LilórienSilme
~ Fanfiction-Autorin ~
Kapitel 28
~ Cannon Fire
Ein Feuerball zog seine Bahn über den Himmel, ließ die tief hängenden Wolken in seinem hellen Licht erstrahlen. Dann traf er auf das Festland. Er zerschlug zwei Hauswände, als wären sie aus Papier errichten worden, bohrte sich durch das gesamte Gebäude, bis er schließlich auf der anderen Seite in einem kleinen Hügel stecken blieb, wo er sofort alle Vegetation in der näheren Umgebung in Brand steckte.
Alles – die Palmen, das spärliche Buschwerk, das trockene Gras – ging innerhalb eines Wimpernschlags in Flammen auf. Die glühenden Farben mischten sich mit den bereits lodernden Bränden rund herum, warfen tanzende, zuckende Schatten überall hin, wo es bereits dunkel war, und erzeugten eine Kakophonie grässlicher Misstöne, die sich mit den Schreien der Überlebenden mischten. Überall lagen Leichen herum, manche noch unversehrt, andere vom Feuer versenkt oder von Kanonenkugeln in Stücke gerissen. Männer, Frauen, Kinder – das Ungeheuer am Horizont machte keine Unterschiede. Und es machte keine Gefangenen.
Zufrieden blickte Henry Miller auf das, was sein Werk war. Seine Augen leuchteten im Feuer Tortugas und blitzten auf bei jedem Geschoss, das etwas auf der Insel in die Luft jagte. Seine Hände hatte er hinter dem Rücken verschränkt, sein schmallippiger Mund war zu einem freudvollen Grinsen verzogen. Das war seine Vision gewesen und nun wurde sie endlich Wirklichkeit.
Miller leckte sich über die trockenen Lippen, denn das Feuer schien der Luft alle Feuchtigkeit zu entziehen. Zarte Ascheflocken fielen bereits vom Himmel, der sich gefährlich rot gefärbt hatte und aussah, als würde in nächster Zeit ein Vulkan ausbrechen wollen.
Bei diesem passenden Vergleich wurde ihm sofort warm ums Herz. Ja, er war ein Vulkan, ein Gigant, der sie alle auf einen Schlag zerschmettern würde. Er hatte sich dies hart erarbeitet und jetzt endlich konnte er die Früchte dessen ernten, wofür er so unerbittlich gekämpft hatte. Die Nachricht der Vernichtung Tortugas würde sich wie ein Lauffeuer über das gesamte Empire ausbreiten und seinem eigenen Namen einen ehrfürchtigen Nachhall verleihen, der ihm die Türen in London wieder öffnen würde. Und dann würde er süffisant ablehnen, im Gegenzug aber ein eigenes kleines Reich annehmen, das man ihm für seine Bescheidenheit anbieten würde. Bisher lief alles nach Plan.
„Henry“, hörte er hinter sich eine leise Stimme, die ihn aus seinen Tagträumen riss. Widerwillig drehte er sich zu Cook um. „Was?“, fragte er barsch. Sein Freund zuckte unwillkürlich zusammen. Diese großflächige Vernichtung machte ihm Angst. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Henry tatsächlich die ganze Insel niederbrennen wollte. So etwas hatte nicht zu seinem persönlichen Plan gehört.
Er räusperte sich kurz, um sich wieder zu fassen. „Die Schiffe von Spotswood sind auf dem Weg hierher, hat man mir gerade mitgeteilt. Sie hatten es so eilig, dass sie nicht einmal die Zeit hatten, ihre Ware aus Europa entladen zu können. Ich hoffe, das wird nicht zum Problem werden.“
Miller runzelte nachdenklich die Stirn. So überstürzt handelnd kannte er den Gouverneur gar nicht. Doch dies war auch eine Ausnahmesituation, in der man gerne mal etwas tat, was man sonst nicht tat. Also nickte er nur kurz, zum Zeichen, dass er verstanden hatte, und wandte sich wieder dem Inferno zu. Jonathan ließ er dabei links liegen. Eigentlich hätte der Lieutenant ohnehin nicht hier sein sollen. Er hätte nach Virginia reisen sollen. Doch er hatte Greitzer geschickt und Henry war sich nun nicht mehr sicher, ob das die bessere Wahl gewesen war. Vielleicht hätte Greitzer weniger schockiert reagiert als sein langjähriger Freund. Hatte John im Endeffekt doch ein Gewissen entwickelt?
Er schüttelte den Gedanken schnell ab, um sich wieder auf seine vor ihm liegende Aufgabe konzentrieren zu können. Er konnte es sich nun nicht leisten, einen Fehler zu begehen. Er musste dafür Sorge tragen, dass die Bewohner entweder in den Flammen den Tod fanden, oder von seinen Schiffen aufgegabelt und als Gefangene gehalten wurden. Doch bisher war noch kaum jemand am Strand aufgetaucht. Die meisten trieb es scheinbar ins Innere der Insel und er konnte nur hoffen, dass seine Schiffe taktisch so klug positioniert waren, dass sie zumindest den Großteil des Strandes einsehen und abdecken konnten. Wenn ihm die Bewohner größtenteils entkamen, hatte seine Aktion hier nicht mehr bewirkt, als ein Sturm im Wasserglas.
„Mit wie vielen Schiffen haben wir die Insel umstellt?“, fragte er an niemand Bestimmten gewandt, doch sofort trat einer seiner Offiziere vor, um ihm einen Bericht zu erstatten. Der Mann war ihm auf den ersten Blick nicht bekannt, doch dann fiel ihm wieder ein, dass sein Name Cornwell war und er mit seiner Familie aus Virginia kam. Seine Antwort allerdings stellte Henry nicht annähernd zufrieden. Vielleicht hätte er doch auf Spotswood warten sollen.
Aber der Gouverneur hätte sich mit Worten alleine nicht überzeugen lassen, das wusste er. Nur Taten konnten ihn dazu bewegen, aus seinem sicheren Hafen oben im Norden herauszukommen und sich in die Karibik zu wagen. Denn hier war nicht mehr sein Hoheitsgebiet, hier hatte er kaum noch etwas zu sagen. Und das würde Henry nun zugute kommen. So sehr er Spotswood auch brauchte und so sehr er ein Schrecken der Piraten oben in Amerika war, so sehr brauchte Spotswood ihn, um hier in den Kolonien für Ordnung zu sorgen, denn diese Inseln, die so weit vom Empire entfernt waren, konnten über kurz oder lang nicht mehr aus der Ferne kontrolliert werden. Dazu war eine Person nötig, die vor Ort war. Und die würde Henry Miller sein.
Er konnte bereits vor seinem geistigen Auge sehen, wie sein verhasster Verwandter den Brief öffnete, der ihm offenbaren würde, dass er nun alle Gewalt über die englischen Kolonien hier verloren hatte. Dass die Krone in der Karibik nichts mehr zu befehlen hatte. Und diesem Ziel war Henry nun näher als jemals zuvor.
Jonathan Cook beobachtete das Mienenspiel auf dem Gesicht seines Jugendfreundes. Er musste sich auf die Zunge beißen, um nicht seine Bedenken laut herauszuposaunen. Doch damit würde er vermutlich nichts gewissen, außer vielleicht einen Aufenthalt in der schiffseigenen Zelle. Und da konnte er sich Besseres vorstellen. Er würde hoffentlich nur noch diesen Angriff auf die Piraten durchstehen müssen, dann würde er endlich nach Hause fahren können.
Ihm war durchaus bewusst, dass er einen Großteil zu diesem perfiden Plan beigetragen und dass er Schuld auf sich geladen hatte. Doch er war nicht bereit, noch mehr Blut an den Händen zu haben. Wenn das hier vorbei war, schwor er sich, dass er nach London zurückkehren würde. Dort konnte er sich dann vielleicht eine ehrbare Frau suchen, die mit ein bisschen Vermögen gesegnet war, und dann konnte er diesen Flammenalbtraum vergessen.
Bis dahin war es allerdings noch ein langer Weg. Nun musste er sich erst einmal um die Gefangene und ihren Sohn kümmern. Der kleine Billy war in Henrys Kabine eingesperrt worden, als der Angriff begonnen hatte. Vermutlich war das nicht der geeignetste Ort für einen so kleinen Jungen, doch man hatte ihn nicht mehr zurück nach Port Royal bringen können. Dafür hatte die Zeit zu sehr gedrängt. Jetzt hatte Billy sich auf dem breiten Bett zusammen gerollt, weinte klagend und rief alle paar Minuten nach seiner Mutter. John hatte schon versucht ihn zu beruhigen, doch er konnte nicht besonders gut mit Kindern und daher war es ihm nicht gelungen, ihn zum Schweigen zu bringen. Vermutlich würde das nur Elizabeth vollbringen können. Doch er hatte strikte Anweisungen, die Abtrünnige nicht aus ihrem Gefängnis zu befreien.
Nachdem Henry ihr seinen Plan offenbart hatte, war es ihm zu gefährlich erschienen, sie weiterhin hier oben zu lassen. Zu leicht hätte sie entkommen und die Piraten doch noch warnen können. Darüber musste der Captain sich allerdings mittlerweile keine Sorgen mehr machen, denn es schien, als hatte man auch den Willen der ehemaligen Gouverneurstochter brechen können.
Die saß nämlich in sich zusammen gesunken auf dem feuchten Boden der Zelle und starrte auf ihre Hände. Sie hätte sich am liebsten selbst über die Planke dafür gejagt, was sie angerichtet hatte. Hätte sie doch nur abgewartet, dann hätte sie Miller nicht zu dem prompten Angriff provoziert. Doch verhindern hätte sie es auch nicht können, das wusste sie. Allerdings minderte das in keinem Fall ihr schlechtes Gewissen.
Bei jedem weiteren Kanonenfeuer zuckte sie unwillkürlich zusammen, obwohl es bei weitem nicht die erste Schlacht war, an der sie mehr oder weniger teilgenommen hatte. Allerdings war sie sich auch noch nie so mutlos und nutzlos vorgekommen. Beim letzten Mal hatte sie noch als Piratenkönig ihre Männer in die Schlacht geführt und nun hockte sie hier als ein winziges Häufchen Elend und wünschte sich ganz weit fort von hier.
Eine einzelne Träne lief ihr die glatte Wange hinab, verfing sich in den Lachfalten, die sich mit den Jahren um ihren breiten Mund gebildet hatten, und tropfte auf die schon nassen Planken zu ihren Füßen. Energisch wischte sie sie bei Seite. Wann hatte sie das letzte Mal tatsächlich aus purer Verzweiflung geweint? Sie wusste es nicht mehr. Doch vermutlich war das nach dem Tod ihrer Mutter vor so vielen Jahren nicht mehr sehr häufig vorgekommen. Nun aber fühlte sie sich mehr denn je danach und sie hätte alles gegeben, wenn sie diesen dummen Fehler hätte rückgängig machen können.
Plötzlich kam ihr eine Idee. Sie rappelte sich auf die Knie hoch, legte ihre immer noch geschundenen Hände mit den aufgerissenen Handgelenken zusammen und betete. Ob Calypso sie hier erhören würde?
Doch auch, nachdem sie über fünf Minuten lang still gefehlt hatte, blieb ihre Zelle so leer wie zuvor. Tia Dalma erschien nicht, und auch niemand sonst. Sie war allein.
Der letzte Gedanke, den sie hegte, bevor die Erschöpfung sie übermannte, galt ihrem Sohn. Ihn hatte sie vor allen anderen in große Gefahr gebracht, obwohl sie doch bei ihrem Leben als Mutter geschworen hatte, dass sie ihn beschützen würde. Stattdessen hatte sie ihn diesem Monster ausgesetzt, was sich als Mensch verkleidet hatte. Henry Miller konnte unmöglich ein Herz besitzen, dachte sie. Wenn sie es nicht besser gewusst hätte, hätte sie gut glauben können, dass auch er es sich aus der Brust geschnitten und in einer Kiste vergraben hatte. Doch sie wusste, dass das unmöglich war.
In ihren unruhigen Träumen, die sie hatte, als sie in den Schlaf hinüber glitt, kam jedoch eine Kiste vor. Sie war größer und viel, viel schwerer als die, in der Davy Jones’ Herz gelegen hatte. Sie musste von zwei Männern getragen werden, die tiefe Spuren im Sand hinterließen, als sie sie über einen unbekannten Strand schleppten. Schließlich setzten sie sie ab und schoben den Deckel auf.
Elizabeth hörte das allzu vertraute Pochen eines Herzschlages, bis ihr klar wurde, dass es nicht das Organ war, was diese Geräusche von sich gab, sondern die Kanonen, die immer noch feuerten. Es war ein kurzer Gedanke, der ihr im Traum kam, der aber sogleich wieder verschwand, wie es Gedanken in Träumen zu tun pflegen.
Stattdessen bewegte sie sich immer weiter auf die Truhe zu, ob sie es nun wollte oder nicht, bis sie direkt davor stand. Was jedoch darin sah, war nichts, was sie erwartet hatte.
Auf einem dicken Bett aus Samt lag ein Horn von der Länge ihres gesamten Arms. Es sah alt aus und war mit feinen Schnitzereien verziert. An dem dünnen Ende, in welches man hineinstößt, wurde es von zwei schmalen Goldringen gehalten, an dem dicken Ende, aus dem der Ton entweicht, wurde es von drei breiten Ringen aus demselben Gold verziert. Sie konnte die Szenen, die in den Schnitzereien dargestellt wurden, nicht vollständig sehen, da sie nur eine Seite von dem Horn sehen konnte, doch was darauf abgebildet war, ließ sie schaudern.
Neugierig ging sie noch näher heran, bis sich ihr Kopf beinahe in der Kiste befand. Das ungute Gefühl breitete sich noch stärker in ihrer Brust aus, doch sie konnte den Blick nicht davon abwenden. Selbst wenn sie es gewollt hätte, sie hätte nicht zurückweichen können.
Und als sie schon dachte, dass sie gleich in die Truhe hineinfallen müsste, gab es einen lauten Knall.
Zutiefst erschrocken schnellte sie mit dem Oberkörper von dem nassen Boden hoch und versuchte noch zu begreifen, was sie gerade in ihrem Traum gesehen hatte. Der letzte Schuss der Kanone hallte noch in ihren Ohren nach, deswegen konnte sie später nicht mehr sagen, ob es tatsächlich real gewesen war, was sie hörte, als sie sich noch aus dieser Illusion herauskämpfte. Doch sie war sich beinahe sicher, Calypsos Stimme gehört zu haben, die nur zwei Worte flüsterte. Doch Elizabeth begriff, dass es keine Drohung war. Und beinahe hätte sie wieder, jedoch vor Erleichterung dieses Mal, geweint.
„Er kommt!“