von selbst finden deine Füße den Weg nach draußen, deine zitternden Hände stoßen die Klassentür auf und du läufst einfach davon.

© by LilórienSilme 2015

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