LilórienSilme
~ Fanfiction-Autorin ~
Kapitel 3
~ Hit the Road, Wack
Es waren mittlerweile drei Wochen vergangen, seit Vittoria das Drehbuch, woran sie so hart gearbeitet hatte, an den Regisseur geschickt hatte. Bisher hatte sie noch keine Antwort erhalten. Doch das hatte sie nicht davon abgehalten, weiter nach Projekten zu suchen. Und in ihrer Produktionsfirma, bei der sie seit nun inzwischen zwei Jahren arbeitete, hatte man ihr auch gleich etwas Neues angeboten. Allerdings hatte sie dazu noch beinahe sechs Monate Zeit, es fertig zu stellen. So konnte sie endlich einmal wieder nur an sich denken und war mit ihrer besten Freundin Meg in die Stadt gegangen. An einem Tag hatten sie es geschafft, zum Frisör, zur Maniküre, zur Pediküre und zur Kosmetikerin zu gehen. Und zum Abschluss hatten sie sich noch in einem thailändischen Laden massieren lassen.
Völlig entspannt und endlich wieder zufrieden mit ihrer äußeren Erscheinung saß Vittoria nun auf der großen Sofalandschaft oben auf ihrem Speicher. Sie hatte ein Buch auf dem Schoß, doch irgendwie konnte sie sich nicht richtig konzentrieren. Etwas nagte schon seit ein paar Tagen an ihr. Ständig wachte sie mitten in der Nacht auf und hatte das Gefühl, etwas sehr Wichtiges vergessen zu haben. Dann lag sie eine Weile wach und versuchte zu ergründen, was das sein könnte. Doch es fiel ihr nichts ein und sie glitt in einen nur noch sehr unruhigen Schlaf über. Am Morgen fühlte sie sich dann immer, als hätte ein Lastwagen sie überfahren.
Auch Sport schien sie nicht müde genug zu machen, dass sie hätte sechs Stunden durchschlafen können. Egal, ob sie eine oder drei Stunden laufen ging, es nützte einfach nichts. Selbst ein heißes Bad mit Lavendel und Kamille hatte ihr nichts geholfen.
Obwohl sie aus logischer Sicht hätte hundemüde sein müssen, starrte sie mit weit aufgerissenen Augen auf die beschrieben Seiten ihres Buches, ohne auch nur ein Wort davon zu lesen, geschweige denn es zu verstehen. Das dicke, rote Buch der Westmark mit dem goldenen Ring auf dem Einband lag schwer auf ihren Oberschenkeln und schien zurück zu starren. Beinahe kam es ihr vor, als würde es ihren Namen rufen.
Wütend klappte sie es mit einem Knall zu und warf es neben sich. „Humbug“, brummelte sie. Sie ließ das Buch liegen, wo es war, und machte sich auf in die Küche. Sie kochte Wasser und goss sich eine Kanne Pfefferminztee auf. Damit ging sie ins Badezimmer im ersten Stock und ließ die Wanne volllaufen. Sie holte ihren Laptop und eine DVD-Box von Charmed und legte sich schließlich in das mit einer dicken Schaumkrone überzogene heiße Wasser. Es dauerte nicht lange, nachdem sie die Kanne mit dem Tee geleert hatte, und sie war eingeschlafen.
Das schrille Klingeln des Telefons, welches sie mit ins Badezimmer genommen und neben sich gelegt hatte, riss sie unsanft aus ihren Träumen. Beinahe hätte sie ihren Laptop versenkt, konnte ihn jedoch noch retten. Sie brauchte eine Weile, bis sie begriff, dass das Telefon immer noch klingelte. Erschrocken griff sie danach.
„Pronto“, rief sie in den Hörer, verfluchte sich aber gleich darauf selbst, weil sie in ihre Muttersprache abgerutscht war. Sie räusperte sich. „Vittoria Marconi am Apparat. Wer ist da?“
„Hallo Miss Marconi“, rief ihr eine fröhliche Stimme entgegen. Sie musste den Hörer ein wenig von ihrem Ohr weg halten, da ihr Gesprächspartner ziemlich laut war. „Hier ist Andrew Adamson.“ Seine Stimme klang, als wäre er am anderen Ende der Welt. „Es tut mir leid, dass ich mich jetzt erst melde, aber wir stecken mitten in den Dreharbeiten und ich wollte Ihnen doch die frohe Botschaft persönlich überbringen.“ Er lachte.
Vittoria starrte den Hörer verdutzt hat, als könne er jeden Moment zum Leben erwachen und ihr eine Arie von Carmen vortragen. Schlief sie vielleicht noch? Sie räusperte sich, atmete ein paar Mal tief durch, dann legte sie die Muschel wieder an ihr Ohr. „Die frohe Botschaft?“, fragte sie.
Es knackte ein paar Mal in der Leitung, dann hörte sie seine Stimme wieder. Irgendwie wurde sie das Gefühl nicht los, dass sie seinen Namen schon mal gelesen hatte. Vermutlich schlief sie noch ein wenig, denn wäre sie wach gewesen, hätte sie sich daran erinnert, dass sie vor drei Wochen den Namen Adamson als Anrede in einer Email verwendet hatte. „Ja, ich weiß, wir haben noch nicht den vierundzwanzigsten Dezember. Aber ich dachte, ich mach Ihnen jetzt schon ein Geschenk. Dafür gibt’s dann kein Weihnachtsgeld.“ Er lachte wieder.
Eine Weile herrschte Stille in der Leitung. Sie war unfähig zu sprechen und er wartete auf eine Reaktion von ihr. Als nach ein paar Sekunden immer noch nichts gesagt wurde, ergriff er erneut das Wort. „Miss Marconi, ich glaube, Sie wissen nicht mehr, wer ich bin. Kann ich Ihnen nicht verdenken. Schließlich habe ich seit Wochen nichts von mir hören lassen. Aber ich bin sicher, wenn sie James Hatchers anrufen, wird er Ihnen erklären können, was ich gerade versuche, Ihnen beizubringen. Leider ist meine Zeit etwas knapp bemessen und ich kann nicht ewig auf Ihre Antwort warten. Deswegen machen wir es kurz.“ Sie hörte gedämpfte Stimmen aus dem Hintergrund und Adamson, der ungehalten etwas erwiderte. Dann wandte er sich wieder dem Telefonat zu. „Miss Marconi, in fünf Tagen geht ein Flug nach Neuseeland. Wir haben ein Ticket für Sie hinterlegt. Sitzen Sie in dem Flieger, nun, dann sehen wir uns in sechs Tagen und können alles Weitere besprechen. Sitzen Sie nicht in dem Flieger…“ Doch den Rest des Satzes ließ er ungesagt.
„Ich verstehe“, log sie, immer noch völlig vernebelt von ihrem unfreiwilligen Schläfchen in der Badewanne. „Gut“, sagte Adamson. „Ich erwarte Sie also in sechs Tagen.“ Dann hängte er auf. Vittoria starrte noch eine ganze Weile vor sich hin, den Hörer noch an ihrem Ohr.
Nach einiger Zeit begann die Leitung zu piepsen. Erst da legte sie auf. Wie in Trance stieg sie aus der Wanne, trocknete sich ab, ohne richtig zu merken, was sie tat, und kroch mit nassen Haaren und ihrem Bademantel unter die Decke. Sofort fielen ihr die Augen zu und sie schlief ein.
Nur eine Viertelstunde später schreckte sie plötzlich wieder aus dem Schlaf hoch. Sie rieb sich über ihre verträumten Augen und blickte auf die Uhr. Es war noch nicht zu spät. Wie von der Tarantel gestochen sprang sie aus dem Bett, warf dabei ihre Nachttischlampe um, und stürmte ins Badezimmer. Dort krachte sie erst einmal gegen das Waschbecken, weil sie mit dem Teppich quer durch den Raum rutschte. Dann griff sie nach dem Telefon. Schnell wählte sie die Nummer ihres Chefs.
Als es in der Leitung klickte, ließ sie ihn gar nicht erst zu Wort kommen, sondern redete sofort los. „Jim! Mich hat eben so ein Verrückter angerufen. Er hat irgendwas mit der Matrix zu tun und will, dass ich nach Neuseeland schwimme!“
James Hatchers, der Leiter des Stantortes London für ihre Produktionsfirma, stoppte ihren Redeschwall. Seit er mit ihr zusammenarbeitete, hatte er manchmal das Gefühl, sich im Zoo zu befinden. Meistens benahm Vittoria Marconi sich wie ein sturer Esel, doch gelegentliche Anwandlungen eines Pfaus oder affenähnliche Wutanfälle bereiteten ihm viel Abwechslung. In diesem Moment allerdings klang sie eher wie eine aufgescheuchte Gans.
„Vicky!“, rief er dazwischen und tatsächlich hörte sie auf, dieses wirre Zeugs von sich zu geben. „Jetzt noch mal langsam. Wer hat dich angerufen?“
Sie gab dieses Geräusch von sich, was sie immer machte, wenn jemand ihren sprunghaften Gedankengängen einfach nicht folgen konnte. „Du weißt schon, er hieß wie Keanu Reeves in Matrix, aber nicht Neo.“ Jim schüttelte den Kopf und verdrehte die Augen. Hätte sie ihn gesehen, hätte sie ihm einen Schlag auf den Oberarm verpasst, wie sie es immer tat, wenn er sich über sie lustig machte. „Du meinst Anderson“, stellte er nüchtern fest. Doch irgendwie hatte er das Gefühl, dass das Rätsel damit noch nicht gelöst war.
„Ja!“, rief Vittoria in den Hörer und ein strahlendes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. In Gedanken versuchte sie, sich den Namen ins Gedächtnis zu rufen, aber irgendwie klang er in ihren Erinnerungen anders. „Nein“, stellte sie daraufhin ernüchtert fest. „Das war es nicht.“
Plötzlich hatte Jim eine Eingebung. Vor zwei Tagen hatte er einen Anruf von Walden Media bekommen, dass man den Drehbuchautor gefeuert hatte, weil er unmögliche Gehaltsforderungen gestellt hatte. Hatte das alles vielleicht etwas mit der Kinderbuchverfilmung zu tun, an der Stillking mitarbeitete? Schnell durchwühlte er seine Unterlagen auf der Suche nach dem Namen des Regisseurs. „Warte kurz“, sagte er. „Hieß er vielleicht Andrew Adamson?“
Sie überlegte. „Das könnte sein. Aber wieso will er, dass ich nach Neuseeland schwimme?“ Er ging nicht auf ihre seltsame Bemerkung ein, sondern fragte, was er noch gesagt hatte. Als sie das mit dem Flugticket erwähnte, fiel ihm der Brief ein, den er heute Mittag erhalten hatte und ihr eigentlich nach Hause schicken wollte. Er riss ihn, das Postgeheimnis missachtend, auf und heraus fiel tatsächlich ein Flugticket nach Neuseeland. Er staunte nicht schlecht. Seit wann lud man den Autor dazu ein, an den Dreharbeiten teilzunehmen? So eine Chance durfte sich Vittoria nicht entgehen lassen.
Für ihre zwanzig Jahre hatte sie schon verdammt viel erreicht. Manch eine ambitionierte Mutter würde sagen, sie hätte gar nichts erreicht, weil sie keinen Schulabschluss hatte. Doch dank der Tatsache, dass sie mit fünfzehn von der Schule geflogen war, hatte sie sich zu einem Zeitpunkt, an dem die meisten Jungendlichen noch gar nicht wussten, was nach der Schule auf sie wartete, voll und ganz auf ihre Karriere konzentrieren können. Weil sie einen Traum hatte und ihn um jeden Preis verfolgen wollte, war sie schon mit zwanzig da, wo anderen noch nicht mit dreißig waren. Und wenn sie sich anstrengte, würde sie noch viel weiter kommen.
Gerade wollte er ihr das klarmachen, als sie laut aufstöhnte. „Ich kann aber nicht nach Neuseeland“, sagte sie und klang dabei wie ein Kind, das man zum Baden zwinge wollte. Am liebsten wäre er durch den Telefonhörer gekrochen und hätte sie so lange geschüttelt, bis sie wieder zur Vernunft gekommen war. „Jetzt hör mir mal genau zu“, sagte er in einem Ton, der sie stark an ihren Geschichtslehrer erinnerte, wenn sie im Unterricht mal wieder nicht aufgepasst hatte. „Ich bin dein Chef und ich sage, du gehst. Deine Arbeit kannst du mitnehmen. Da habe ich nichts gegen. Aber du wirst nach Neuseeland fliegen. Hast du mich verstanden?“
Er hörte, wie sie seufzte. Eigentlich war sie nie der Typ gewesen, der sich gerne etwas sagen ließ, doch wenn er seine Businessstimme auspackte, konnte selbst sie ihm nicht widerstehen. Besonders nicht, weil er derjenige war, der ihre Schecks ausstellte.
„Meinst du wirklich?“, fragte sie unsicher, doch er wurde das Gefühl nicht los, dass sie sich sogar ein bisschen über die Einladung freute, nachdem die erste Verwirrtheit verschwunden war.
Er räusperte sich. „Weißt du was? Schlaf noch eine Nacht drüber“, sagte er. „Morgen denkst du vielleicht schon wieder ganz anders darüber. Außerdem ist es ja schon spät. Ich muss auch gleich nach Hause. Aber eins sag ich dir noch, Kleines. Du musst ihn mit deiner Arbeit unglaublich beeindruckt haben, dass er dich unbedingt dabei haben will.“ Er konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Schon immer hatte er das Gefühl gehabt, dass dieses Mädchen etwas Besonderes war. Wer taff genug war, sich mit fünfzehn bereits alleine durch sein Leben zu schlagen, hatte auch den Mumm, nach Neuseeland zu fliegen und dort sein erstes großes Projekt in Angriff zu nehmen.
Als Jim aufgelegt hatte, lächelte Vittoria leicht. Vermutlich hatte er Recht. Sie hatte damals keine Angst davor gehabt, in die große Stadt zu ziehen und sich alleine der Realität zu stellen. Und es hatte sich durchaus gelohnt, es zu tun. Warum also sollte sie Angst davor haben, bei diesem Projekt mitzuwirken?
Die Antwort konnte sie sich selber geben. Nachdem ihr Vater sie rausgeworfen hatte, hatte sie trotzdem immer gewusst, dass sie ein zu Hause hatte, in das sie zurückkehren konnte, wenn sie wollte. Ihre Mutter hatte ihr mit der Scheidung bewiesen, wie sehr sie sie eigentlich liebte, obwohl es bisher immer ihre ältere Schwester Katarina gewesen war, die Mamas Liebling war. Erst seit kurzem hatte sie wieder ein engeres, wenn auch immer noch schwieriges, Verhältnis zu den beiden. Und falls sie jetzt für längere Zeit nach Neuseeland gehen sollte, könnte es sein, dass dieses zarte Band wieder zerriss.
Andererseits war es ihre Familie. Wieso sollten sie es ihr übel nehmen, wenn sie nun weiter das machte, wofür sie damals so gekämpft hatte? Vielleicht gab ihnen allen das ein bisschen Abstand um die neue Situation einmal zu betrachten und herauszufinden, ob es auch das Richtige für alle Beteiligten war.
Entschlossen griff sie erneut zum Telefon. Sie wählte die Nummer ihrer Mutter. „Hallo Mama, hast du kurz Zeit für mich?“ Sie hörte, wie der Fernseher im Hintergrund leiser gestellt wurde. „Sì, certo, bene“, sagte Karolina.
Wenig später hatte Vittoria auch noch Meg angerufen und sich von ihr die Absolution erteilen lassen. Eigentlich stand ihr jetzt nur noch ihr eigenes Angsthasenblut im Weg. Sie war noch nie so weit von zu Hause weggewesen. Bisher hatte sie nie Geld für größere Reisen gehabt. Doch vielleicht würde sich das ja jetzt ändern und sie könnte von nun an öfter in den Urlaub fliegen.
Wobei es dieses Mal eher Arbeit als Urlaub war. Aber sie würde es trotzdem genießen, in Neuseeland zu sein. Schon so oft hatte sie davon geträumt, sich die großartigen Kulissen von Edoras oder Helms Klamm anzusehen. Hoffentlich würde sie dafür Zeit haben, wenn sie schon einmal dort war. Als großer Fan der Buchverfilmung musste man sich diese Sehenswürdigkeiten einfach ansehen.
Obwohl es eigentlich Chiyos Aufgabe war, warf sie ihre gesamte Schmutzwäsche in den Wäschekorb, trug ihn in den Keller und begann mit der Wäsche. Während die erste Maschine lief, setzte sie sich an ihren Schreibtisch und erstellte eine Liste mit Sachen, die sie mitnehmen wollte. Trotz ihrer leicht chaotischen Art war sie ein riesen Listenfan. So konnte sie meistens nichts Wichtiges vergessen.
Dummerweise besaß sie, da sie noch nie weiter als Frankreich weggewesen war, keinen einzigen Koffer. Sie würde morgen wohl in die Stadt fahren und sich welche kaufen müssen. Dabei fiel ihr ein, dass sie gar nicht gefragt hatte, wie lange sie in Neuseeland bleiben würde. Drei Wochen? Vielleicht vier? Länger sicherlich nicht. Wenn sie es recht überlegte, hatte sie auch kaum mehr Klamotten, als für höchstens fünf Wochen.
Am nächsten Tag machte sie sich also auf in die Innenstadt von London. Chiyo hatte ihr bereits eine deftige Rüge verpasst, als sie gesehen hatte, dass sie selber gewaschen hatte. Doch das war meistens nicht ernst gemeint. Im Grunde tat es der Japanerin einmal ganz gut, nicht alles machen zu müssen.
Im ersten Laden wurde Vittoria bereits fündig. Ein Kofferset in türkis und braun, gemustert wie Hibiskusblüten, lachte ihr entgegen. Die Verkäuferin klärte sie über verschiedene Vorteile auf. „Es ist zum Beispiel sehr leicht“, sagte die nette Dame, die allerdings aussah, als hätte sie noch nie die Sonne gesehen. Vittoria sah sie fragend an. „Mal abgesehen davon, dass ich sicherlich nicht zu schwer schleppen möchte, ist es denn wichtig, dass die Koffer leicht sind? Die Leute, die die Koffer verladen, müssen sich doch damit rumschlagen.“
Die Verkäuferin sah sie durch ihre übertrieben getuschten Wimpern amüsiert an. Irgendwie kam sie sich in diesem Moment ziemlich dumm vor. „Sie sind noch nicht oft geflogen, oder?“, fragte sie. Dabei entblößte sie zwei Reihen perfekter weißer Zähne, die durch den knallroten Lippenstift noch zusätzlich betont wurden. Fasziniert starrte Vittoria sie an. Da sie ihr dadurch eine Antwort schuldig blieb, antwortete die Verkäuferin gleich selbst. „Nun, da Sie nur eine bestimmte Anzahl an Kilogramm zur Verfügung stehen haben für ihr Gepäck, können Sie natürlich mehr mitnehmen, wenn der Koffer leichter ist. Verstehen Sie?“
Das leuchtete ihr irgendwie ein. Und weil ihr das Set mit einem großen, einem kleinen Koffer, einer Kosmetiktasche und einer zusätzlichen Handgepäcktasche recht preiswert vorkam, kaufte sie gleich alles. Auf dem Weg nach draußen stieß sie, vollgepackt wie sie war, jedoch gleich mit jemandem zusammen. Mit einem dumpfen Geräusch ging sie mit ihren neuen Koffern zu Boden.
Genervt rieb sie sich ihren Hintern, der von dem Aufprall auf dem harten Steinboden ziemlich schmerzte. Bevor sie jedoch etwas sagen konnte, wurde ihr eine Hand zur Hilfe angeboten. Als sie aber sah, wem diese Hand gehörte, rappelte sie sich schnell selber wieder auf. „Thomas!“, stöhnte sie, als sie ihren Verehrer erkannte. Dass er nach all der Zeit immer noch hinter ihr her war, trieb sie jedes Mal aufs Neue zur Verzweiflung. Sie wusste nicht einmal, was sie ihm getan hatte.
„Vittoria, meine Liebe“, sagte er und sammelte galant ihr Gepäck auf. Er hatte sich nicht verändert seit dem letzten Mal, musste sie schweren Herzens feststellen. Er hatte immer noch diese muskulösen Arme und diese strahlend blauen Augen. Er war gute zwei Köpfe größer als sie und wahrscheinlich doppelt so breit. Doch seine Taille war immer noch schlank und seine Schultern breit. Unter anderen Umständen wäre er vielleicht der perfekte Mann gewesen.
„Willst du meinen Ring immer noch nicht?“, fragte er und beendete damit augenblicklich ihre Schwärmerei. Vor etwa drei Jahren hatten sie sich am Theater kennengelernt und waren am selben Abend in seinem Bett gelandet. Es war eine wundervolle Nacht und der Morgen danach war sogar noch schöner. Es hätte etwas wirklich Ernstes daraus werden können. Doch zu ihrem großen Entsetzen hatte er ihr bereits nach drei Monaten einen Heiratsantrag gemacht und sie gebeten, bei ihm einzuziehen, sodass sie nie wieder hätte arbeiten müssen. Als Anwalt mit einem entsprechend hohen Einkommen könne er sie ohne Probleme beide versorgen, hatte er damals gesagt.
Für sie natürlich ein absoluter Albtraum. Zwei Jahre hatte sie hart dafür gekämpft, auf eigenen Beinen zu stehen und er dachte, er könne ihr das wieder nehmen, indem er einfach um ihre Hand anhielt. Abgesehen davon, dass sie zu diesem Zeitpunkt erst siebzehn war und rechtlich dazu nicht in der Lage, ein Jawort zu geben. Sie hatte versucht, es ihm klar zu machen, doch er hatte es nicht hören wollen. Er war eben ein wahrer Gentleman. Sie hatte sich aber mit dem Gedanken nicht anfreunden können, abhängig von ihm zu werden und hatte ihn daraufhin verlassen. Trotz ihrer groben Abfuhr war er nie von ihr losgekommen. So weit sie wusste, hatte er nicht einmal eine neue Freundin gehabt in den letzten drei Jahren.
Sie klopfte sich den Staub von der Hose und griff nach ihren Einkäufen. „Meine Antwort war vor drei Jahren Nein und stell dir vor, ich habe meine Meinung nicht geändert“, fauchte sie. „Jetzt gib mir meine Sachen zurück.“
Doch anstatt ihr zu gehorchen stolzierte er mit ihren Einkäufen Richtung Ausgang davon. Genervt stöhnte sie auf. Sie hasste seine Spielchen, bei denen er ihr merkwürdigerweise jedes Mal nur allzu deutlich klarmachte, dass er der Mann und sie das schwache Weibchen war, das zu gehorchen hatte. Wenn er nur nicht so einen süßen Hinter hätte, dachte sie, als sie ihm hinterher lief, wäre ich sicher nicht so verständnisvoll. „Was willst du mit all den Koffern?“, fragte er sie, als sie ihn eingeholt hatte. Trotz seiner vollen Arme schaffte er es irgendwie, ihr die Türe aufzuhalten. Hoch erhobenen Hauptes ging sie an ihm vorbei, in der Hoffnung, ihn mit ihrem Abgang zu beeindrucken.
„Ich habe vor, mich im Urwald vor dir zu verstecken. Deswegen die Blüten. Das ist Tarnung.“ Doch mit dieser Bemerkung entlockte sie ihm nur einen seiner überheblichen Gesichtsausdrücke, die er immer dann aufsetzte, wenn er sarkastische Bemerkungen erahnte. Er hatte einfach keinen Sinn für Humor.
Langsam aber sicher riss ihr der Geduldsfaden. Seine arrogante Art ihr zu zeigen, was für ein Macho er doch war, hatte sie am Anfang noch ziemlich sexy gefunden. Doch mittlerweile fand sie es nur noch anstrengend. Mit einer schnellen Bewegung schnappte sie sich ihre Tüten, die sie beinahe wieder zu Boden gerissen hätten, und stapfte davon. Verblüfft blieb er einen Moment wie angewurzelt stehen, dann folgte er ihr, während er auf sie einredete, sie möge ihm doch die schweren Dinge überlassen. Doch sie ignorierte ihn und die Menschen, die sie beide anstarrten, und lief zu ihrem Auto. Die stopfte alles auf die Rückbank ihres 74er Innocenti Minis und stieg ein. Er versuchte noch sie aufzuhalten, indem er die Türe festhielt, doch sie ließ den Motor an. Mit Vollgas brauste sie mit noch offener Tür davon und ließ ihn mitten im Parkhaus stehen.
Als sie um eine Ecke bog, dabei die Türe zuschnappen ließ und ihn aus ihrem Rückspiegel verschwinden sah, entlockte ihr das ein Lächeln. Sie freute über diese gelungene Aktion und drehte das Radio noch ein wenig lauter.