LilórienSilme
~ Fanfiction-Autorin ~
~ Alte Seele
Zitternd war ich am nächsten Morgen aufgewacht. Mein Nachthemd war ganz nass und ich fror. Sofort schlang Legolas einen Arm um mich, als er merkte, dass ich wach war, und küsste meine Stirn.
„Was ist los, Liebste?“, fragte er besorgt und setzte sich auf, als er spürte, dass ich noch immer schwitzte. „Du hast dich heute Nacht herumgewälzt. Du wirst doch kein Fieber haben?“ Er legte eine kühle Hand auf meine Stirn, doch ich schüttelte den Kopf. „Nein, ich hatte einen Albtraum.“ Die Erinnerung daran hielt mich immer noch gefangen.
Seit Varda mir den Krieg prophezeit hatte, hatte ich keine Nacht mehr schlafen können. Es war nun schon drei Tage her, doch in dieser Nacht war es besonders schlimm gewesen. Ich hatte geträumt, dass ein Beben das Land erschüttert hatte, wie damals, als die Valar Delos aus Valmar vertrieben hatten. Und dann hatte ich ihn gesehen, wie er blutverschmiert über der Wiege meiner Tochter stand, ein Messer in der Hand, bereit zum Streich.
Tränen flossen über meine Wangen und ich drückte mich an Legolas heran. „Bitte, lass nicht zu, dass das geschieht“, flehte ich ihn an, nachdem ich ihm von meinem Traum berichtet hatte. „Er darf sie nicht bekommen.“
„Und das wird er auch nicht“, sagte er und küsste mich wieder. „Solange noch Leben in mir ist, werde ich unsere Familie beschützen. Versprochen.“
Später, als wir gemeinsam am Frühstückstisch saßen, sagte keiner ein Wort. Mîram stocherte in ihrem Essen herum, ich hielt die kleine Silme an meiner Brust, während Nefertirî und Sahîrim sich über ihre Becher hinweg bedeutungsvolle Blicke zuwarfen. Irgendwas war mit den beiden geschehen, das konnte ich spüren. Hatten sie sich vielleicht gestritten?
„Also“, sagte ich, um die Stille zu durchbrechen, „wie habt ihr geschlafen? Mîram, hattest du eine angenehme Nacht?“ Doch meine Tochter antwortete mir nicht. Sie zuckte nur mit den Schultern und fuhr fort, in ihrem Essen herumzustochern. „Nefertirî?“, versuchte ich die Unterhaltung nicht gleich wieder enden zu lassen, doch mehr als ein Gut bekam ich auch aus ihr nicht heraus.
Es war, als schien jeder zu wissen, dass etwas Großes bevor stand. Die Normalität, auf die ich sonst so stolz gewesen war, war in einer Nacht zerstört worden. Wenn ich es genau überlegte, waren meine älteste Tochter und unser Gast schon seit dem Tag meiner Vision so seltsam. Eigentlich sollten sie doch davon gar nichts wissen. Hatten sie uns vielleicht belauscht?
Doch heute schien es noch schlimmer geworden zu sein. Niemand wagte dem anderen zu lange in die Augen zu sehen. Scheinbar schämte sich jeder für irgendetwas. Doch für was?
Ich beschloss, dass ich dieses Gehabe meiner Familie erst einmal ignorieren musste. Seit Varda mit mir gesprochen hatte, klirrten in unserem sonst so ruhigen und friedlichen Dorf wieder die Ambossen. Doch dieses Mal nicht, um Werkzeuge herzustellen. Man schmiedete Waffen für einen bevorstehenden Kampf.
Genaueres hatte ich den Elben nicht mitgeteilt. Nur, dass eine Gefahr bevor stand. Mehr wollte ich ihnen einfach nicht sagen, mehr konnte ich nicht sagen. Und sie vertrauten mir. Bisher hatte ich sie nie fehlgeleitet oder enttäuscht. Und das dankten sie mir nun, indem sie mir gehorchten. Und ich war meinerseits dankbar dafür. Ich hatte ihnen Erklärungen versprochen, wenn die Zeit reif war. Und dieses Versprechen, das wussten sie alle, würde ich einhalten.
So ging ich also an diesem Tag durch das Dort und beobachtete die Arbeiten. Es machte mir keine Freude und ich fühlte mich beinahe einhundertsiebzig Jahre in die Vergangenheit versetzt, als wir noch gegen Orks und andere dunkle Wesen hatten kämpfen müssen. Nun würden wir vielleicht bald gegen unser eigenes Volk in den Krieg ziehen und das behagte mir ganz und gar nicht.
„Mutter!“ Meine Älteste kam auf mich zugelaufen. Ihr Gesicht war gerötet vom Rennen, obwohl es nicht besonders warm war. Und sie schien sehr aufgeregt zu sein. „Würdest du ein wenig mit mir spazieren gehen?“
„Aber sicher doch, Liebes“, sagte ich, nahm sie beim Arm und führte sie weg von den ganzen Kriegsgeräten. „Hast du etwas auf dem Herzen?“ Meine Tochter begann an ihren Nägeln zu zupfen. Dies tat sie immer, wenn sie furchtbar nervös war. Und irgendwie machte es mich auch nervös. Es schien doch etwas Größeres zu sein, über das sie mit mir sprechen wollte. Ging es vielleicht um unseren Gast?
Noch immer schien es mir, als wäre sein Gesicht mir vertraut. Ich konnte es jedoch nicht zuordnen. Es kam mir vor, als hätte ich ihn schon einmal gesehen. Doch weder das dunkle Haar, noch die hellblauen Augen wollten Erinnerungen in mir wecken.
Auch Legolas und selbst Gimli schienen diese Gedanken zu haben, denn ich hatte bereits mit meinem Gemahl darüber gesprochen. Und er hatte mir berichtet, dass unser alter Kampfgefährte ebenfalls dasselbe dachte. Irgendetwas stimmte mit diesem Jungen nicht. Doch keiner von uns konnte herausfinden, was es war. Das beunruhigte mich auf eine Art. Andererseits konnte ich spüren, dass von ihm keine Gefahr ausging. Es war eher eine dunkle Aura, die um ihn lag, die sich jedoch mit jedem weiteren Tag, den er hier verbrachte, zu verflüchtigen schien.
Er war nun schon über zwei Wochen unser Gast und hatte sich perfekt in unsere Gemeinschaft eingefügt. Ohne ein Wort des Unmutes pflegte er unseren Garten, hackte Holz für unser Feuer und holte Wasser. Er erledigte diese Arbeiten gerne und wurde beinahe etwas ungehalten, wenn Legolas ihm hilfreich zur Seite stehen wollte. Es war beinahe so, als wolle er sich mit diesen Arbeiten bei uns für unsere Gastfreundschaft bedanken. Und das rechnete ich ihm hoch an. Er war ein anständiger junger Mann und ich freute mich in gewisser Weise, dass er meiner Tochter gefiel.
Doch wie jede Mutter bereitete es mir auch Sorgen, wenn die eigene Tochter begann, sich für das andere Geschlecht zu interessieren. Tausend Fragen schwirrten dabei in meinem Kopf umher und keine davon traute ich mich, laut auszusprechen. So hoffte ich, dass meine Tochter von alleine auf die Idee kam, mir zu berichten, was in ihrem Herzen vor sich ging.
„Mutter, du hast sicherlich bemerkt“, begann sie, „dass Sahîrim und ich sehr viel Zeit miteinander verbringen.“
Ich lächelte sie aufmunternd an, als Zeichen dafür, dass mir diese Verbindung nicht missfiel. „Es ist mir aufgefallen“, sagte ich und stieß sie leicht mit der Schulter an. „Er scheint dir zugefallen. Ist es nicht so?“
Nefertirî wurde augenblicklich rot. Ihre Wangen schienen zu glühen und sie drehte sich von mir weg, damit ich es nicht sah. Ich hatte es jedoch schon bemerkt. „Ja, er gefällt mir sogar recht gut“, flüsterte sie.
„Nun, was bedrückt dich dann so sehr?“
Sie seufzte tief und blieb stehen. Ich hielt ebenfalls an, drehte mich in ihre Richtung und sah sie erwartungsvoll an. Sie benötigte zwei Anläufe, bevor sie endlich aussprach, was sie dachte. Dabei schien es, als müsste sie genau über ihre Worte nachdenken. „Und was wäre, wenn er nicht der nette junge Mann ist, der er vorgibt zu sein? Ich meine, was wäre, wenn er unser Feind wäre?“
Ich lachte auf. „Aber Liebes, du redest ja Unsinn. Selbst dein Vater scheint ihn zu mögen. Wie könnte er da ein Feind sein? Außerdem, von welcher Art Feinden sprichst du?“
„Vater mag ihn?“ Ihr Gesicht hellte sich sofort auf. Ihre Augen strahlten wieder und die Röte verflog. Stattdessen lächelte sie erleichtert.
„Aber ja!“ Auch ich lächelte. Dann legte ich einen Arm um ihre schmalen Schultern und setzte den Spaziergang fort. „Mir scheint also, dass du dir unnötig Sorgen gemacht hast.“ Ich küsste sie auf die Stirn. Normalerweise mochte sie es nicht, wenn ich dies tat, doch heute gestattete sie es mir.
„Das scheint mir auch so“, sagte sie, mehr zu sich selbst als zu mir.
„Bist du nun beruhigt?“
Sie blieb wieder stehen, befreite sich aus meiner Umarmung und stellte sich vor mich. Sie strahlte über ihr ganzes, junges, hübsches Gesicht, drückte mir einen Kuss auf die Wange und lief davon mit den Worten: „Ja, Mutter, das bin ich! Ich danke dir!“
Kopfschüttelnd sah ich ihr nach, bis sie hinter der nächsten Ecke verschwunden war. Dann setzte auch ich meinen Weg fort. Ich war gerade dabei gewesen, nachdem ich die Arbeiten von Gimli in seiner Schmiede hatte begutachten sollten, Blumen zu pflücken. Ich sammelte genug, bis ich zwei kleine Sträuße zusammen hatte, dann machte ich mich auf den Weg aus der Siedlung hinaus.
In diesen Zeiten war es nicht ungefährlich, den Schutz der Häuser zu verlassen. Wir konnten ja nicht wissen, wann Delos zuschlagen würde. Doch ich vertraute darauf, dass uns noch ein bisschen Zeit vergönnt war, bevor wir erneut den Griff eines Schwertes würden packen müssen.
Wir hatten damals, beim Wiederaufbau der Siedlung, alte Waffen aus den großen Zeiten der Elben gefunden. Diese wurden nun aufpoliert, damit sie wieder für den Kampf eingesetzt werden konnten. Ihre Klingen waren zwar nicht stumpf geworden mit der Zeit, doch ihre Griffe sahen teilweise arg mitgenommen aus. Ich vermutete sogar, dass wir das Schwert von Elrond, meinem Schwager gefunden hatten. Doch sicher konnte ich mir nicht sein, hatte ich ihn in Imladris doch nie mit einer Waffe gesehen.
Mein Weg führte mich nun aus der Siedlung hinaus, vorbei am Máhanaxar an den Fuß des Taniquetil. Ich blickte hoch zur Spitze des Berges, doch wie immer sah ich nur dichten Nebel, der das Gebirge umhüllte. Nach etwas mehr als fünfhundert Fuß verschwand der Stein und es schien, als wachse er in die Wolken hinein.
Es war ewig her, dass ich dort oben gewesen war, leibhaftig und auf meinen eigenen Füßen. Und ich fragte mich, wie es dort wohl jetzt aussehen möge, wie Ilmarin aussah. War überhaupt noch etwas vom Palast übrig geblieben?
Dann richtete ich meinen Blick wieder auf die Erde. Hier lag, wofür ich gekommen war.
Da Elben noch bis vor zweihundert Jahren unsterblich waren, gab es bei uns keinerlei Rituale für den Tod. Wir hatten erst lernen müssen, damit umzugehen, dass wir nun nicht mehr nur durch Gewalt oder Weltmüdigkeit sterben konnten, sondern auch durch das Alter. Und so hatte man sich entschlossen, die leblosen Körper zu verbrennen und die Asche ins Meer zu streuen, im Licht der Sterne, der ewigen und einzigen Liebe unseres Volkes.
Doch zu meiner großen Freude hatte man Gedenksteine aufstellen lassen für diejenigen, die von uns gegangen waren. Und so kniete ich nun vor dem Stein, auf dem der Name meiner Mutter stand. Davor legte ich einen Strauß Blumen nieder.
„Le suilon, naneth“, sagte ich und strich behutsam über den Stein. Ich fuhr mit den Fingerspitzen die Buchstaben nach. Dabei fühlte ich, wie kalt der Stein war. „Ich hoffe, dir geht es gut in den Hallen.“ Eine Träne stahl sich aus meinem Augenwinkel. Auch jetzt noch, nach all den Jahren, fiel es mir schwer, die Fassung zu bewahren, wenn ich hier war. „Du fehlst mir.“
Ein Schluchzen schüttelte mich, doch ich wischte meine Tränen entschlossen wieder weg und richtete mich auf. Direkt neben meiner Mutter befand sich der Stein für meine Schwester. Auch hier legte ich einen Strauß Blumen ab. Neben ihr lag ihr Gemahl, mein Schwager Elrond, der Halbelb.
„Ihr alle fehlt mir“, sagte ich etwas lauter. „Wenn ihr bei mir geblieben wäret, dann wüsste ich vielleicht nun, was zu tun ist. Doch so fürchte ich, dass ich das Volk, was ich über die Jahre hinweg versucht habe ins Licht zu führen, in die sichere Dunkelheit schicken werde. Was kann ich nur tun, um dieses Unglück abzuwenden? Ich weiß, dass es meine Schuld war. Wäre ich nicht nach Valinor zurückgekehrt, wäre Delos nicht aus Valmar vertrieben worden. Er hätte nicht diese Rachegelüste gegen mich und mein Volk müsste nun nicht zittern vor seiner Bedrohung.
Doch andererseits hätte ich Legolas nicht wiedergetroffen, wäre ich in Ennor geblieben. Ich hätte nicht den Bund mit ihm eingehen können und hätte ihm nicht diese drei wundervollen Töchter gebären können. So hat alles zwei Seiten. Und die eine kann ohne die andere nicht existieren.“
Meine Knie wurden weich, als ich über all das nachdachte, und ich musste mich setzen. Ein Felsbrocken lag nicht weit entfernt und so zupfte ich eine kleine Blüte aus dem Strauß meiner Mutter und setzte mich.
Hatte ich wirklich das Recht auf dieses Familienglück, was ich mir erkämpft hatte? Oder bildete ich mir nur ein, es verdient zu haben nach all dem Leid, was ich hatte ertragen müssen? Wäre ich damals in Lórien geblieben, als die Gemeinschaft aufbrach, hätte ich vielleicht mit Haldir in Mittelerde glücklich werden können.
Doch es nützte nun nichts mehr, über das Wenn und Aber nachzudenken. Ich war hier. Wir waren nun alle hier. Und wir mussten das Beste daraus machen. Eine andere Wahl hatten wir nicht mehr. Und ich würde verdammt sein, wenn ich nicht alles in meiner Macht stehende tun würde, um mein Glück und das Glück aller anderen zu verteidigen.
Entschlossen erhob ich mich. Der Besuch an den Gedenksteinen meiner Familie hatte mir unerwartet Kraft gegeben. Vielleicht beobachtete meine Familie mich sogar in ebenjenem Moment und stärkte dadurch mein Herz.
Noch einmal ging ich an den Steinen derjenigen vorbei, deren Namen ich kannte. Allen voran meine Mutter Galadriel, daneben meine Schwester Celebrían und ihr Gemahl Elrond. Neben dem Halbelben lag ebenfalls noch jemand, dessen Name mir nicht unbekannt war: Olórin stand dort geschrieben und ich musste lächeln, als ich an den alten Mann dachte. Ob er hier auch seinen Frieden gefunden hatte, nach all den Kriegen, die auch er gefochten hatte?
Doch er war damals nicht alleine in den Westen gesegelt. Zwei kleine Wesen hatten ihn begleiten dürfen. Dem einen hatten die Valar damals eine große Gnade erwiesen und ihn hier in Valinor Willkommen geheißen. Und der andere hatte den Platz auf einem Schiff gen Westen von meiner Nichte Arwen geschenkt bekommen.
Und als ich an Bilbos Stein vorbei ging und an dem einen Stein stehen blieb, der neben Samweis‘ Stein der Letzte in der Reihe war, traf mich die Erkenntnis wie ein Hammerschlag. Meine Beine gaben augenblicklich unter mir nach und ich sank zu Boden. Wieso nur war mir das nicht vorher schon aufgefallen? Wie hatten wir alle nur so blind sein können?
Hatte ich am Anfang noch gedacht, dass Sahîrim vielleicht jemandem ähnlich sah, den ich noch von meiner ersten Zeit in Valinor kannte, begriff ich nun, wie falsch ich damit gelegen hatte. Nicht ein Gesicht aus dem Westen, sondern aus dem Osten hatte er. Diese blauen Augen waren unverwechselbar und einzigartig, hatte ich jedenfalls noch bis vor ein paar Augenblicken gedacht. Doch jetzt wusste ich, wieso sein Anblick mir so vertraut war, wieso er in mir keine schlechten Gefühle auslösen konnte. Nun wusste ich, an wen Sahîrim mich so sehr erinnerte.
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Übersetzung:
Le suilon, naneth.=Ich grüße dich, Mutter.
Ennor=Mittelerde
Olórin=Gandalfs Name in Valinor