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Kapitel 3

~ Alte Freunde...

 

Das Kästchen wurde nun, abgesehen von den beiden Ringen, die ich trug, zu meinem wertvollsten Besitz. Ich verstaute es in meiner Satteltasche und warf mir diese über die Schulter. Im Morgengrauen verließ ich Ilmarin und wanderte den Berg Taniquetil wieder hinunter. Als ich auf halbem Wege war spürte ich plötzlich wie sich die Erde unter mir aufbäumte. Ein Tosen brach an und der Himmel verdunkelte sich mit einem Mal. Ängstlich flüchtete ich mich unter einen Felsvorsprung und hielt mir die Ohren zu. Mit zusammengekniffenen Augen wartete ich, bis alles vorbei war.

 

Nach einer Unendlichkeit, wie es mir schien, hörte es auf. Meine Beine waren ganz weich geworden und ich musste mich festhalten, um nicht zu fallen. Dabei warf ich einen Blick von dem Berg hinunter in die Ebene. Ich konnte Valmar mit den silbernen Dächern erkennen, die jedoch, wenn sie nicht schon vorher verfallen waren, durch das Erdbeben alle eingestürzt waren. Und dahinter sah ich den Schicksalsring. Auch er war zerstört worden.

 

Ich erschrak vor dem Zorn der Götter und hoffte insgeheim, dass ich von nun an alles richtig machen würde. Doch ich sagte mir auch, dass es nichts Falsches war, auf mein Herz zu hören, denn bisher hatte es mich noch nie wirklich fehlgeleitet.

 

Auf dem Weg ins Tal sprach ich Gebete in Gedenken an meine Mutter, meine Schwester, meinen Schwager und Gandalf. Sie alle hatte ich das letzte Mal in Mittelerde gesehen, doch die Erinnerungen an sie waren noch so lebendig, als hätten sie mich erst vor ein paar Tagen verlassen. Ich schwor mir, ihre Gedenkstätten zu besuchen und dort Blumen nieder zu legen. Meine Zeit zu trauern würde kommen, doch nun schob ich diese Gedanken entschlossen bei Seite. Ich wollte mich auf meine letzte Aufgabe konzentrieren. Sobald ich sie beendet hatte, konnte ich mit mir selber ins Reine kommen.

 

Zu Fuß brauchte ich beinahe eine Woche, bis ich endlich die Trümmer der einstigen Valarstadt erreichte. Alles war verlassen. Die goldenen Tore waren zerbrochen und aus den Angeln gehoben worden, alle Fenster waren zerschlagen, die Dächer eingestürzt. Doch es gab keine Leichen. Niemand war hier, weder lebendig noch tot. Mir wurde ganz unbehaglich und kalt als ich zwischen den verlassenen Gebäuden umher strich. Ich wusste nicht, was ich hier verrichten sollte. Was wollten die Valar, das ich tat?

 

Als der Abend hereinbrach, suchte ich mir ein nicht vollständig zerstörtes Gebäude und durchsuchte es im letzten Licht des Tages. Ich fand noch ein wenig Essbares, also konnten die Bewohner noch nicht sehr lange verschwunden sein. Auch gab es hier Kleidung, die ich anziehen und ein Bett, in das ich mich legen konnte. Ich verschloss die Türe des Hauses, so gut es ging, und legte mich hin. Eine Weile lag ich noch wach, da ich mir einbildete, etwas zu hören. Doch irgendwann glitt ich in einen tiefen, aber unruhigen Schlaf über.

 

Am nächsten Tag machte ich Feuer im Herd und erhitzte Badewasser. Meine Füße brannten, als ich sie eintauchte, doch ich ignorierte es. Mit einem Stück Holz schabte ich mir den gröbsten Schmutz herunter, wusch mir die Haare aus und erneuerte schließlich das Wasser. Ich fand sogar ein Stück Seife und säuberte mich so gründlich es mir möglich war. Nach dem langen und ausgiebigen Bad fühlte ich mich wie neu geboren. Das heiße Wasser hatte meine verspannten Muskeln etwas gelockert und mir neue Lebensenergie geben. Gestärkt setzte ich meinen Weg fort.

 

Aus dem Haus hatte ich mir Männerkleidung gewählt, denn sie erschien mir in einer Stadt, in welcher man ständig über eingestürzte Teile eines Gebäudes klettern musste, als viel praktischer, denn einem Kleid. Meine wunden Füße stecken nun in hohen Stiefeln aus weichem braunem Leder, an den Beinen trug ich dicke Leinenhosen, die etwas aushalten konnten, ein Leinenhemd über der Brust und eine Weste aus grobem Leder. Auch hatte ich ein paar Waffen gefunden, was mich durchaus verwunderte. Denn eigentlich war es immer eine sehr friedliche Stadt gewesen.

 

Aus dem Waffenarsenal, welches ich in einem der Häuser entdeckt hatte, hatte ich mir ein Langschwert ausgewählt. Es hatte eine gebogene Klinge und war für mich perfekt ausbalanciert. Meine eigenen Waffen hatte ich damals in Mittelerde zurückgelassen, denn nach den unzähligen Schlachten, die ich geschlagen hatte, hatte ich eigentlich vorgehabt, nie wieder eine Waffe zu führen. Doch in Anbetracht dieser verlassenen Gegend erschien es mir als das Sicherste, zumindest auf das Schlimmste vorbereitet zu sein.

 

Es kam mir vor, als wäre es erst gestern gewesen, da ich Elladan und Elrohir die Gaben der Valar, die sie mir damals für meine Reise gaben, überließ. Nun ruhten sie vermutlich für immer in Bruchtal. Doch dort konnten sie bis ans Ende der Zeit bleiben.

 

Als ich durch die Ruinen streifte, stellte ich mir vor, wie es hier früher ausgesehen hatte. Es war ein wundervoller Ort für mich gewesen, voller Zauber und Anmut. Nun war nichts mehr davon übrig geblieben. Es lag noch ein Hauch von Magie in der Luft, doch auch bald würde dieser ebenfalls verschwunden sein.

 

Ich suchte mir einen Weg zum alten Marktplatz der Stadt. Vielleicht würde ich dort jemanden finden, der mir helfen konnte. Schließlich musste es noch jemanden geben, der hier war. Über wen sonst hätte der schwarze Elb, wie die Valar ihn genannt hatten, herrschen sollen, wenn es niemanden mehr gab. Doch so sehr ich auch suchte, rief und in jedes Haus ging, ich konnte keine Seele entdecken. Es war alles wie ausgestorben.

 

Plötzlich zitterte die Erde erneut. Eine Nachwehe des Bebens vor ein paar Tagen erschütterte die Stadt. Leises Grollen kam von den umliegenden Gebäuden, die wohl durch die starken Erschütterungen sehr instabil geworden waren. Ich hörte wie ein dicker Felsbrocken sich irgendwo löste und folgte dem Geräusch. Mein Blick fiel auf einen hellblonden Haarschopf vor mir auf der Straße und das Poltern kam immer näher.

 

Widerwillig riss ich mich von der blonden Gestalt los und sah nach oben. Vor Entsetzen riss ich die Augen weit auf und es musste mir ein Schrei entwichen sein. Bilder aus längst vergangenen Tagen strömten auf mich ein, wie ein Fels von eben jener Größe auf mich zugeflogen kam und mir den Unterarm durchschlug. Schmerz zog mein Herz zusammen, denn ich erinnerte mich wieder daran, wo es geschehen war und was danach passierte. Unfähig mich zu rühren, da so vieles Schmerzhafte vor meinem inneren Auge ablief, stand ich nur da und starrte den Felsen an.

 

Etwas riss mich von den Füßen und warf mich zu Boden. Ich spürte den harten Aufprall und stöhnte auf. Kurz darauf vernahm ich ein dumpfes Geräusch, als der Felsbrocken neben mir einschlug. Sterne tanzten vor meinen Augen und ich fühlte mich erschöpft und unendlich müde.

 

„Geht es Euch gut?“ Eine sanfte Stimme holte mich aus den Tiefen meiner kurzen Bewusstlosigkeit zurück. Etwas Kaltes lag auf meiner Stirn. Für einen Moment glaubte ich wieder in der Hornburg zu sein. Ich schob die Hand auf meinem Gesicht bei Seite und öffnete die Augen. Fast erwartete ich die Höhlen wiederzusehen, aber statt auf nackten Stein blickte ich in den Himmel.

 

Verwirrt starrte ich auf das strahlende Blau, welches sich über mir erstreckte, und ich wusste erst nicht wo ich war. Dann schob sich ein Gesicht in mein Blickfeld. Es war fein geschnitten, umgeben von einem leuchtenden Kranz goldener Locken, mit Augen so braun wie die Rinde eines Baumes, und Lippen die aussahen wie Pfirsiche. Etwas regte sich tief in meinem Gedächtnis, ganz weit hinten, sogar noch hinter den tiefen Gefühlen von Liebe, die ich einst dort vergraben hatte. Ich kannte dieses Gesicht.

 

Die Elbe lächelte mich jetzt an. Sie zeigte zwei Reihen perfekter weißer Zähne und das Gefühl verstärkte sich nur noch, dass ich sie von irgendwoher kannte. „Ich kann es nicht glauben“, sagte sie fröhlich. „Du bist es wirklich!“ Sie machte einen leichten Hüpfer neben mir und da fiel es mir wieder ein. „Ithil-dî?“

 

Meine Cousine und langjährige Freundin aus den Tagen, die ich vor Jahren in Valinor verbracht hatte, stieß einen spitzen Schrei aus und umarmte mich überschwänglich. „Lilórien!“, rief sie immer wieder meinen Namen, bis sie sich endlich beruhigt hatte. „Du hast immer wieder gerufen, als du durch die Stadt gelaufen bist. Und ich war mir erst nicht sicher, ob du es wirklich bist, denn eigentlich ist es ja unmöglich. Doch hier bist du! Ich kann es noch immer nicht glauben. Was ist passiert?“

 

Zögerlich richtete ich mich auf, doch es schien mir nichts geschehen zu sein. Ich verdankte ihr mein Leben. Also erzählte ich ihr meine Geschichte, während wir durch die zerfallene Stadt spazierten. Ich ließ nichts aus und erfand nichts hinzu. Und sie lauschte mir, bis die Sonne schon untergegangen war.

 

Sie führte mich in ein halb zerstörtes Gebäude, welches sie wohl auch vor dem Erdbeben schon bewohnt hatte. Sie versprach mir, dass ich ein Bett und etwas zu Essen bekommen würde, doch ich wäre ihr ohnehin gefolgt. Sie war die einzige, die ich bisher hier gesehen hatte. Und ich war schon sehr gespannt auf ihre Geschichte. Doch diese musste bis zum nächsten Tag warten.

 

Im Haus erwartete uns ein hochgewachsener Elb. Er hatte dunkle Haare und helle Augen und überragte mich um mehr als eine Haupteslänge. Sein Name war Telperion, benannt nach einem der Beiden Bäume. Seine Schwester Laurelin, war nach dem Anderen benannt worden. Er küsste Ithil-dî zur Begrüßung auf den Mund und ich konnte Liebe in ihrer beider Augen sehen, als sie sich in den Armen hielten. Wer wusste schon, was sie durchgemacht hatten in den letzten Tagen.

 

Nach einem ausgiebigen Abendessen ging ich zu Bett und ich hatte in diesem Moment das Gefühl, noch nie bequemer gelegen zu haben.

 

Am nächsten Morgen half ich meiner Cousine erst beim Haushalt. Nachdem Telperion gegangen war um die Stadt weiter abzusuchen machten wir es uns vor dem Haus bequem und sie erzählte mir ihre Geschichte. „Seitdem die Drei Elbenringe Aman betreten hatten, schien es, als wäre die Gunst der Götter von uns abgefallen. Tage, die vorher im Fluge vergangen waren, weil alle so glückselig miteinander lebten, wurden nun zur Qual. Sie zogen sich dahin, als hätte man die Uhren angehalten, und es herrschte kaum noch Freude in Valmar. Deine Mutter, meine Tante, war die Erste, die starb. Es geschah einfach eines Tages. Wir bauten ein Mausoleum für sie und gaben ihr Nenya mit auf ihren letzten Weg.

 

Danach starb deine Schwester und Elrond folgte ihr wenig später. Und auch Olórin ging von uns. Als die großen Elbenfürsten schwanden, begann es auch bei den anderen und so starben sehr viele von uns, bis nur noch eine geringe Zahl übrig blieb. Die, die wir noch leben, hatten alle etwas, woran wir noch glaubten, wofür es sich zu leben lohnte. Doch mittlerweile zweifeln auch wir. Denn wie du siehst haben die Götter uns verlassen.“ Sie zeigte auf den Taniquetil.

 

Sie sah so traurig aus und ich konnte sie so gut verstehen. Vermutlich waren wir nun die einzigen aus unserem Zweig der Familie, die noch existierten. Und doch stimmte es mich froh, dass ich nun doch nicht mehr so alleine war, wie ich zunächst dachte. Und es machte mir Mut. Ich nahm ihre Hand und lächelte sie an. „Die Götter haben uns nicht verlassen. Es ist eher umgekehrt. Weil niemand mehr an sie glaubt, schwindet ihre Macht. Doch glaube mir, sie existieren noch und wollen, dass es ihren Kindern gut geht.“ Ich zeigte ihr Caeya. „Siehst du diesen Ring? Varda und Manwe haben ihn mir geschenkt. Ich soll nun an ihrer Stelle den Elben den Weg weisen.“

 

Ithil-dî sah mich skeptisch an. „Du hast sie gesehen? Und sie haben das zu dir gesagt?“ Ich nahm auch ihre andere Hand in meine, drückte sie fest. „Das haben sie! Berühre den Stein und du wirst es sehen.“ Und meine Cousine tat es. Ihre Finger streichelten den zarten Stein ehrfürchtig und als sie ihn berührte, trat die Erkenntnis in ihren Blick. Ich konnte in ihren Augen sehen, dass sie das sah, was ich gesehen hatte, wie ich vor Manwe und Varda gestanden und den Ring empfangen hatte. Und als sie wieder von dem Stein abließ hatte sie Tränen in den Augen.

 

„Ich glaube dir“, flüsterte sie, doch ich konnte trotz alledem noch eine Spur Zweifel in ihr hören. Ich nahm ihr Gesicht zwischen meine Hände und sah ihr tief in die Augen. „Du darfst nicht zweifeln. Denn wenn dein Herz strauchelt, wirst du stolpern. Du musst festen Glaubens sein. Die Götter zeigen uns nur eine weitere Türe, doch den Weg müssen wir alleine gehen. Verbanne die Zwietracht, die gesät wurde, und lass die Liebe wieder in dein Herz hinein. Denk an Telperion.“

 

Ihre Augen glühten auf als ich seinen Namen nannte und ich wurde eifersüchtig als ich die Liebe erkannte, die zwischen ihnen herrschen musste. Doch ich schob dieses Gefühl schnell von mir, denn ich durfte so etwas nicht zulassen. Ich musste darauf vertrauen, dass die Götter mir kein Schicksal auferlegt hatten, welches ich nicht auch zu meistern wusste. Selbst wenn es bedeuten sollte, nie solch eine tiefe Liebe erfahren zu können, wie es meiner Cousine vergönnt war.

 

„Lilórien, ich habe dir immer vertraut, auch als wir noch Kinder waren“, sagte sie. Sie drehte sich ein wenig von mir weg und blickte in die Richtung, in die Telperion verschwunden war. „Und ich möchte dir helfen, deinen Weg zu finden, denn ich habe meinen schon gefunden. Doch wie können wir das tun, was die Valar von uns verlangen? Weißt du einen sicheren Weg?“

 

Ich lächelte traurig. „Einen sicheren Weg gibt es nicht. Wenn wir fest an uns glauben, wird sich der Pfand, den wir gehen müssen, vor uns offenbaren. Da bin ich mir ganz sicher. Es wird sicher nicht leicht sein, doch wann war es das jemals? Aber ich weiß, dass es das Richtige ist.“ Ich drückte den Ring an meine Brust und spürte, dass es wahr war, was ich sagte. Ja, ich hatte meinen Glauben wiedergefunden, den an die Götter und den an mich selbst, und ich würde alles daran setzen, dass auch die anderen Vertreter meines Volkes ihn erneut finden würden. Ich musste meine Aufgabe sehr ernst nehmen und es würde Opfer erfordern. Aber diese war ich bereit darzubringen. Ich würde die Götter nicht im Stich lassen. Schließlich hatten sie mich auch nie alleine gelassen, auch wenn ich das manchmal geglaubt hatte.

 

Unsere stille Zusammenkunft wurde jäh unterbrochen, als Telperion aufgeregt auf uns zugelaufen kam. Sein Gesicht war gerötet vor Anstrengung und seine Kleidung schmutzig und zerrissen. Atemlos blieb er vor uns stehen, stützte sich auf die Knie auf und rang nach Luft. Ithil-dî stand auf und legte ihm einen Arm um die Schulter. „Was ist geschehen, mein Liebster?“, fragte sie mit Besorgnis.

 

Langsam richtete er sich auf. „Ich habe einen Eingang zur Großen Halle gefunden“, sagte er und meine Cousine riss die Augen auf. „Du meinst…?“ Doch er unterbrach sie, bevor sie die Frage beenden konnte. „Alle Überlebenden müssen während des Erdbebens dorthin geflüchtet sein, denn sie sitzen nun alle dort seit Tagen fest.“

 

Ich begriff noch nicht so richtig, was geschehen war, doch ich wusste, dass jemand in Nöten war. „Dann müssen wir ihnen helfen“, sagte ich entschlossen. Ich legte meine Ringe in das Holzkästchen und verstecke es im Haus. Dann liefen wir gemeinsam zu dem alten Versammlungsort in Valmar.

 

 

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Namensbedeutung:

 

Ithil-dî – Mondfrau

Telperion – Baum von Silberglanz

Laurelin – Goldenlied

© by LilórienSilme 2015

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