LilórienSilme
~ Fanfiction-Autorin ~
Kapitel 27
~ Stroke on the Water
Ein weicher Sonnenstrahl fiel auf Vittorias Gesicht und kitzelte ihr in der Nase. Sie streckte sich genüsslich, ließ dabei ihre nackte Haut über den glatten Satin wandern, und gab sich den Erinnerungen der letzten Nacht hin.
Sie konnte Lelex’ Körper neben ihrem spüren, etwas Schweres, was die weiche Matratze nach unten drückte, und sie genoss es, nicht alleine aufzuwachen. Wann hatte sie das letzte Mal jemanden neben sich gehabt, wenn sie die Augen aufgeschlagen hatte?
Draußen lag Schnee auf dem Fensterbrett und kleine Eiskristalle klebten am Fenster. Doch der Himmel war blau und strahlend. Es war ein herrlicher Wintermorgen, wie man ihn nur selten erlebte.
Vorsichtig, ohne ihn zu wecken, stand sie auf und ging ins Bad. Sie ließ sich die Wanne mit heißem Wasser volllaufen, schaltete das kleine Radio ein und glitt schließlich in die nach Vanille und Zimt duftenden Fluten. Gestern Abend hatten sie gemeinsam gekocht, wie sie es in den letzten Wochen oft getan hatten. Sie hatten viel Zeit miteinander verbracht und waren gute Freunde geworden. Doch der Kuss an der Hochzeit ihrer Schwester hatte sie nicht mehr losgelassen.
So sehr sie es auch versucht hatte, ihn aus ihrem Kopf zu verdrängen, es war ihr nicht gelungen. Selbst die Zeit, die sonst alles heilen konnte, hatte nicht dafür sorgen können, dass sie sich nicht mehr so einsam fühlte. Und gestern, nachdem sie den Nachtisch gegessen hatten, hatte sie ihrem Gefühl nachgegeben.
Als sie schließlich im Schlafzimmer ankamen, hatte sie kurz gezögert. Noch immer dachte sie an Ben, hatte vor allem seine braunen Augen im Sinn, die manchmal fast schwarz gewirkt hatten. Doch sie konnte schließlich nicht ewig auf ihn warten. Wenn er sie gewollt hätte, hätte er längst vor ihrer Tür gestanden und sie um Verzeihung gebeten, egal, ob es seine Schuld war, dass sie sich so lange nicht gesehen hatten, oder nicht. Doch er war nicht gekommen. Nicht mal angerufen hatte er.
Kurz dachte sie daran, dass er vielleicht der unbekannte, stumme Anrufer von vor ein paar Wochen gewesen sein könnte. Doch woher sollte er ihre Nummer haben? Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Anna oder Will sie weiter gegeben hatte. Denn sie hatte eindeutig in ihrer Email dazu aufgerufen, niemandem von der neuen Nummer zu erzählen. Auch Jim hatte sie noch nicht.
Ihr ehemaliger Chef hatte es vor einem Monat ein letztes Mal bei ihr versucht. Er war zu ihr gefahren, hatte sie quasi auf Knien angefleht, noch ein letztes Drehbuch zu schreiben, doch sie hatte abgelehnt. Mittlerweile war ihr ziemlich klar, was sie wollte.
Der Wunsch hatte sich eigentlich schon lange in ihr manifestiert. Am Tag der Premiere, als sie die Bilder zum ersten Mal auf Leinwand gesehen hatte, hatte sie bemerkt, wie sehr sie Neuseeland vermisste. Obwohl es ein Ding der Unmöglichkeit war, nur für ein paar Wochen dahin zu reisen, hatte sie das dringende Bedürfnis verspürt, noch einmal dorthin zurück zu kehren. Das Problem war nur, dass sie genau wusste, dass, wenn sie einmal auf der Insel war, sie vermutlich nie wieder nach England zurück kehren würde.
Ihre Hand spielte mit dem Schaum, machte Kugeln daraus, die sie dann in die Luft blies, während aus den Lautsprechern Wham! drang. Dies würde ihr erstes Weihnachten seit langem sein, welches sie mit ihrer Familie verbrachte.
Ihre Mutter hatte schon alles geplant: am Weihnachtsmorgen hatte sie alle zum Brunch eingeladen, sogar Erics steife Eltern. Und wenn alle gemästet waren wie eine Weihnachtsgans, dann würde es erst die Geschenke geben. Vittoria fürchtete sich davor, denn der Plan, mehr Schokolade zu essen um eine bessere Figur zu bekommen, war eindeutig nach hinten losgegangen. Also hatte sie wieder angefangen zu Joggen, damit sie die Fettpolster am Hintern und an den Oberschenkeln wieder loswerden konnte.
Lelex hatte ihr natürlich versichert, dass sie perfekt war, so wie sie war. Doch sie fühlte sich selbst nicht mehr wohl und konnte es kaum ertragen, wenn er sie nackt sah.
Er ist so ein guter Kerl, dachte sie, als sie verträumt an die Decke starrte und daran zurück dachte, was sie gestern alles getan hatten. Er war so verdammt nett und zuvorkommend, dass es schon fast unverschämt war. Und gut sah er auch noch aus. Wenn sie an seinen durchtrainierten Bauch zurück dachte, kribbelte es gleich wieder in ihrer Magengegend.
Trotzdem war es nicht das gleiche Gefühl, was sie damals bei Thomas verspürt hatte, als sie noch dachte, er wäre der Richtige für sie. Es war irgendwie anders. Es fühlte sich nicht so intensiv an, wie sie es sich erhofft hatte. Aber es gefiel ihr und sie wollte es genießen, solange es dauerte.
Als sie wieder aus der Wanne kam, nur mit einem Handtuch bekleidet, wollte sie nach ihrem Handy greifen, aber es lag nicht mehr auf ihrem Nachttisch. Stattdessen lag es auf der anderen Seite des Bettes. Hatte sie es gestern nicht dort abgelegt? Doch sie zuckte nur mit den Schultern, ließ das Handtuch zu Boden gleiten und schlüpfte wieder zu Lelex unter die Decke.
In seiner Wohnung in Soho saß Ben völlig in sich zusammen gesunken auf dem Sofa und starrte das Telefon in seiner Hand an, als könnte es jeden Moment Tentakel bekommen und Hip Hop tanzen. Bevor er richtig begriff, was er tat, wählte er Annas Nummer. „Ben! Was verschafft mir die Ehre?“ Noch bevor sie ihren Satz beendet hatte, sprach er dazwischen: „Sie hat einen Freund!“, rief er in den Hörer und als sie nicht reagierte, wiederholte er es.
Anna verstand im ersten Moment gar nicht, was Ben von ihr wollte. Sie war gerade dabei gewesen, sich für das Treffen mit einer Freundin anzuziehen, als ihr Handy klingelte. Ihr Display blinkte im Takt und ließ Bens Namen immer wieder aufleuchten. Und jetzt, da er sie beinahe anbrüllte, fiel endlich der Groschen. Es war lange her, dass sie ihm Vittorias Nummer gegeben hatte. Hatte er etwa so lange gewartet, sie anzurufen?
„Okay, jetzt beruhig dich erst mal wieder“, sagte sie und versuchte ihre Stimme dabei ruhig und gefasst klingen zu lassen. Sie wollte ihn nicht noch mehr aufregen, indem sie völlig hysterisch fragte, woher er das wusste und wieso, zum Teufel, er so verdammt lange gewartet hatte, ihr seine Gefühle zu gestehen. Sie würde ihm später die Ohren lang ziehen. Jetzt musste sie erst einmal Schadensbegrenzung betreiben. „Du rührst dich nicht von der Stelle. Ich werde Will anrufen und dann kommen wir zu dir. Einverstanden? Und dann werden wir das schon irgendwie wieder hinkriegen.“
Bevor er Protest einlegen konnte, dass er niemanden sehen wolle und es bestimmt nicht alles wieder gut werden würde, hatte sie auch schon aufgelegt. Wie in Trance ging er hinüber zum Fenster und starrte nach draußen. Es hatte wieder zu schneien begonnen. Bald stand Weihnachten vor der Tür. Doch im Moment war ihm ganz und gar nicht nach dem Fest der Liebe zumute.
Viel zu schnell schlitterten Anna und Will wenig später über den Bürgersteig zu Bens Wohnung. Will schaffte es gerade noch, Anna davor zu bewahren, auf die Straße zu rutschen und überfahren zu werden. Sie warf ihm einen dankbaren Blick zu, dann liefen sie weiter. „Und was hat er sonst noch gesagt?“, fragte Will atemlos, als sie endlich vor dem großen Backsteingebäude zum Stehen kamen. Die Luft brannte in seinen Lungen und er hatte Seitenstechen. Aber er würde lieber das auf sich nehmen, als mit ihr zu diskutieren.
„Er hat nur gesagt, dass sie einen Freund hat. Mehr nicht. Er klang völlig apathisch, wenn du mich fragst. Ich hätte nie gedacht, dass er so viel für sie empfindet. Kannst du das glauben?“
Will schüttelte den Kopf. Anna drückte die Klingel. „Nein, das ist, als würde Superman plötzlich heiß auf Luthor sein.“ Er schüttelte sich angewidert bei der Vorstellung, Anna sah ihn jedoch nur verständnislos an. „Wie bitte?“, sagte sie und drückte die Türe auf. Doch er machte eine wegwerfende Handbewegung.
Oben angekommen stand die Tür bereits offen. Sie fanden ihn zusammen gekauert in der Sofaecke sitzend und ein Kissen umschlingend. Er gab einen völlig verstörenden Anblick ab und beinahe hätte Will ihn nicht mehr erkannt.
Urplötzlich packte ihn kalte Wut. Er ging mit schnellen Schritten auf seinen Freund zu, packte ihn am Kragen und zog ihn zu sich nach oben. Dabei zwang er ihn, ihm in die Augen zu sehen. „Reiß dich gefälligst zusammen, du Weichei“, flüsterte er, doch Ben hatte ihn gehört. Mit großen Augen starrte er ihn an, als könnte er nicht begreifen, was grade geschah.
Doch selbst wenn er es begriffen hätte, er hatte keine Kraft, sich dem harten Griff zu widersetzen. Er wollte es auch gar nicht. Er wollte sich nicht zusammen reißen. Er wollte einfach nur unglücklich sein.
Anna ließ das jedoch nicht zu. Sie packte Will von hinten bei der Schulter und zwang ihn sich umzudrehen. Dabei musste er Ben loslassen, der wieder zurück auf die Couch plumpste. „Hast du sie nicht mehr alle? Was soll das? Glaubst du vielleicht, dass es so besser wird?“ Sie schob ihn bei Seite und setzte sich neben Ben. Mitfühlend legte sie ihm ihre Hand auf den Oberschenkel und streichelte ihn. „Wie geht es dir?“, fragte sie sanft.
Ben schaute nicht einmal auf. „Beschissen“, zischte er. „Ich will gar nicht, dass ihr hier seid. Haut wieder ab. Ich will alleine sein.“
„Das kommt gar nicht in Frage!“, sagte Will. „Was ist? Lässt du dich von so einem Idioten einfach aus dem Ring werfen? Okay, es ist ziemlich merkwürdig, dass du auf sie stehst. Aber so ist das nun mal. Und wenn du jetzt aufgibst, was bist du dann für ein Trottel?“ Ben sah ihn an, als hätte er ihm gerade geraten, einen Kampf gegen Hakuhō Shō auszutragen. „Willst du sie?“, fragte Will herausfordernd, als Ben nicht antwortete.
Dieser wand sich unter der Frage, packte das Kissen wieder fester und wich dem Blick der beiden aus. „Ich weiß es nicht“, stotterte er schließlich. Dieses Mal sprang Anna ein. Ihre blauen Augen sprühten Funken. „Was soll das heißen, du weißt es nicht? Du sitzt hier auf der Couch, total in dich selbst versunken, badest im Selbstmitleid, und willst uns erzählen, dass es nicht wegen ihr ist? Ich kann zwar nicht verstehen, wieso du sie magst, aber wenn es wirklich so ist, dann solltest du zu ihr gehen und ihr das sagen.“
Ben erhob sich schwerfällig. Er warf das Kissen zurück auf das Sofa und ging ohne ein bestimmtes Ziel im Raum umher. Schließlich drehte er sich wieder zu den beiden um. „Ich kann nicht“, sagte er nur, breitete hilflos die Arme aus.
„Was soll das heißen, du kannst nicht?“, fragte Will. Natürlich war es nicht leicht, jemandem seine Gefühle zu offenbaren. Aber wenn man ohnehin nichts mehr zu verlieren hatte, sondern im Gegenteil eigentlich nur gewinnen konnte, wieso ergriff er dann nicht diese Chance?
In Vittorias Haus saß Lelex, immer noch nackt, nun aufrecht im Bett und starrte seine Freundin mit großen Augen an. „Wie meinst du das?“, fragte er. In seinem Blick lag Unverständnis und sie konnte es ihm nicht verdenken. Sie selbst konnte nicht begreifen, wieso sie es so dringend wollte, doch sie hatte das Gefühl, dass, wenn sie hier blieb, sie nie ihre Altlasten loswerden und in einen neuen Lebensabschnitt starten konnte.
Grade erst hatte er einen neuen Job bekommen, war glücklich damit, endlich wieder sein eigenes Geld zu verdienen und vielleicht bald aus seinem Elternhaus ausziehen zu können. Eigentlich hatte er gehofft, direkt bei Vittoria einzuziehen. Schließlich war das Haus groß genug und sie schienen sich auch gut zu verstehen. Zumindest hatte er das bis gerade eben noch geglaubt. Doch was sie gesagt hatte, ließ ihn an allem zweifeln, was sie letzte Nacht zusammen erlebt hatten.
Vittoria raufte sich die Haare. Sie hatte gewusst, dass es nicht leicht werden würde, es ihm zu sagen. Deswegen hatte sie auch noch damit warten wollen. Doch nachdem sie miteinander geschlafen hatten, gab es kein Zurück mehr. Sie musste es ihm sagen. Denn wenn sie es nicht täte, käme sie sich wie eine Heuchlerin vor und das wollte sie nicht sein. Sie musste ihm reinen Wein einschenken. Mit ihrer Familie würde es sicher kein Problem geben. Die würden es ohne zu Murren akzeptieren. Nur Meg und vielleicht auch Anna und Will würden ihr Probleme machen.
„Ich weiß, dass das ziemlich überraschend kommt“, begann sie, doch er unterbrach sie gleich wieder. „Was heißt überraschend? Du hast mich quasi total damit überrannt. Eben hab ich noch gedacht, dass wir vielleicht eine gemeinsame Zukunft haben könnten und jetzt eröffnest du mir aus heiterem Himmel, dass du nach Neuseeland gehen willst. Und das nicht nur für ein paar Tage. Nein! Du willst gleich den Rest deines Lebens dort verbringen. Weißt du eigentlich, wie beschissen ich mich gerade fühle? Kannst du dir vorstellen, wie weh mir das tut?“
Sie setzte sich neben ihn, wollte seine Hände nehmen, doch er schlug sie weg. Enttäuscht sah er sie an und sie wusste, dass sie es verdient hatte. Jeden strafenden Blick, jedes böse Wort, all das und noch viel mehr. „Es tut mir leid“, flüsterte sie.
„Und das soll ich dir glauben?“ Seine Stimme war eiskalt. Es versetzte ihr einen Stich mitten ins Herz, ihn so reden zu hören, doch sie würde es ertragen. Sie musste es. „Du musst mir das einfach glauben. So sehr ich London und euch alle liebe, ich kann nicht mehr hier bleiben. Es geht einfach nicht mehr. Die Stadt selbst scheint mich zu erdrücken, sodass ich hier nicht mehr atmen kann. Nächte lang hab ich an meinem Schreibtisch gesessen und versucht, etwas Vernünftiges zu schreiben, aber es kam nur Scheiße dabei raus. Das alles hat mich so verändert. Das bin nicht mehr ich.“
Seine Hände stützten sich auf der Fensterbank ab. Draußen gingen Passanten über den vereisten Bürgersteig, waren vielleicht gerade auf dem Weg zu ihren Liebsten. Mehr zu sich selbst sagte er: „Aber du gefällst mir so, wie du bist.“
Sie seufzte auf. Irgendwie hatte sie das befürchtet. „Aber ich liebe dich nicht.“ Auch wenn es weh tat, ihm das sagen zu müssen, weil sie genau wusste, dass er anders empfand, sie konnte ihm die Wahrheit nicht länger verschweigen. „Ich will dich nicht noch mehr verletzten, Lelex. Aber das würde ich tun, wenn wir so weitermachen wie bisher. Ich kann mich selbst nicht mehr leiden. Alles hier kotzt mich an. Und ich muss hier raus. Ich hab mir das lange genug überlegt, glaub mir. Ich hab versucht, eine andere Lösung zu finden, hab versucht, mich in dich zu verlieben. Aber es geht nicht. So sehr ich es auch will.“
„Du hast es doch noch nicht mal richtig versucht!“, rief er, sah sie wütend an und drehte sich wieder weg. Tränen glitzerten in seinen Augen. Am liebsten hätte sie ihn in den Arm genommen, ihm gesagt, dass das alles nur ein großer Irrtum war, sie ihn lieben konnte und mit ihm alt werden wollte. Doch es wäre eine Lüge gewesen.
Will und Anna hatten nun beinahe eine halbe Stunde auf ihn eingeredet, doch Ben konnte sich nicht überzeugen lassen. Zu groß war die Angst, seine Gefühle zu offenbaren und dann verstoßen zu werden. Was nützte es noch, wenn man ohnehin verloren war?
Wann war ihm eigentlich bewusst geworden, dass er Vittoria liebte? Er wusste es nicht. Das einzige, was er wusste, war, dass es der Wahrheit entsprach. Wenn er an den letzten Tag in Prag zurück dachte, wie sie auf der Karlsbrücke gestanden und in den Sonnenuntergang geschaut hatten, fühlte er ein warmes Gefühl in sich, als wäre die Erinnerung lebendiger, als die Gegenwart. Er hätte alles gegeben, wenn er sie noch einmal so nah bei sich spüren konnte.
Um die schmerzenden Gedanken aus seinem Kopf zu vertreiben, presste er die Hände auf die Augen, in der Hoffnung, dieser hämmernde Kopfschmerz würde verschwinden. Doch es hatte keinen Sinn die Lider zu schließen, wenn sich die Bilder so unwiderruflich in die Netzhaut eingebrannt hatten. Sie hatte ein Mal auf seinem Herz hinterlassen, was vermutlich eines Tages verblassen, aber niemals ganz verschwinden würde. Egal wie weit er laufen, wie viele Frauen er lieben würde, Vittorias Gesicht würde immer da sein, das wusste er. Er wusste es so sicher, wie auch am nächsten Tag die Sonne wieder aufgehen würde.
Und mit einem Mal war es ihm egal, was alle dachten. Auch er wusste, dass es völlig irrsinnig war, sich in eine Frau zu verlieben, die eigentlich nur Verachtung und Demütigung für ihn übrig hatte. Doch was konnte der Verstand schon gegen das Herz ausrichten? Wenn es zur Wahl kam, siegte immer das Herz, selbst wenn der Verstand noch so scharf war. Und zum ersten Mal gestand er es offen ein: er liebte Vittoria. Hatte sie dann nicht auch ein Recht darauf, es zu erfahren?
Bevor ihn der Mut wieder verlassen konnte, war er bereits an der Tür. Er zog die Schuhe an, die ihm am nächsten waren, schlüpfte ohne Socken in sie hinein, warf sich eine Jacke über und schnappte sich seine Schlüssel. „Wo gehst du hin?“, fragte Will erschrocken über den plötzlichen Aufbruch. Ben hielt noch einmal kurz inne, sah über die Schulter zurück und lächelte die beiden an. „Ich tue das, was ihr mir hier schon die ganze Zeit predigt: ich werde es ihr sagen.“
„Aber du weißt doch gar nicht, wo sie wohnt!“, rief Anna ihm noch hinterher, doch er war bereits hinaus gelaufen. Verblüfft starrten sie ihm eine Weile nach, dann sahen sie sich an und lachten. Zusammen ließen sie sich Arm in Arm auf sein gemütliches Sofa fallen und sahen an die Decke. „Glaubst du, er schafft es?“, fragte sie.
Will lächelte. „Und selbst wenn nicht, es ist doch egal. Wenigstens hat er es versucht.“ Er zog sie noch ein wenig näher zu sich und legte seinen Kopf auf ihren. Ihr Parfum stieg ihm in die Nase und er musste daran denken, dass er noch vor einem Jahr nicht mal daran gedacht hätte, so eine tolle Frau zur Freundin zu haben. Sie hatten es sogar mal eine Weile als Liebespaar versucht. Doch sie waren beide schnell zu dem Ergebnis gekommen, dass sie als Freunde viel besser miteinander auskamen. „Und darauf kommt es doch an, oder nicht?“
Der eisige Dezemberwind blies Ben ins Gesicht, als er durch die Straßen von London rannte. Seine Lunge brannte, seine Beine waren schwer und seine Muskeln schienen bei jedem Schritt zu protestieren. Doch er ignorierte den Schmerz, denn sein Entschluss schien ihn in seinen Schritten zu beflügeln. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal so schnell gelaufen war. Nicht mal, wenn es um sein Leben ginge, hätte er gedacht, so schnell zu sein.
Doch ging es hier nicht um sein Leben?
An einer Straßenecke blieb er kurz stehen, kramte sein Handy, was er geistesgegenwärtig eingesteckt hatte, aus seiner Jogginghose und wählte die Nummer der Auskunft. Als er sich durch das Menü gewählt hatte, plärrte ihm die Stimme eines Inders entgegen. „Was kann ich für Sie tun?“
„Ich brauche die Adresse von jemandem“, schnaufte er. Er war noch nicht ganz wieder zu Atem gekommen, aber er durfte keine Zeit mehr verlieren. Vielleicht hatte er Glück und konnte ein Stück mit der Tube zurück legen.
„Name?“, fragte Shāhrukh Khān und schnalzte mit seinem Kaugummi. „Vittoria Marconi“, sagte Ben, doch wenn er geglaubt hatte, dass es einfach werden würde, hatte er sich getäuscht. Erst, nachdem er ganze dreimal den Namen buchstabiert hatte, konnte er endlich etwas finden. Man gab ihm die Adresse durch und er legte, ohne sich zu bedanken auf. Schnell ergatterte er sich am nächsten Kiosk einen Stadtplan, musste feststellen, dass es zwischen hier und dort keine direkte Bahnverbindung gab, trat fluchend gegen einen Mülleimer und rannte weiter.
Während er Meter für Meter zurück legte, fragte er sich immer wieder, wie sie wohl reagieren würde. Würde sie ihn anstarren, als wäre es vom Mars? Würde sie vielleicht sogar wütend sein? Oder würde sie ihm die Türe wieder vor der Nase zuknallen? Vielleicht war es auch einfach schon zu spät und sie trug bereits einen Ring am Finger. Doch dieses Risiko würde er eingehen. Auch wenn sie zehnmal verheiratet wäre, es würde ihn nicht kümmern. Wenn er ihr nur sagen konnte, was er fühlte.
Endlich bog er schlitternd auf die Park Road ein und gönnte sich einen kleinen Moment Ruhe, während er die Hausnummern studierte. Als er begriff, dass er natürlich am völlig falschen Ende der Straße war, lief er weiter. Jetzt kamen ihm doch wieder Zweifel, ob es richtig war, einfach so vor ihrer Haustür aufzutauchen. Wie hatte er sich einbilden können, es würde etwas ändern?
Doch er zwang sich weiter zu gehen. Er war schon so weit gekommen, war zwei Meilen durch die Stadt gerannt, und er würde den Teufel tun und jetzt wieder umkehren. Schon alleine deswegen nicht, weil er keine Puste mehr hatte. Wieso hatte er sich eigentlich kein Taxi genommen?
Wie aus dem Nichts tauchte die Hausnummer, die er suchte, plötzlich vor ihm auf. Vor dem Haus war ein alter Mini geparkt, der mittlerweile schon halb zugeschneit war. Auf seinem heißen Gesicht schmolzen die Schneeflocken sofort und sein Atem hinterließ weiße Kringel in der Luft. Er schnaufte ein paar Mal, wischte sich mit dem Ärmel über die durch die Kälte laufende Nase, dann überquerte er die Straße. Mit gemischten Gefühlen betrat er den kleinen Weg, der zum Haus führte. Dann war er am Ziel.