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Kapitel 29

 

~ Bridge over troubled Water

 

When tears are in your eyes

I will dry them all

And friends just can't be found

 

Das kleine Essen, was Joe hatte ausrichten sollen, wucherte zu einer regelrechten kleinen Party aus. Evi erschien, genauso wie Orlando. Doch sie brachten außerdem noch Luke und Orlandos ältesten Sohn mit. Wobei Orlandos Frau wohl zu Hause geblieben war, da sie sich auf ihren Job, der ab Montag beginnen sollte, vorbereiten wollte.


Schließlich war ihr Haus an diesem Samstagabend so voll, dass es fast aus allen Nähten zu platzen schien. Zumindest kam es der jungen Designerin so vor. Nervös fuhr sie sich durch die Haare, die sie eigentlich hatte zu einer kunstvollen Frisur hochstecken wollen, doch dazu war sie nicht mehr gekommen. Jetzt trug sie sie schlicht offen, hatte sich dafür aber eine Spange aus Rotgold eingesteckt, damit ihr die vorderen Strähnen beim Kochen nicht ins Gesicht fielen. Außerdem trug sie schon ihr schönstes grünes Kleid, was sie allerdings zum Schutz vor Essensresten noch unter einer Schürze versteckte.

Die Jungs hatten es sich schon in ihm Wohnzimmer gemütlich gemacht, wobei Graham und Richard mit ihrer Größe und Rohheit irgendwie fehl am Platz wirkten zwischen dem ganzen Vintage. Aidan jedoch schien es zu gefallen. Er bewunderte ihren Couchtisch eingängig, während Orlando mit seinem Ältesten die Fotos im Flur begutachtete.

Evi und Emily hatten es sich an der Theke zur Küche gemütlich gemacht und schwatzten. Dabei schnippelten sie Gemüse. Und darüber war Joe mehr als nur erleichtert. Wie hätte sie sonst ein Essen für über zehn Leute alleine bewältigen sollen? Innerlich beglückwünschte sie sich dazu, dass sie vorausschauend so viel eingekauft hatte und dass der Nachtisch schon seit zwei Tagen im Kühlschrank auf den Verzehr wartete.

Das Rezept, was sie für heute Abend rausgesucht hatte, war so einfach wie genial. Drei dicke Hühner warteten im Ganzen darauf, zubereitet zu werden. Dabei mischte sie eine Marinade an, die sie großzügig auf der noch weichen Haut verteilte. Später im Ofen würde sie schön knusprig werden. Dann ging sie herüber zum Kühlschrank und holte drei Bierdosen heraus. Die stellte sie vor Evi und Emily hin.

„Oh, danke!“, rief Emily begeistert aus und wollte sich schon eine Dose öffnen. Doch Joe ging dazwischen und nahm sie ihr wieder weg. „Nicht!“, sagte sie schnell. „Das ist für das Essen.“

Evi zog eine Augenbraue hoch. „Für das Essen? Willst du die Hühner besoffen machen?“ Sie kicherte, während Joe rot wurde. „So ähnlich. Vielleicht kannst du mir kurz helfen? Alleine ist das immer etwas umständlich.“

Zusammen gelang es den beiden Frauen schließlich, die drei Hühner auf jeweils einer offenen Bierdose zu platzieren und sie auf ein tiefes Backblech zu stellen. Drum herum verteilten sie nun einen Teil des kleingeschnittenen Gemüses, das später zu einer Soße werden sollte. Außerdem stellte Joe noch einen gigantischen Topf mit Kartoffeln und einen mit dem restlichen Gemüse auf den Herd. Erleichtert, dass alles bisher so gut geklappt hatte, atmete sie ein bisschen auf. Das zumindest war geschafft!

„Woher hast du das Rezept mit der Bierdose?“, fragte Emily interessiert. Sie hatte schon viele von Joes seltsamen Kochideen probieren können und wusste, dass sie fast immer schmeckten. Aber diese Idee war schon ziemlich ausgefallen.

Die Blonde ging zu einem Bücherboard über einem der Fenster, kletterte geschickt auf die Anrichte und zog eines der vielen Kochbücher heraus. Das unverkennbare Gesicht eines Engländers lächelte ihnen aus einem Kräutergarten entgegen. „Ich lese gerne europäische Kochbücher“, gab sie zu und reichte das Buch Emily. Die hatte sich zwar schon mal die Bücherrücken angesehen, teilte aber nicht dieselbe Faszination wie ihre Freundin.

„Wieso ausgerechnet Europa?“ Evi nahm Emily das Buch ab und blätterte ein bisschen darin. Daher bekam sie nicht mit, wie sich Joes Blick leicht verdunkelte. Immerhin konnte sie nicht wissen, dass die Vergangenheit der jungen Frau nichts war, worüber sie gerne sprach. Doch mit ihrer offenen und ehrlichen Art und wie sie Joe nun unwissentlich aufmunternd anlächelte, brach sie irgendwie das Eis, das Joes Herz umgab.

Sie senkte den Blick und starrte auf ihre kleinen Hände. „Mein Vater“, begann sie, „kam vermutlich aus Europa. Meine Mutter hat mir nie viel über ihn erzählt, nur dass er ein Soldat war, der hier wohl mal stationiert gewesen sein muss.“ Sie unterbrach sich selbst und musste schlucken, weil sie gegen die Tränen ankämpfte. Die Erinnerungen an ihre Mutter schmerzten sie auch nach so vielen Jahren noch. Damals hatte sie ihre Asche im Meer verstreut, doch heute wünschte sie sich manchmal gerne einen Ort, den sie hätte besuchen können, um ihrer Mutter zu gedenken.

Emily bemerkte, wie nah Joe das ging, und legte ihr beruhigend eine Hand auf den dünnen Unterarm. Sie musste zugeben, dass sie ein wenig neidisch darüber war, dass Joe Evi einfach so von ihrer Vergangenheit erzählte. Andererseits musste sie sich eingestehen, dass sie nie sonderlich neugierig gewesen war und daher selten etwas gefragt hatte, was weiter zurückreichte als in die Zeit, bevor sie sich kennengelernt hatten. Vielleicht war sie nicht immer die beste Freundin gewesen.

Schließlich fuhr Joe fort. „Sie hatten nur zwei Wochen zusammen, soweit ich weiß. Danach musste er wieder zurück - wohin auch immer. Meine Mutter hat nie mehr als seinen Namen erfahren, weil die Zeit einfach zu kurz war. Ich weiß also nur, dass er Alexander hieß und grüne Augen hatte, die er mir vermacht hat.“ Sie wagte ein schwaches Lächeln, was Evi und Emily zögerlich erwiderten. Mit so einem Gefühlsausbruch hatte die Schauspielerin nicht gerechnet, als sie so eine einfache Frage gestellt hatte.

Später saßen sie alle zusammen an Joes großem Esstisch, den sie noch um einen Beistelltisch erweitern mussten, damit alle Menschen und das ganze Essen Platz finden konnten. Zur Vorspeise hatte Joe ein paar Fladen gekauft, die sich nun jeder nach Belieben mit verschiedenen selbstgemachten Soßen und allerhand Gemüse und Salat belegen konnte. Dabei konnte sich Graham natürlich seinen Kommentar nicht verkneifen. Er hob ein besonders großes Salatblatt an und schaute darunter. „Wo ist das Fleisch?“, fragte er mit Entsetzen und sah sich weiter auf dem Tisch vor ihm um.

Die Jungs brachen in brüllendes, dunkles Gelächter aus, was Orlando nur mit einer hochgezogenen Augenbraue quittierte. Dann sah er seinen Sohn ermahnend an, der ebenfalls hinter vorgehaltener Hand kicherte. „Lass dir bloß nicht einfallen, mit denen da zu sympathisieren. Das sind Zwerge!“ Dabei sprach er das letzte Wort mit einer derartigen Abscheu aus, dass Richard, Graham, Aidan und Dean sofort verstummten.

„Kein Wunder“, sagte Graham, „dass ihr Elben so dünn seid. Ihr esst ja nichts Vernünftiges. Nur Grünzeug. Als wäret ihr Kaninchen.“ Er schob seine oberen Schneidezähne so über seine Unterlippe, dass er dadurch hervorragend eines der kuscheligen Tierchen nachahmen konnte, von denen er gerade gesprochen hatte.

Aidan kommentierte das zustimmend und wollte schon etwas von dem Essen nach Graham werfen, doch Dean hielt ihn gerade noch so zurück. Das wiederum veranlasste Evi zu einem herablassenden Blick, als wollte sie Aidan wie ein lästiges Insekt jeden Moment unter ihren hübschen Schuhen zermalmen. Hätte Joe es nicht besser gewusst, hätte sie fast Angst vor der hübschen Frau haben können. Doch Orlando nahm Evis Blick die Schärfe, indem er sich näher zu ihr beugte und mit ihr in dieselbe Richtung wie sie starrte. „Leg dich niemals“, flüsterte er an Aidan gewandt, „mit einer Elbenkriegerin an.“

„Mir scheint“, schaltete sich nun auch Luke ein, „dass er völlig recht hat, Herr Zwerg.“ Er war ein hochgewachsener, gut gebauter und gut aussehender Mann mit braunen Augen und einem dunklen Bartschatten. Seine fast schwarzen Haare trug er noch kurz, würde sie aber für den Film nun lang wachsen lassen. Emily hatte ihm schon schmachtende Blicke zugeworfen, seitdem er das Haus betreten hatte. Doch Orlando hatte ihr schnell ihre Illusionen genommen, als er ihr sagte, dass er sich wohl kaum für sie interessieren würde. Empört hatte sie antworten wollen, dass sie ohnehin einen Freund hatte, doch der Brite war ihr zuvor gekommen und hatte fast schon beiläufig erwähnt, dass er wohl gar keine Frau interessant finden würde, was Emily mit offener Kinnlade zurückgelassen hatte. Später hatte sie sich traurig an der Theke niedergelassen, das Kinn auf die Hände gestützt und nur „Was für eine Verschwendung“ gemurmelt.

Jetzt schien sie schon darüber hinweggekommen zu sein, denn sie warf sich mutig zwischen die beiden verfeindeten Parteien. „Elben, Zwerge, Menschen“, sagte sie und fuchtelte dabei nichtssagend mit den Händen in der Luft herum, „ist doch völlig egal. Soweit ich das Buch kenne, kämpfen am Ende ohnehin alle zusammen gegen die Orks.“

„Ja“, grinste Orlando, „und die einen eben erfolgreicher als die anderen.“ Dabei sah er Aidan, Dean und Richard an, als wollte er noch etwas hinzufügen, ließ es aber bleiben.

Dean verschränkte nur die kurzen Arme vor der Brust und sagte mit all der Überheblichkeit, die er aufbringen konnte: „Ich weiß gar nicht, was du meinst, Perückengesicht.“

Es entbrannte eine Diskussion über die noch kommenden Drehtage, was Pete sich wohl für alle ausgedacht hatte, und darüber, welche Szenen sie noch zu drehen hatten. Immerhin hatten sie noch nicht das vollständige Drehbuch gelesen. „Das wäre auch zu einfach“, kommentierte Orlando diesen Umstand, der dies bereits von den Dreharbeiten von vor zwölf Jahren gewohnt war. Damals hatten sie jeden Tag in der Maske ihre Dialoge für den kommenden Tag bekommen. Mehr hatte es nicht gegeben. Aber es hätte ohnehin keinen Sinn gemacht, da Pete und Fran jeden Tag die Texte umgeschrieben hatten. Und soweit sie es wussten, war das dieses Mal auch so.

Der Hauptgang kam sehr gut an. Joe balancierte die drei Hühner gekonnt zum Tisch und ließ Richard schließlich die Ehre, die Tiere zu zerlegen. Und auch Graham war zufrieden, dass es endlich Fleisch zu essen gab. Genüsslich leckte er sich nach jedem Biss die Finger, warf Aidan ab und zu mit einem Knochen ab und genoss ansonsten das Tischgespräch, was sich nun hauptsächlich um die Erfahrungen drehte, die man schon gesammelt hatte.

„Zum Glück“, sagte Orlando, „habe ich scheinbar nicht allzu viel verlernt seit dem letzten Mal. Zumindest mit dem Bogen kann ich noch genauso gut umgehen wie früher. Nur die Kostüme“, bemerkte er mit einem Seitenblick auf Joe, „sind irgendwie enger geworden.“ Dabei strich er sich demonstrativ über seine Brust.

„Hat Mom dich eigentlich schon in der Kluft gesehen?“, fragte sein Sohn zwischen zwei Bissen. Auch ihm schien es hervorragend zu schmecken, was Joe besonders freute. Immerhin waren Kinder immer ehrlich, wenn es um ihre Meinung ging. Erwachsene logen gerne, um dem anderen nicht weh zu tun. Doch wenn sie einen Blick in die Runde warf, musste sie feststellen, dass niemand seinen Teller voll zurückließ.

Der Legolas-auf-Zeit winkte ab. „Die kennt das schon“, sagte er nur und widmete sich wieder seinem Gemüse.

„Ich wäre so gern dabei gewesen“, seufzte Joe, stützte ihren Kopf auf ihre rechte Hand und blickte in die Ferne. Sie kannte die Extra-DVDs der Special Extended Edition beinahe auswendig, hatte jedes Videomaterial, das es zusätzlich gab, gesehen und alles gelesen, was man im Internet finden konnte. Nun mit dabei zu sein war eine Ehre, mit der sie nie und nimmer gerechnet hätte. Deswegen betrachtete sie es auch als Privileg, so viel Verantwortung zu tragen, obwohl sie sich immer  noch sehr unwohl dabei fühlte.

Vor dem Nachtisch zog Aidan sich auf die Terrasse zurück, um sich in Ruhe eine Zigarette anzuzünden. Richard und Luke gesellten sich zu ihm, um etwas frische Luft zu schnappen, da es in dem kleinen Wohnraum doch etwas warm geworden war mit so vielen Leuten.

Das Glimmen des Tabaks hing für eine Sekunde in der Dunkelheit, bis Aidan genüsslich daran zog und sein Gesicht damit erleuchtete. Dann blies er den Rauch wieder aus und lehnte sich auf der Bank zurück, die auf der Veranda stand, mit Blick auf die unter ihnen liegende Bucht. Das Wetter war schon milder geworden, doch es war immer noch sehr wechselhaft, wie es wohl für diese Insel üblich war. Zumindest schienen die Kiwis nicht beeindruckt davon zu sein. Er fand es immer noch unerträglich, mit diesen Temperaturen Ende August, Anfang September kämpfen zu müssen.

Richard hatte sich neben ihn gesetzt, wohingegen Luke sich mit dem Rücken an die Brüstung gelehnt hatte. „Danke, dass ich mitkommen durfte“, sagte er unvermittelt.

„Dank nicht uns“, sagte Richard. „Das war Joes Einladung.“

„Auch wenn wir ihr etwas auf die Sprünge geholfen haben.“ Aidan kicherte bei der Erinnerung an das Mittagessen.

„Woher kennt ihr sie so gut?“ Luke wirkte ehrlich interessiert und versuchte sich so gut es ging in die schon entstandene Gemeinschaft der Zwerge zu integrieren. Später im Jahr würden sie einige Szenen mit ihm haben und auch der dritte Drehblock würde vermutlich voll davon sein. Deswegen war es nur logisch, dass er irgendwie dazu gehören wollte.

Richard deutete erst auf sich, dann nach drinnen. „Sie hat die Kostüme für mich, Graham und Dean gemacht. Und irgendwie...“ Er zögerte. Wie sollte er das nur erklären?

Doch Aidan kam ihm zur Hilfe. Wenn auch nicht unbedingt so, wie Richard es selbst ausgedrückt hätte. „Und unsere beiden bösen Zwerge hier - Thorin und Dwalin - scheinen einen Narren an ihr gefressen zu haben. Als wenn sie sie beschützen wollen.“

„Ja“, sagte Luke nachdenklich, „mir kommt sie auch sehr zerbrechlich vor. Als hätte sie schon viel erlebt und hätte nicht alles so einwandfrei weggesteckt. Was ist denn mit ihrer Familie?“

„Sie hat keine mehr.“ Aidan machte noch einen letzten Zug, dann schnippte er den Glimmstängel von der Veranda runter in den Garten. „Ihre Mutter ist gestorben, da war sie gerade mal zwölf. Und ihren Vater hat sie nie kennengelernt. Mehr Familie gab es da wohl nie bei ihr. Das weiß ich von Emily.“

„Das klingt wirklich ziemlich traurig. Kein Wunder, dass ihr da Vaterkomplexe entwickelt habt.“ Luke zwinkerte Richard zu, der jedoch nur düster zurückschaute. Er mochte dieses Wort nicht, weil es für ihn immer einen pädophilen Beigeschmack hatte. Er mochte Joe einfach und ja, vielleicht sah er sich auch ein bisschen in der Vaterrolle für sie. Doch das hatte nichts damit zu tun, dass sie keine Familie mehr hatte. Manche Leute waren einem einfach auf Anhieb sympathisch und man wollte sich mit ihnen anfreunden. Dass die junge Designerin so eine schreckliche Kindheit hatte, hatte er nicht ahnen können, als er sie zum ersten Mal getroffen hatte. Und dass sich daraus eine so enge und auch irgendwie seltsame Beziehung entwickeln würde, hätte er vermutlich nicht einmal geglaubt, wenn man ihm davon ein Drehbuch in die Hand gerdrückt hätte.

Grimmig verschränkte er die Arme vor seiner breiten Brust. „Sie ist ein nettes Mädel. So einfach ist das.“

„Das scheint mir auch so.“ Luke stieß sich von der Brüstung ab und trat in den Lichtkegel, der vom Wohnzimmer nach draußen lief. Dabei beobachtete er, wie Joe den Tisch abräumte und dabei jegliche Hilfe ablehnte. Dann bot sie jedem noch einen Kaffee an, den sie extra frisch in einer altmodischen Mühle mahlte und dann mit einer antik wirkenden, italienischen Espressomaschine aufbrühte. Dabei verlor sie nicht ein einziges Mal ihr leichtes Lächeln, was sie so unglaublich hell strahlen ließ. Auch er ließ sich davon anstecken, als er sie so betrachtete. „Und sie hat ein Herz aus Gold.“

Sie gingen wieder rein und irgendwie schaffte es Graham doch, Joe seine Hilfe aufzudrängen. Er schnappte sich die Schüssel mit dem Nachtisch und trug sie zum Tisch. Dann nahm er ein großes Messer von der Magnetleiste. Sofort hob Joe jedoch die Hände und kam auf ihn zu, als wenn sie einen tollwütigen Hund beruhigen wollte. „Nein, wir brauchen kein Messer. Leg das wieder weg.“

„Ja, Großer! Sonst machst du das Messer noch stumpf“, rief Aidan vom Tisch aus, denn als er gesehen hatte, dass es weiterging mit dem köstlichen Menü, war er schneller gewesen als alle anderen. Dabei verströmte er jedoch den leichten Geruch nach Nikotin, was von Orlando nur mit einem Naserümpfen kommentiert wurde. Seitdem er aufgehört hatte zu rauchen, war er zu einem dieser schlimmen Nichtraucher geworden, die alle Raucher mit diesem Blick maßen.

Dean stieg auf Aidans Witz ein und stimmte die erste Zeile von „Blunt the Knive“ an, was Graham gleich aufgriff. Dabei fuchtelte er mit dem Messer noch etwas herum, sah dann aber Joes missbilligenden Blick und legte es wieder weg.

Mit einem lauten „Tut, was Joey Taylor hasst“ ließen sich die Männer wieder am Tisch nieder, während der Rest verhalten Beifall klatschte.

Joes Blick verdüsterte sich für einen kurzen Moment, dann hatte sie sich wieder im Griff. So hatte sie schon lange niemand mehr genannt. Dieser Spitzname weckte nicht gerade freudige Erinnerungen bei ihr und sie hatte keine Lust, sich diesen bisher so toll laufenden Abend mit dunklen Gedanken an die Vergangenheit vermiesen zu lassen. Daher überspielte sie es so gut sie konnte, bemerkte aber den Blick dabei, den Dean ihr zuwarf.

Er hatte genau gesehen, wie sie beim Ende des Liedes geguckt hatte, und machte sich nun Vorwürfe, dass er vielleicht etwas Falsches gesagt oder getan haben könnte. Doch der Augenblick war nicht günstig, um sie danach zu fragen. So tat er, was sie tat, nur mit mehr Überzeugung und Übung, und nahm sich von dem Nachtisch.

Nachdem alle satt und zufrieden waren und die Küche einem Schlachtfeld oder einer Hobbithöhle nach Zwergenbesuch glich, machten es sich alle im Wohnzimmer gemütlich. Bevor man Evi jedoch Platz machen konnte, sagte sie, dass sie zu ihrem kleinen Sohn nach Hause müsse, was Orlando dazu veranlasste, ebenfalls aufzubrechen. Seine Frau würde zu Hause auf ihn warten und er müsse außerdem seinen Sohn ins Bett bringen.

Beide Schauspieler, sowie der Sprössling des Briten, umarmten Joe zum Abschied und nahmen ihr das Versprechen ab, das nächste Mal bei ihnen ein Essen zu veranstalten, was die Designerin dankend annahm. Auch wenn sie in diesem Moment nicht damit rechnete, tatsächlich einmal von ihnen eingeladen zu werden. Bei so etwas hatte man sie schon früher immer vergessen. Doch das machte ihr nichts aus. Sie selbst hatte dieses Abend bisher sehr genossen.

Als sie zu der kleiner gewordenen Gesellschaft zurückkehrte, betrachtete sie sie kurz alle von der Tür aus. Es fühlt sich seltsam an, dachte sie, als hätte ich eine neue Familie gefunden. Wobei sie doch eigentlich den Plan gehabt hatte, ihre Arbeit still und heimlich zu verrichten und ansonsten nicht weiter aufzufallen bei den Dreharbeiten. Das war allerdings gehörig nach hinten losgegangen. Doch im Moment wusste sie nicht so richtig, ob sie sich deswegen freuen oder ärgern sollte. Gerade in diesem Augenblick jedoch überwog die Freude.

Sie bot allen noch einen Absacker an, was Dean, Aidan, Emily und Luke dankbar annahmen. Richard und Graham würden später noch fahren müssen. Sie blieben bei dem Kaffee, den Joe ihnen gemacht hatte, und der ihnen hervorragend schmeckte. Emily brachte es schließlich auf den Punkt, als Joe sich ebenfalls im Wohnzimmer auf einem Sitzsack niedergelassen hatte. „Das war wirklich ein klasse Essen! Danke, Liebes.“ Sie sah ihre Freundin dabei so liebevoll an, dass es der Designerin ganz warm ums Herz wurde. Fühlte es sich so an, wenn man Freunde oder eine Familie hatte?

Sie konnte sich an dieses Gefühl gar nicht mehr erinnern, dafür war es schon zu lange her, dass ihre Mutter gestorben war. Das einzige, woran sie sich noch erinnern konnte, war das blumige Parfum, das ihre Mutter immer getragen hatte, und wie es ihr in die Nase gestiegen war, wenn sie sie umarmt hatte. Außerdem wusste sie noch, dass die Augen von Maria Taylor diesen wundervollen, warmen Braunton gehabt hatten. Doch gefühlsmäßig konnte sie sich nur an den Schmerz des Verlustes erinnern, der in ihrer Brust getobt hatte, als der Krebs ihr die einzige Familie genommen hatte, die sie noch besessen hatte.

Diese Traurigkeit erneut zurückdrängend lächelte sie, merkte aber, dass zumindest ein paar der Anwesenden bemerkt hatten, wie sie vorher geguckt hatte. „Es freut mich, wenn es euch geschmeckt hat.“

„Das hat es, Kleines“, sagte Graham und zwinkerte ihr erneut zu.

Eine Weile sagte niemand ein Wort, doch dann setzte Emily sich plötzlich auf. Eigentlich hatte sie John mitbringen wollen, doch der hatte noch arbeiten müssen. Dafür hatten sie sich für den nächsten Tag zu dritt zum Kaffee verabredet, damit sie ihn und Joe endlich einmal vernünftig miteinander bekannt machen konnte.

Jetzt sagte sie mit einem Glitzern in den Augen, das nichts Gutes zu bedeuten haben konnte: „Eure Gesangseinlage eben hat mir übrigens sehr gefallen.“ Sie warf Graham und Richard einen unschuldigen Blick zu, den diese mit gerunzelter Stirn erwiderten. „Wollt ihr nicht für uns einmal den Song vom Einsamen Berg singen? Den hab ich noch nie gehört.“

Richard lachte. „Eigentlich solltest du davon gar nichts wissen. Das war nicht für die Außenwelt bestimmt.“

Sie winkte jedoch nur ab. „Ach was, in einem Jahr, wenn der Film in die Kinos kommt, wird es ohnehin jeder hören. Außerdem hat man mir gesagt, dass du hervorragend singen kannst.“ Nun war sie es, die Richard zuzwinkerte, was der wieder nur mit einem Lachen kommentieren konnte.

Seine Antwort auf die Frage, ob er singen könne, war nur ein einfaches „Schon ein bisschen“ gewesen. Doch er wusste, dass er eine ganz gute Tenorstimme hatte. Das hatte ihm auch die Gesangslehrerin bestätigt, als sie ihn zum ersten Mal hatte einen Ton anschlagen hören. „Wollt ihr das wirklich?“, fragte er nun in die Runde und sah dabei erst Emily, dann Joe und zum Schluss auch Luke an, der ebenfalls noch nie dieses Lied gehört hatte.

„Komm schon, Archy“, sagte Graham und gab seinem Kollegen einen Klaps auf die Schulter. Der nickte nur ergeben, holte einmal tief Luft und begann dann zu brummen.

Die dunklen Töne erfüllten sofort den gesamten Raum, vibrierten in Joes Zwerchfell und ließen ihr eine Gänsehaut über die Arme kriechen. Genüsslich schloss sie die Augen, als Richard anfing zu singen. Auch später noch, als sie schon längst im Bett lag, glaubte sie noch zu spüren, welche Spuren das bei ihr hinterlassen hatte. Wohlig erschaudernd legte sie sich selbst die Arme um die Brust und kuschelte sich, immer noch das Lied im Ohr nachklingend, tiefer in die Kissen hinein.

© by LilórienSilme 2015

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