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Kapitel 26

 

~ Like a Stayer

 

Ben saß Anna und Will gegenüber und betrachtete die Beiden genauer. Seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten, waren sie erwachsener geworden. Will trug seine Haare etwas länger, was ihm hervorragend stand, und Anna war unverkennbar zu einer Frau geworden. Hatte sie vorher schon eine weibliche Figur gehabt, sah sie nun wirklich sexy aus. Sie verstand es ihre Augen so zu betonten, dass man unweigerlich hineinsehen musste.

 

Er selbst kam sich dagegen vor, wie ein Neandertaler, der sich nicht weiterentwickelt, sondern eher noch einen Rückschritt gemacht hatte. Die Filme, die er in den letzten Monaten gedreht hatte, hatten ihm Spaß gemacht. Und besonders die Arbeit mit Collin Firth war aufregend gewesen. Wenn er konnte, hatte er den Älteren beobachtet, um von ihm zu lernen. Und doch fühlte er sich immer noch wie ein kleiner Junge.

 

„Was habt ihr denn so in der letzten Zeit getrieben?“, versuchte er von sich abzulenken. Doch leider hatte er die Rechnung ohne die beiden gemacht. Während er ein Angebot nach dem anderen erhalten hatte, waren bei Anna und Will die Briefkästen so gut wie leer geblieben. Will hatte seit Narnia nichts mehr getan und Anna hatte nur ein Projekt in Aussicht, was sich lohnen würde. Deswegen drucksten beide mehr oder weniger um den heißen Brei herum und versuchten das Gespräch wieder in unverfänglichere Bahnen zu lenken.

 

Das Stichwort dazu lieferte Ben eher unfreiwillig, als er die nächste Verfilmung eines C.S. Lewis ansprach. „Ich habe zwar das Angebot schon, aber bisher ist weder ein Drehbuch eingetroffen, noch hat Andrew mich angerufen“, sagte Ben und wirkte dabei leicht verärgert. Er wusste selbst nicht, was er sich erhofft hatte. Doch dass es einfach so vor sich hinplätschern würde, das machte ihn beinahe wütend.

 

„Du weißt es noch nicht?“, sagte Will. Dabei ließ er die Gabel beinahe in sein Essen fallen. Sie hatten sich in Soho bei einem Inder zum Curry essen verabredet, um dabei ein wenig über die alten Zeiten zu sprechen. Und, das musste Ben zugeben, auch um etwas über Vittoria zu erfahren.

 

„Was weiß ich noch nicht?“ Ben sah ihn skeptisch an und hielt in der Bewegung, seine Gabel zum Mund zu führen, inne. „Ist irgendwas passiert?“ Will und Anna warfen sich einen bedeutungsvollen Blick zu. Anscheinend hatte er mehr verpasst, als er dachte.

 

Anna räusperte sich, trank noch einen Schluck Tee, dann drehte sie die Tasse etwas verlegen in der Hand. Sie wusste nicht so recht, ob es eher eine gute oder eine schlechte Nachricht für Ben war, denn eigentlich hatten er und Vittoria sich nie leiden können. Auch wenn das auf der Premierenfeier damals ganz anders ausgesehen hatte. Deswegen scheute sie sich ein wenig davor, es auszusprechen. Doch unter dem stechenden Blick seiner braunen Augen kam sie schnell wieder zur Besinnung. Sie wusste genau, dass er unausstehlich wurde, wenn er etwas nicht wusste. „Andrew ist nicht mehr der Regisseur“, sagte sie.

 

Erst dachte er, sich verhört zu haben. Doch als er von beiden derart mitleidig angesehen wurde, wusste er, dass etwas nicht stimmte. „Wieso sollte er denn nicht mehr Regie führen wollen? Das Team, so wie es war, war doch gut.“ Wieder dieser Blick, dachte er verärgert. Wenn sie ihn noch mal so ansahen, würde er aufstehen und gehen.

 

„Tja, weißt du“, begann Will, brachte es offenbar aber nicht über die Lippen. Also sprang Anna ein. Sie legte ihm eine Hand auf den Unterarm und sah Ben dann fest in die Augen. „Vic steht als Autorin nicht mehr zu Verfügung“, sagte sie, und sie sagte es so, als könnte sie sich an den Worten verschlucken, wenn sie zu langsam ihren Mund verließen. „Deswegen wollte Andrew nicht mehr Regie führen. Als Produzent ist er weiterhin dabei. Aber ohne sie…“ Sie ließ den Satz unvollendet im Raum stehen.

 

Als die beiden weiterhin schwiegen, verlor er die Geduld. Er schlug seine Faust auf den Tisch, dass Salz und Pfeffer einen kleinen Hüpfer machten und Anna leicht zusammen zuckte, und sah ihnen nacheinander fest in die Augen, bis beide den Blick abwenden mussten. „Was soll das, zum Teufel?“, zischte er. „Ihr tut, als sei jemand gestorben. Ist doch gut, wenn sie nicht mehr dabei ist. So hab ich weniger Ärger beim Dreh.“

 

„Meinst du das ernst?“ Will sah ihn mit einer skeptisch hochgezogenen Augenbraue an. Doch Ben ignorierte den Unterton in seiner Stimme. „Warum sollte ich das nicht ernst meinen? Was geht eigentlich in euren Köpfen vor, könnt ihr mir das mal verraten?“

 

Dieses Mal war es Anna, die nicht so recht mit der Sprache rausrücken wollte. Sie griff zur Teekanne und schenkte sich nach. Der Duft von frischem Minztee hüllte sie ein und ließ seinen Magen grummeln. Und obwohl er das vermutlich beste Curry aus ganz London vor sich hatte, würde er jetzt bestimmt keinen Bissen mehr herunter kriegen.

 

Anna trank einen Schluck und dachte nach. Sie war nicht die Einzige, die den Kuss auf der Tanzfläche beobachtet hatte und eigentlich war sie sich ziemlich sicher, dass die beiden etwas füreinander empfinden mussten. Schließlich hieß es nicht umsonst: was sich liebt, das neckt sich. Wieso stritt er es so vehement ab? War es ihm unangenehm? Aber wieso?

 

Nun verlor sie die Geduld. Verärgert über sich selbst und diese blöde Situation ließ sie den Becher auf die Tischplatte krachen, dass der Tee überschwappte. „Herrgott noch mal“, fuhr sie auf. „Wir dachten nun mal, dass ihr euch ineinander verliebt hättet! Und was wäre auch bitte so schlimm daran? Kannst du es nicht einfach zugeben? Dann könnten wir alle heute Nacht besser schlafen.“

 

Die Augen der Jungs weiteten sich erschreckt und ihre Augenbrauen flüchteten Richtung Haaransatz. „Ich soll zugeben, dass ich in Andrew verliebt bin?“, sagte Ben und erntete von Anna einen warnenden Blick. Will jedoch lachte herzlich über den Scherz und hörte auch nicht auf zu grinsen, als ihn der gleiche Blick seiner Sitznachbarin traf. „Was denn? Das war wirklich lustig“, sagte er und schubste sie. Doch sie ging nicht weiter darauf ein. Stattdessen fuhr sie fort, Ben finster anzustarren, als könnte ihr Blick ihn zu einem Geständnis bringen.

 

Den Gefallen würde er ihr aber nicht tun. Ihm war klar, dass der Vorfall auf der Party nicht unbemerkt geblieben war. Dass es aber so weite Kreise ziehen würde, hätte er nicht gedacht. Nicht mal er wäre auf die Idee gekommen, dass zwischen ihnen was laufen könnte. Wieso wussten immer alle anderen vorher Bescheid? Hatte er sich wirklich so offensichtlich dumm verhalten?

 

Will beobachtete das Mienenspiel in Bens Gesicht und dachte an die Dreharbeiten zurück. Zwischen ihm und Vittoria hatte es seit dem ersten Tag Spannungen gegeben und bis heute wusste niemand wirklich, worum es dabei gegangen war. Sobald es zur Sprache kam, hatte immer einer von beiden das Thema gewechselt und sich geschickt aus der Affäre gezogen. Eigentlich interessierte es ihn auch nicht mehr. Er wollte nur noch wissen, was so furchtbar schief gelaufen war.

 

„Jetzt hör mal“, begann er. „Vielleicht lief nicht immer alles rund, aber du wirst doch zugeben müssen, dass du Gefühle für sie hast. Also, warum gehst du nicht zu ihr…“ Ben unterbrach ihn: „Ich weiß nicht, wo sie wohnt.“

 

„Gut, dann rufst du sie eben an.“

 

„Hab keine Nummer von ihr.“ Lustlos ließ er sich in den weichen Sitz zurück sinken. Hoffentlich würden sie ihn jetzt mit seinem Elend alleine lassen. Er hatte auch überhaupt keine Lust über Vittoria zu sprechen. Er hatte sich mit ihnen getroffen, um zu erfragen, ob sie beim nächsten Narnia-Film auch wieder mit dabei waren, um dann die Zeit während des Drehs ein bisschen planen zu können. Wieso drehte sich jetzt plötzlich alles um sein verkorkstes Liebesleben?

 

Vielleicht gehe ich heute Abend in den nächsten Pub und reiß einfach eine Frau auf, dachte er. Doch die Idee verwarf er gleich wieder. Die Angst, sein Bild in der nächsten Klatschzeitung mit dem Untertitel „Vaterschaftstest“ zu sehen, hielt ihn jedes Mal von so einer Dummheit ab. Auch wenn er gerne Sex hatte, mit seinem Bekanntheitsgrad war er ein gefundenes Fressen für jedes Flittchen, was ins Rampenlicht wollte.

 

Kurze Zeit später hatten sich Will und Anna von ihm verabschiedet. Keiner der Drei hatte aufgegessen. Doch sie hatten trotzdem ein großzügiges Trinkgeld da gelassen, um den Küchenchef nicht zu verärgern. Und während Will und Anna Richtung Oxford Circus gingen, wandte er sich in die entgegen gesetzte Richtung. Eigentlich hatte er vorgehabt, der nahe gelegenen Carnaby Street noch einen Besuch abzustatten, aber ihm war nicht nach ausgesuchten Läden. Lieber wollte er sich im Gewühle des Covent Garden ein wenig verlieren und auf andere Gedanken kommen.

 

Die Markthalle war wie immer völlig überfüllt um diese Jahreszeit. Überall herrschte ein heilloses Durcheinander und ein undurchdringlicher Dschungel an Stimmen aus allen Ländern schlug ihm entgegen. Er schnappte ein paar Wortfetzen auf, die er mehr oder weniger verstand, hielt sich aber nicht damit auf, den lautstarken Gesprächen zu lauschen, sondern gönnte sich eine Papiertüte mit Gebäck, das so fettig war, dass es bereits dunkle Flecken auf der Tüte hinterließ. Seine Finger klebten danach, doch es machte den Händlern nichts aus, wenn er damit ihre Ware anfasste, um sie sich genauer vor Augen zu führen. Sie waren froh über jeden, der was an ihrem Stand kaufte.

 

Als er an dem Stand mit den Aluminiumschildern vorbei kam, auf dem alte Autos abgebildet waren, hielt er kurz inne. Er hatte sich schon ein paar Mal überlegt, so etwas in seine Küche zu hängen, doch jetzt, wo er die bunten Farben sah, kam es ihm ziemlich albern vor. Dafür kaufte er einen Tisch weiter drei Platten von den Stones, den Beatles und eine von den Arctic Monkeys. Auf dem Rückweg zurück zu seiner Wohnung erstand er noch eine Flasche Wein und freute sich auch mittlerweile schon darauf, es sich auf seinem Sofa gemütlich zu machen, den Wein zu trinken und sich die Platten anzuhören.

 

Zu Hause erwartete ihn die Stille seiner eigenen vier Wände. Frustriert darüber, dass seine bisher so gute Laune auf einmal wieder wie weggeblasen war, warf er seine Tasche in die Ecke, stampfte zur Küchenzeile, durchwühlte die Schubladen nach dem Korkenzieher, entkorkte den Wein und nahm den ersten Schluck direkt aus der Falsche. Während er immer wieder daraus trank, befreite er die Platte der Beatles aus ihrer Hülle, auf der ihm das vertraute Bild der vier Bandmitglieder, wie sie hintereinander über einen Zebrastreifen gingen, Paul McCartney barfuß, entgegen lächelte. Er wusste so ziemlich alles über dieses Album und das Bild. Beides hatte Weltruhm erreicht und war vielfach kopiert worden.

 

Er dachte zurück an den Tag, als er die Platte das erste Mal bei seinem Vater in der Sammlung entdeckt hatte. In dieser Hinsicht war er nie wie andere Söhne gewesen, der unbedingt die neuste Musik hören und damit seine Eltern verärgern wollte. Er mochte die Musik, die sein Vater hörte, und hatte so manchen Abend mit ihm zusammen auf der Couch verbracht und einfach nur zugehört, was die Künstler ihnen versucht hatten zu sagen. Und er hätte nichts lieber getan, als diese Erinnerung mit jemandem zu teilen. Doch da war niemand. Seine Wohnung war leer.

 

Irgendwann musste er eingeschlafen sein, denn als er die Augen wieder aufmachte, war es bereits dunkel draußen. Für Ende Oktober war der Himmel noch ziemlich wolkenfrei, doch es begannen bereits die ersten Sterne am Firmament zu leuchten. Verwirrt blickte er auf sein Handy. Die Weinflasche war beinahe leer und die Plattennadel kratzte nur noch im Leeren. Wie lange hatte er geschlafen?

 

Das Display zeigte eine Nachricht an. Sie war von Anna. Es waren nur drei Worte, aber auf einmal war sein Frust und seine Niedergeschlagenheit wie weggeblasen: „Ruf sie an“, hatte sie geschrieben und dahinter stand eine Nummer. Ohne sich lange darüber Gedanken zu machen, was er sagen sollte, weil ihn sonst ohnehin der Mut verlassen hätte, drückte er auf Wählen. Das Freizeichen ertönte etwa vier Mal, dann hörte er, wie abgenommen wurde.

 

„Hallo?“ Ihre Stimme klang leicht verwirrt. Natürlich kannte sie die Nummer nicht. Er hatte sie ihr nie gegeben. Doch es war eine Wohltat für seine Ohren, sie zu hören. Es wäre ihm vermutlich sogar egal gewesen, wenn sie ihn jetzt angeschrien hätte, solange er ihr noch ein bisschen zuhören konnte.

 

Er öffnete den Mund, wollte etwas erwidern, ihr ebenfalls Hallo sagen, ihr sagen, dass er sie gerne sehen würde, mir ihr reden wollte, ihr alles sagen wollte, was in den letzten Monaten passiert war. Doch da hatte sie schon wieder aufgelegt.

 

„Verdammt!“, rief er aus und warf das Handy in die Ecke vom Sofa. Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare. „Verdammt, verdammt, verdammt, verdammt!“ Bei jedem Wort stampfte er mit beiden Füßen auf, ärgerte sich über sich selbst. Am liebsten hätte er gleich noch mal angerufen, doch wie er es vorher gesehen hatte, konnte er jetzt nicht mehr die Selbstbeherrschung aufbringen, die Nummer zu wählen. Stattdessen speicherte er sie nur in seinem Telefonbuch ab, mit der Entschlossenheit, sie am nächsten Tag noch mal anzurufen.

 

Doch auch am übernächsten Tag schaffte er es nicht, einfach nur den grünen Hörer zu drücken. Jedes Mal, wenn er ihren Namen auf dem Display sah, musste er daran denken, wie sie mit diesem Kerl durch die Oxford Street gegangen und gescherzt hatte, wie sie ihn angelächelt hatte und wie ihre Augen gestrahlt hatten. Sie hatte in diesem Moment so glücklich ausgesehen. Wie konnte er es da so einfach übers Herz bringen und ihr in einer offenbar sehr glücklichen Beziehung sagen, dass er sich nach ihr sehnte? Vermutlich würde sie am Boden zerstört sein und ihre Beziehung anzweifeln. Sie würde sich unnütze Fragen stellen und am Ende würde sie den Kerl verlassen.

 

Entschlossen schüttelte er den Kopf, um die wirren Gedanken zu vertreiben. Wie konnte er eigentlich denken, dass sie das Gleiche für ihn empfand? Wenn sie wirklich so glücklich war, wie sie an diesem Tag gewirkt hatte, dann wäre sie sicherlich nicht bereit, nur wegen einem Anruf eine ganze Beziehung wegzuwerfen.

 

Und doch blieb der Funken Hoffnung bestehen. Immerhin wäre es möglich, sagte er sich, als er zum gefühlt tausendsten Mal ihren Eintrag in seinem Telefon aufrief und einfach nur ihren Namen anstarrte. Vermutlich hätte er auch einfach die Auskunft anrufen und nach ihrer Adresse fragen können. Dann hätte er zu ihr fahren und sie sehen können, hätte ihr in die Augen sehen können, während er ihr gestand, dass er… Ja, was eigentlich?

 

Während die Tage immer kürzer wurden und es langsam Winter wurde, kehrte eine gewisse Ruhe in die englische Hauptstadt ein. Die Touristen verschwanden wieder und flogen zurück in ihre eigenen Länder; die Einheimischen waren nun meist wieder unter sich. Und es kam ihm so vor, als hätte die Stadt mindestens ein Drittel seiner Einwohner verloren. Wenn er durch den Park ging, waren die Wiesen wie leer gefegt. Die üblichen Touristenzentren blieben leer und die Museen waren endlich wieder betretbar.

 

Auch bei seiner Arbeit kehrte Ruhe ein. Nachdem er die Romanverfilmung von Oscar Wilde abgedreht und den Film mit Jessica Biel der Öffentlichkeit vorgestellt hatte, waren alle Projekte zunächst abgeschlossen. Die nächste Premiere würde erst nächstes Jahr im Spätsommer anstehen und bis dahin hatte er eine Menge Zeit für sich.

 

Das kam ihm allerdings überhaupt nicht gelegen. Denn wenn keiner seiner Freunde Zeit für ihn hatte und sein kleiner Bruder mal wieder Besseres zu tun hatte, saß er alleine in seiner Wohnung vor dem Computer und starrte auf den Bildschirm. In seinem Postfach warteten ein Haufen ungelesener Emails und er musste noch mindestens fünfzehn Leute zurückrufen, doch irgendwie fehlte ihm der Antrieb, das alles zu tun. So sehr er sich auch wünschte, endlich wieder etwas tun zu können, so wenig Kraft besaß er, sich aufzuraffen und die Sache selbst in die Hand zu nehmen.

 

Als es Dezember wurde, hatte seine Agentin jedoch die Nase voll. Nachdem sie ihn mehrmals täglich angerufen hatte, machte ihn das plötzliche Stillstehen seines Handys ein wenig nervös. Grade wollte er anrufe und fragen, ob alles in Ordnung war, als es an der Tür klingelte. Er stöhnte, schlug die Hände vor sein Gesicht und zog sich die Decke wieder über den Kopf. Collien würde es heute auf die Spitze treiben, er ahnte schon, was kommen würde. Am liebsten wäre er der Auseinandersetzung aus dem Weg gegangen, aber wenn er das getan hätte, wenn er sie nun warten ließe, würde sie ihn garantiert sitzen lassen. Und das konnte er sich nicht leisten.

 

Also stand er auf, wickelte sich seine Decke um die nackten Hüften und schlürfte zur Tür. Eigentlich durfte er niemanden reinlassen, so wie es hier aussah, aber Collien fragte gar nicht erst. Sie wartete nicht einmal ab, bis er etwas gesagt hatte, sondern stieß ihm beinahe die Tür vor die Stirn und stürmte an ihm vorbei. „Komm doch rein“, sagte er ironisch und warf die Haustür wieder zu.

 

„Kannst du mir verraten, was diese Scheiße soll?“ Ihre Stimme blieb erstaunlich ruhig und das ließ ihn aufhorchen. Er zog die Decke noch ein wenig enger um sich und beobachtete sie, während sie ihren Blick durch den großläufigen Raum schweifen ließ. Die Vorhänge waren zugezogen, überall lagen Klamotten verstreut auf dem Boden, in der Küche türmte sich das schmutzige Geschirr und beinahe alle Pflanzen waren schon verdorrt. „Gott, Ben, wie kannst du so leben?“

 

Er zuckte nur mit den Schultern. „Du siehst doch, dass es geht. Was willst du?“

 

Den Schmutz um sie herum ignorierend, wie der Profi, der sie nun einmal war, zog sie ein Drehbuch aus ihrer übergroßen, aber modernen Handtasche und klatschte es ihm vor die Füße. „Ich will, verdammt noch mal, dass du das hier liest und dann den Produzenten anrufst. Du hast seit zwei Wochen auf keine Mail mehr geantwortet und das letzte Mal, als wir miteinander telefoniert haben, ist genauso lange her. Hast du eigentlich eine Ahnung, was ich mir alles anhören musste deinetwegen?“ Sie stemmte die Hände in die Hüften und sah ihn herausfordernd an.

 

„Es tut mir leid“, sagte er. Dabei senkte er den Kopf und sah sie von unten aus an. Bisher hatte dieser Blick immer funktioniert, doch die ganze Zeit alleine hatte ihn offenbar weniger wirksam gemacht, denn sie fuchtelte wild mit den Armen, als sie sagte: „Scheiße, Ben, das will ich hoffen! Du hast verdammt großen Bockmist gebaut und jetzt wirst du die Suppe auch schön wieder auslöffeln. Ich will, dass du das Drehbuch liest. Und wenn du damit fertig bist, wirst du deine Emails abrufen und jede einzelne ebenfalls lesen und beantworten. Und danach räumst du diesen Saustall hier auf, gehst unter die Dusche und machst wieder einen Menschen aus dir. Hast du mich verstanden?“ Mit jedem Wort war sie ein Stück näher an ihn heran getreten, bis sich ihr manikürter Zeigefinger in seine nackte Brust bohrte.

 

Er schluckte, biss die Zähne kurz zusammen, um den Schmerz unter Kontrolle zu kriegen, und nickte dann artig. „Gut“, sagte sie kalt, zog ihren Nagel aus seiner Haut raus und drehte sich auf dem Absatz um. „Ruf mich an, wenn du fertig bist, Darling!“, rief sie noch, dann fiel die Haustür wieder ins Schloss.

 

Die Decke rutschte von seinen Hüften und gab seinen Körper frei, wie Gott ihn schuf. Kurz überlegte er, einfach wieder ins Bett zu gehen und so zu tun, als wäre das alles nicht passiert. Es war leicht, sich vorzustellen, Collien wäre nie hier gewesen. Doch das Drehbuch zu seinen Füßen sagte etwas anderes.

 

Kurz entschlossen zog er sich eine alte Jogginghose an und machte sich daran, seine Wohnung zu säubern. Als er am nächsten Morgen nach mehreren Stunden, unzähligen Waschmaschinen und endlosen Putzmetern endlich fertig war, sank er völlig erschöpft auf dem Sofa zusammen. Bevor er jedoch wieder in seine übliche Lethargie versinken konnte, kramte er einen Pullover hervor, band sich seine Haare zu einem Zopf, zog Turnschuhe an und ging in den Park zum Joggen. Und während ihm der eiskalte Winterwind in die Haut stach, fasste er neuen Mut.

 

Zu Hause sprang er schnell unter die Dusche, rasierte sich sorgfältig und zog saubere Sachen an. Dann griff er zu seinem Handy und wählte. Nach dem zweiten Klingeln hob sie ab und bevor sie etwas sagen konnte und er wieder nur schwieg wie ein Idiot, redete er einfach drauf los: „Vicky? Hier ist Ben. Ich muss unbedingt mit dir reden. Es gibt da etwas Wichtiges, was ich dir erzählen will und das kann ich nur unter vier Augen. Bitte, trifft dich mit mir! Ich weiß, wir hatten eine schwere Zeit und unser letztes Treffen war auch nicht grade das Gelbe vom Ei, aber ich möchte noch mal von vorne anfangen. Ich möchte dich richtig kennen lernen. Verstehst du mich? Ich möchte…“ Als es am anderen Ende der Leitung immer noch still blieb, sah er kurz auf das Display, weil er dachte, dass das Gespräch vielleicht automatisch unterbrochen worden war. Doch es zeigte vollen Empfang und die Sekunden liefen runter.

 

Erneut legte er sich das Handy ans Ohr. „Vicky? Kannst du mich hören? Ich kann kein Wort verstehen. Vittoria?“

 

Es knisterte leise in der Leitung, als wenn jemand das Telefon über ein Bettlaken ziehen würde, dann war es wieder still. „Es tut mir leid“, sagte eine männliche Stimme und Ben sank das Herz buchstäblich in die Hose. Seine Hände wurden schweißnass, sein Puls begann zu rasen und seine Kehle schnürte sich zu. „Vic schläft. Kann ich ihr etwas ausrichten? Wie heißen Sie?“

 

Doch Ben war unfähig, etwas zu sagen. Ohne ein weiteres Wort legte er auf. Er hatte zwar damit gerechnet, dass sie immer noch mit diesem Kerl zusammen war, doch jetzt, da er ihn am Telefon gehört hatte, wurde das alles viel realer für ihn. Es gab nun keinen großen Unbekannten mehr. Seine Befürchtung hatte Gestalt angenommen, hatte eine Stimme bekommen. Vittoria Marconi war für ihn nun für immer verloren.

© by LilórienSilme 2015

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